Vladimir Zarev
Der 1. Mai 1946 kam tändelnd und festlich
daher. Die Fahnen zitterten erwartungsvoll, die Natur blühte
mit dem Schmuck der Straßenzüge um die Wette. Seltsame
Zeichen kündeten von seltsamen Zeiten. Nebenan in der Stadt
Kula war ein Kind geboren worden mit sechs Zehen an einem Fuß
und Schwimmhäutchen dazwischen. Ein Neger war vor einer Woche
in Widin aufgetaucht, keiner wusste, woher. Seine Zähne lachten
so blendend weiß aus der Schwärze seines Gesichtes,
dass einen das Mitleid packte vor so viel Einsamkeit. Die Kirschblüte
kam spät und dann rosa statt weiß, gefolgt vom trüben
Frühjahrshochwasser der Donau. In den schäumenden Fluten
grollte noch bedrohlich der Geschützdonner des eben vergangenen
Krieges.
Die Sümpfe säumten sich mit Fliederstaub und spiegelten
in ihren schlierigen Wässern das auferstehende Leben. Der
Markt füllte sich wieder mit Bauern. Aus den Kaffeehäusern
drang das Knallen der Würfel auf Tisch oder Spielbrett. Im
Keller der Bezirksverwaltung walkte ein Mann, auf dessen Brust
eine Loreley tätowiert war und den alle nur den Bärentöter
nannten, hingebungsvoll seine Vorgesetzten von gestern und andere
"faschistische Ausgeburten" durch wie zum Beispiel Polizisten,
Fabrikanten oder Großkaufleute, die mit den Deutschen Geschäfte
gemacht hatten und nicht weitsichtig oder mutig genug gewesen
waren, das letzte Schiff zu nehmen, das noch ungehindert vor dem
Einmarsch der Russen in Bulgarien am 5. September 1944 im Frühnebel
nach Wien abgedampft war. Im tierisch riechenden Schweiße
nicht nur seines Angesichtes und mit dem Eifer eines Inquisitors
zog er ihnen die Haut ab, zertrümmerte ihnen die Knochen
und entlockte ihnen so jedes Geständnis, das er brauchte.
Die Mücken wärmten sich in der Sonne und weckten Erinnerungen
an das giftgelbe Gespenst der Malaria. Den Widiner Fischern ging
eine deutsche Mine ins Netz. Stumpf und gehörnt, glich sie
dem Teufel. Sie hatte etwas Blindwütiges an sich, ging aber
dennoch nicht in die Luft, wohl weil der Frieden ihren feinen
Mechanismus lahmgelegt hatte. Die alten Frauen kamen wieder vor
die Tür und schauten als Erstes, wie viele von ihnen den
Winter überlebt hatten. Der Dankbare Kotscho deutete seinen
letzten Traum und sagte, wenn auch mit Verspätung, die Entwicklung
der Atombombe voraus, deren gleißendes Licht den Weg der
Menschheit in die Zukunft apokalyptisch ausleuchten sollte. Lehrer
Projkov warf ein für allemal seine Pepitafliege fort und
trat der Opposition bei. Er begann, Abonnenten für die Zeitung
"Freies Volk" zu werben, verherrlichte den vorausschauenden
Geist Churchills und der amerikanischen Demokratie, schwang Reden
und ertränkte im Pathos starker Worte seine romantische Leidenschaft
für die Monarchie. Agitatoren gingen über die Dörfer.
Zerlumpte Männer waren das, gewappnet mit nichts als Geduld,
billigen Broschüren und verheißungsvollen Worten über
das neue Leben. Aus Knechten wurden Bürgermeister. Die alten
Gemeindeoberhäupter versteckten ihre Weizenvorräte und
machten die Euter ihrer Kühe wund, um eine Hungersnot auszulösen.
Das Volk war entzweit und ohnmächtig. Es ging das Gerücht,
dass die Frauen nun Gemeingut werden sollten oder - noch schlimmer
- den Männern gleichberechtigt, so dass ihre fatale Überlegenheit
nun noch klarer hervortreten würde.
Die Zigeuner von Widin begrüßten den freudigen Knospenschlag
des Frühjahrs am Tag der Arbeit auf ihre Weise und schmolzen
all ihr verfügbares Zinn ein und gingen damit auf die Dorffeste
in der Gegend, um Kupferwaren wie Armbänder, Kessel und Henkeltröge
gegen Grünspan neu zu verzinnen.
Die ganze Stadt ging auf die Straße, um der Freiheit ein
Vivat und Willkomm zuzurufen. Von der geschmückten Tribüne
schwenkte die Parteiführung ihre Uniformmützen, in den
Holstern der Partisanen schaukelten schwere Pistolen. Alles ertrank
in Blumen und Lärm. Vom Balkon des Gebäudes der ehemaligen
Bezirksverwaltung dröhnte ein mit neuem Matratzenstoff bezogener
Lautsprecher. Jemand ließ einen Papierdrachen steigen. Um
ihnen einen Weg durch die Menge zu bahnen, schritten Milizionäre
den drei dekorierten Lastwagen voran, die den Festzug bildeten.
Der erste Opel war gespickt mit zwei Dutzend Flaggen der Revolution.
Auf dem zweiten prangten, vom örtlichen Marinemaler angefertigt,
die Porträts von Lenin, Stalin und Georgi Dimitrov. Doch
des dritten Opels staunenswerte Last grenzte ans Märchenhafte:
Da saß doch tatsächlich, angetan mit einem breitkrempigen
Hut, Zwetana, das Dienstmädchen der Tante Allwissend, auf
der hölzernen Seitbank und hatte die Aufgabe, der rumänischen
Stalinistin Ana Pauker zu ähneln. Barbier Trentscho, der
neben ihr saß, gekleidet in gestreifte Hosen und mit einer
gewaltigen Kette über der Weste, stellte den Präsidenten
Theodore Roosevelt dar. Der Dankbare Kotscho, im normalen Leben
Meister der Düfte und Tinkturen, hatte sich frisiert wie
Winston Churchill. (Den Kugelbauch besaß er schon.) Herrn
Hadschipetkovs Drahtbrille gemahnte an den russischen Außenminister
Wjatscheslav Molotow. Und schließlich stand der Schlaffe
Kosta auf dem langsam dahinschaukelnden Gefährt und hielt
sich mit stolzem Stoizismus an seinen blinkenden Manschettenknöpfen
aufrecht. Gekleidet in die Parade-Uniform des abgesetzten Bezirksvorstehers,
verkörperte er die Größe General Charles de Gaulles.
Das tat er mit einer solchen Schauspielkunst, dass man meinte,
seine Nase sei irgendwie deutlich länger geworden und hänge
markant herab. Niemand jedoch wollte das hochpatriotische Risiko
übernehmen und die Rolle des Generalissimus Josef Stalin
spielen, denn jedes noch so kleine Versagen würde so gut
wie sicher bedeuten, in den Pranken des Bärentöters
zu landen.
Die so personifzierten "Völker" jubelten, aber
lächelten nicht. Sie schauten durch die Menschenmassen am
Straßenrand in eine Ferne, die jenseits des Kommenden und
des Gewesenen lag - kurz: Sie fuhren vorbei mit Blicken, die in
eine utopische Zeit gerichtet waren und in denen nichts Menschliches
zu lesen war. Sie waren so leidenschaftlich "verbrüdert",
dass es keine Kraft gab, die sie vom Sockel ihrer Einigkeit hätte
herabstürzen können. Die Leute riefen "Hurra",
schwenkten Plakate, die noch nass waren, wischten sich bittersalzige,
beinah wollüstig hervorgepresste Tränen ab und warfen
Blumensträuße, in denen ihr Herz steckte; denn der
Freiheitsrausch eines Volkes zeigt sich in seiner wiedererwachten
Unbekümmertheit.
Vielleicht war die Bürde dieser Zurufe zu groß für
unseren Opel-Lastwagen mit den Brudervölkern, denn er gab
ein rasselndes Schnarchgeräusch von sich und - blieb stehen.
Es folgte ein Moment der Verwirrung. Dann kam Bewegung in die
"Völker". Sie sprangen von der Karosserie herab
und machten sich daran, den Opel des Fortschritts anzuschieben.
Oben sitzen blieb nur Ana Pauker. Völlig perplex von diesem
wilden Hin und Her und überwältigt von der plötzlich
über sie gekommenen Berühmtheit, verschwitzt unter ihrem
breitkrempigen Hut und dem übergeworfenen Fuchspelz, begann
sie, die Finger in das strassverzierte Handtäschchen ihrer
Herrin gekrallt, plötzlich zu schluchzen, und da, genau da
gelang es den Brudervölkern am Wagenheck, den Motor wieder
ans Laufen zu kriegen ...
Der Schlaffe Kosta floss dermaßen über vor glücklicher
Ergriffenheit, wie großartig er seine Rolle als General
de Gaulle gespielt hatte, dass er sich im Anschluss an diese erste
1.-Mai-Manifestation in der Schänke "Zum Hasenblut"
hemmungslos betrank. Er tat es der Freiheit zu Ehren und in grenzenloser
Ehrerbietung vor dem legendären Franzosen. Mit Hilfe des
übereifrigen Schneidermeisters Temelko hatten sie die Litzen
der Bezirksvorsteher-Uniform auf Hochglanz gebracht, die aufgenähten
"faschistischen" Auszeichnungen aber abgetrennt und
an deren Stelle ein paar der funkelnden Stanniolpapierchen aufgenäht,
mit denen die Pralinen der Marke "Paradis" eingewickelt
waren. Der Schlaffe Kosta hatte noch keinen Begriff davon, dass
die Freiheit eine Prüfung war, eine Verpflichtung und eine
Arbeit des Menschen an sich selbst; er war an diesem Abend überzeugt,
dass die Freiheit ein siegreicher General war! Er trank ausgiebig
und voller Genuss. Auf seinen Wangen erblühten Veilchen.
Schließlich durchdrang ihn das Gefühl, er müsse
die Leute anführen, irgendwo hin.
"Ich will Vergeltung, will Gerechtigkeit!", tönte
er in promillegestütztem Klassenbewusstsein und führte
seine Saufkumpane schwankend, aber entschlossen durch die sternenstille
Silbernacht. Sie durchquerten den Park mit seinen duftenden Zypressen,
deren Schatten im gelblichen Licht des Vollmonds kriegerisch wie
Bajonette aussahen, und marschierten ein ins Restaurant "Royal",
wo Herr Wodetschka gerade sein Sodbrennen mit einer Portion Kaisernatron
kurierte. Im Separee, dessen Tapeten auch schon frischer ausgesehen
hatten, tranken Ilija Weltschev, Tante Allwissend, Gesellschaftsschneiderin
Dora und der Eisenwarenhändler Zozolanov Bier. Die hängende
Kugellampe über ihnen wirkte schwer wie eine volle Blase.
Gina Jotzova hatte noch immer nicht ihren Spleen abgelegt, deretwegen
alle sie insgeheim "Tante Allwissend" nannten, und dozierte
mit penetrant von ihrer französischen Bildung eingefärbtem
Akzent, was die letzten Ergänzungslieferungen der Encyclopédie
Larousse ihr an neuem Wissen ins Haus gebracht hatten. Es war
ein Wissen von jener Art, wie es die Menschheit in Enzyklopädien
schon deshalb aufnimmt, um es nicht ein zweites Mal zu erwerben.
Sie sprach gerade über den Zusammenbruch des geozentrischen
Systems, das durch Ptolemäus in der Antike verbreitet gewesen
war. Ilija Weltschev sagte nichts dazu; aber er sagte auch sonst
zu nichts etwas, seit eineinhalb Jahren schon.
"Da haben wir die Schuldigen", erhob der Schlaffe Kosta
die Stimme. "Ich will Vergeltung!"
Unbeholfen knöpfte er seinen Hosenstall auf, stellte sich
vor den noch am besten erhaltenen Spiegel dieses einstmals royalen
Restaurants und ließ unter perlender Klavierbegleitung seinem
zerrütteten Organismus, der sich in der Begeisterung dieses
Tages noch einmal gestrafft hatte, das gelbliche Strählchen
eines ohnmächtigen alten Mannes schießen. Die Luft
im Restaurant "Royal" schien sich aufzuladen, wie getränkt
vom Geruch eines herannahenden Sturms. Schließlich gelang
es dem Pianisten, seinen Kloß im Hals herunterzuschlucken.
Und die letzten Klänge der in Moll transponierten Melodie
von "O, du lieber Augustin - alles ist hin" huschten
durch den Raum und suchten sich rasch ein Versteck in den Poren
der verstaubten Seidentapeten.
Aus dem Bulgarischen von Thomas
Frahm
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