Texte
Am Erker 51, Münster, Mai 2006
 
Gewinnertext des 4. 'Am Erker'-Kurzgeschichtenpreises 2005
 

Stefan Tetzlaff
Das Morgen. In Erinnerungen

1.
Ich lebe von bereits Gedachtem, und sehr lange schon geschieht nichts mehr. Ich bin ein genau wiederholter Vorgang, eine exakte Kopie desselben Moments und nehme immer dieselbe Zeit ein. Unten auf der Straße gehen alte Kinder in gelbbraunem, schrägen Licht spazieren, ohne sich an den Händen zu halten. Ich habe Fernweh. Und ich bin beschädigt, denke ich. Aber wenn ich die Vorhänge über dem Fenster schließe, bin ich wie mit etwas sehr Dämmendem ausgegossen und vergesse, während ich anfange etwas zu tun, mein Ziel. Und wenn ich mich wie nach einer Ohnmacht bei geöffnetem Fenster wiederfinde, ist nichts von dem ewigen Herbst vergangen und er fließt weiter von dem Moment an, wo ich versucht habe, ihn auszuschließen. Auch fortlaufen kann ich nicht, denn jedes Zimmer, in das ich komme, ist meinem so ähnlich, dass ich eigentlich keinen Schritt getan habe. Und sobald ich auf die Straße gehe, bin ich nie in einem Zimmer gewesen, sondern immer ein spazierendes altes Kind.
Dies kann nur eine Momentaufnahme sein, denn plötzlich verändert sich etwas und ich soll nicht davon schreiben. Also tue ich es und sehe mich mit dem ersten Buchstaben schon etwas verblassen. Mir bleibt so viel wie das kurze Stehenbleiben der Gedanken zwischen zwei Atemzügen und ich werde mit aller Gewalt erkennen für diese kurze Sekunde: Leben.

2.
Vereinzelt tragen schon Menschen eine unsichere, besorgte Schutzhärte im Gesicht, manche werden zur Person. Es greift jetzt um sich und niemand leugnet es mehr. Man weiß, die Ruhe vor sich selbst kann nicht mehr in den Winter gerettet werden. Und als auf dem Gehweg in einer Stadt im Norden einer der Straße zugewandt stehen bleibt und weint, ist die Welt in Alarm.
Man hat viel verlernt; das Ich ist auch etwas sehr Ungeübtes geworden. Und die Zeiten ändern sich jetzt schnell, es kommt neuerdings vor, dass jemand, vielleicht ein sehniger Mann mit kleinen runden Augen, unter einem Stehtisch im Café, während es draußen regnet und halb fünf ist, ein Stück Papier sieht und aufhebt, auf dem steht:
"Ich hasse meinen Vater."
"Wie gut, dass nicht ich das bin", sagte der Vater.
Ein Wühlen verbreitet sich und die Erdoberfläche wird zu einem von winzigen Düsen zerstäubten, kalt kochenden Sprudeln. Nirgendworin ist sich mehr zu spiegeln und an keinem Ort ist das Sein mehr ein schweres, bequemes, bergendes Element. Überall stürzen Kinder beim Versuch zu waten ohne Halt nach vorne, weil die Luft so dünn ist.

3.
Wir finden vor uns: Stadt. Stabile, gleichförmige Bewegung, ein Fluss von unzählbaren ähnlichen Massen. Strategien der Unsichtbarkeit. Stoffe und Häute wie optisches Rauschen, an nichts kann der Blick hängenbleiben; alles ist gerade so wenig tatsächlich, dass man umhergespült wird, ganz namenlos. Motorrauschen, Schuhtrittrauschen, Augenrauschen, Münderrauschen
Da hört es bei einem auf. Stille im Rauschen. Ein weißer Fleck. Es hat ihm wer etwas gesagt. "Ein Freund", hat er laut gesagt, aufgeregt. Hat sich neben einen gestellt und einfach gesagt: "Ein Freund." Der Hörer musste hören, wurde zum Hörer und verlor das Rauschen. "Ein Freund von mir", sagte der Verursacher wieder, "hat etwas wissen wollen." Den Hörer fasst das Entsetzen an und drängt ihn in eine andere Richtung. "Er wollte wissen, wer er sei." Schnell, über Stufen, in eine andere U-Bahn-Station. Durch eine Tür, die sich schließt." Innen steht neben ihm der Erzähler. Niemand ist zu sehen außer ihm und seinem Hörer. Alle anderen stehen und verlieren sich im Rauschen. "Er hat geforscht, wer seine Eltern seien und wieder deren Eltern. Tage hat er im Archiv verbracht und ist dabei auf immer neue Archive gestoßen. Bis er zuletzt ins Nichts griff. Sein Turm aus Zurückverfolgungen schwebte im Leeren. Die letzte auffindbare Generation hatte keine Herkunft, sie war ohne Ursache. Sie war unmöglich. Als er hinsah, das Schweben sah, den Turm sah, mein Freund, stürzte er ein." Der Hörer presste allerletzte Kraft zu Druck und schleuderte sich verzweifelt hinaus in die Haltestelle, an der der Wagen für den Moment stand. Sein gefrorener Körper fiel wie Eis auf die Steinplatten, als die Schienenkästen wieder Fahrt aufnahmen und der Erzähler aus einem Fenster gebeugt im Verschwinden rief: "Mein Freund tat, was er tun musste. Nachdem es ihn nicht gab, blieb ihm nichts übrig, als aufzuhören zu existieren."
Was geschieht mit dem Hörer? - Er wird zum Erzähler.

4.
Ich trage jetzt, wohin ich gehe, ein kleines Notizbuch mit. Denn es kommen immer wieder Tage, an denen aus einem fremden Gesicht in Sekundenbruchteilen eine Geschichte aufsteigt und mir im Kopf schwebt, auch wenn das Gesicht längst wieder verschwunden ist. Gestern schrieb ich: Ich hatte nur erfahren, dass der Besitzer bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Nachts, zu Fuß ist er unterwegs gewesen und schlecht sichtbar von einem ausbrechenden Raser erfasst worden. Später las ich in einem Eintrag des Tagebuchs: Eigentlich laufe ich nur, um die Angst des Ungewissen zu erleben, wenn die Autos auf mich zu- und an mir vorbeidonnern. Ich laufe auf Randstreifen und Radwegen neben Landstraßen. Und in Kurven gibt es diesen Punkt, an dem einer, wenn er nicht weiter die Kurve, sondern von da an geradeaus fahren würde, direkt auf mich zukäme. Wenn der Weg nah an der Straße ist, sind das manchmal nur ein paar Meter. Für diese halbe Sekunde laufe ich eigentlich.

5.
Kohärenz ist Kruste. Logik ist Knochenschraube. Sobald man sich dessen bewusst wird, ändern sich die Gesetze der Welt, in der man lebt. Alles vertauscht sich, aber nicht so, dass man es merkt. Hören wird Fühlen, und das Unbekannte wird Sehen; so ist alles noch da, nichts fehlt, man kennt die Dinge. Aber in derselben Minute spürt man, dass von allem Bekannten nichts mehr vertraut ist und dass man am einzigen Ort, den man kennt, nicht mehr zu Hause ist. Dann geht man fehl auf Straßen, in denen man gewohnt hat. Jahrelang hatte man ein taubes Gefühl im Körper. Und als die Sorge herweht mit einer Radiostimme aus einem leeren offenen Fenster, schaut euch an, ob ihr euch nicht geschnitten habt, da sieht man an sich herab und die Schienbeine bluten und es kommt starker Schmerz.
Es ist wohl ähnlich mit der Verzweiflung. Man spricht ihre Abwesenheit aus und man beißt sich noch auf die Zunge, aber es wird doch schon einigen kalt. Dann steht ein Mädchen auf und spricht wie ein gesammeltes Leben: Ihr wisst ja, dass ihr knirscht aus euren inneren Rissen. Als ich noch eine alte Frau war, entstand es ganz einfach, wenn zwei füreinander waren. Bis das Wort zerfiel, hieß es: Liebe. Dann begann man es anzustarren und man musste sich umklammern. Es war schlimm anzusehen, wie es zuletzt mit euch war. Ihr wart heftig und keiner weinte mehr; ihr hattet diese grauenvollen Gesichter, die nach dem Weinen kommen. Und unter eurer Schicht habt ihr euch dabei zerstoßen. Wie ein großes Stück Glas von innen verschieben sich in euch beim Bewegen die Teile und mahlen aufeinander mit Geräuschen. Und jetzt hört ihr sie wieder. Das wollte ich euch nur sagen. Dann geht das Mädchen, zögernd und halb seitlich, manchmal kurz rückwärts, wie jemand, der seinen Patienten nicht wagt allein zu lassen. Schließlich ist es weg und der Platz ist gefüllt mit tiefschneidendem gläsernen Reiben, das von den Fassaden zurück in den Platz kreischt.

6.
Mein Traum kehrte wieder und ich war arglos. So etwas geschieht vielen und wie sie dachte ich darüber nach, was er bedeuten könnte. So merkte ich nicht, dass ich ihn schließlich jede Nacht hatte; erst als er mehrmals und ausschließlich meinen ganzen Schlaf füllte, sodass ich beim Erwachen manchmal leicht vibrierte, bekam ich Angst, weil ich sah, dass er schon zu nah war und mich wohl in der Hand hatte. Dann sprang er in den Tag und brach ein letztes Mal in mir aus, für immer. Jetzt ist er meine Wirklichkeit und was immer geschieht, entpuppt sich schon nach kurzer Zeit als dieser mein einer Moment. Jedesmal sehe ich an mir hinab, weil ich Geräusche und eine Stimme aus dem Gitter im Boden gehört habe. Meine verriegelte Zelle wölbt und schmiegt sich dann wie eine Wanne um den Abfluss, aus dem ein verschmutztes Gesicht heraufsteigen will. Ich beuge mich zu dem Kopf da unter dem Boden und lausche durch die Stäbe, was er sagt. Im Dunkel des Schachtes ahnt man einen gezwängten Körper und von tief kommt ein Sprechen zu seinem kaum bewegten Mund: Lass mich raus und befreie mich. Ich stelle mich auf das Gitter und atme tief ein gegen das Gefühl, ein Messer schwebe ganz kurz vor meiner Nasenwurzel. Diese Konzentration dauert lange und wenn ich müde bin, zucke ich irgendwann und stehe sehr wach neben dem Gitter und werde von einer Stimme aus immer anderen Gedanken gerissen.

7.
Man hatte sich zufrieden gegeben, war heimlich erstaunt über das Fehlen jeder Verzweiflung, so kurz vor dem Ende. Vielleicht nannte es irgend jemand versehentlich beim Namen, oder es war bereits da und der Schwächste hatte sich den Mund nicht mehr zuhalten können. Jetzt kreist eine Frage über den Zimmern und Wohnungen und macht sie wund, sodass immer schneller die Geborgenheit verschwindet und es sich bald überall so anfühlt wie Schienen, Straßen und Wege.

8.
Es mag sein, der Kommandant hatte ein weiches Herz.
Einmal schlug er mich auf ein Ohr; aus einer kurzen, stummen Bewegung heraus, die aus nichts kam und ohne Vergehen plötzlich fort war, sodass man schon nach Sekunden, wenn die Gegenwart Vergangenheit wird, zu zweifeln begann, ob es sie überhaupt und wirklich gegeben hat. Vielleicht hatte ich auch eine Krankheit bekommen und schämte mich, es zu sagen, und muss darum solche Unglaubhaftigkeiten erzählen.
Das Schlafen kontrollierte der Kommandant. Er machte uns synchron und schrie auf uns, dass wir uns nach links drehen, seitwärts hochkant auf der Schulter liegen und schlafen sollten. Eine Bewegung durfte nicht geschehen und der Kommandant, unser Kommandant saß vom Abend durch die Nacht in den Morgen auf einem schwarzen Stuhl, den man aus einer Ecke nehmen und sich hinfalten konnte, aus Plastik war der und glänzend und in der Ecke lehnend ganz schmal, wenn man ihn nicht brauchte. Von ihm aus blickte der Kommandant uns fest an, bis wir schliefen und auch dann noch.
In der ersten Zeit wuchs von diesen Nächten ein stechender Schmerz in meiner Schulter, der verschwand, als mir bewusst wurde, dass er ohne Wirkung bleiben würde. Es würde keine Erlaubnis geben, anders zu liegen oder sich zu bewegen während der Nacht. Die einzige gestattete Stellung war eine aus eigenem Willen allein gar nicht durchzuhaltende. Nur seine Blicke hielten uns nach Stunden noch so. Der Kommandant schraubte uns nachts in einen Schraubstock.
Eigentlich half er uns doch.

9.
Das Konzept der Eltern als letztes kulturelles Konstrukt der kollektiven Täuschung ist beseitigt. Nach und nach hat man entlarvt: Gott, Liebe, Eltern.

10.
Wir hatten oft in den Tunnel hineingerufen, er war das letzte Überbleibsel irgendeiner Art von Bunker. Meist verbrachten wir ganze Nachmittage bis zum Einbruch der Dunkelheit damit, vor seiner stummen Öffnung zu spielen, herumzulungern oder Äste und Steine hineinzuwerfen.
In dem Sommer, als wir anfingen in den Tunnel zu rufen, bekam ich meine ersten Albträume. Ich stand mit dem Rücken zum Tunnel und spürte etwas hervorkommen. Und wenn ich mich umdrehte, wachte ich auf.
Je älter wir wurden und mit je mehr wir uns bemüht hatten, den Tunnel zu wecken, desto gewagter wurden unsere Versuche. Schließlich ging einer von uns ein paar Schritte hinein, dort, wo ihn das Licht noch erreichte. Wir sahen seinen Rücken, er krampfte sich wie an einem der Jahrmarktautomaten, die an den Händen testen, wie viel Strom man verträgt. Als er es nicht mehr aushielt, stürzte er zu uns zurück und atmete schnell. Bald gingen wir zu mehreren, dann alle, immer ein Stück weiter, mit gezählten Schritten. Wir gingen langsam, um uns an das Dunkel zu gewöhnen und so von weiter innen noch den Ausgang sehen zu können.
Dann ließen wir los.
Wir gingen so weit hinein, dass wir den schwachen milchigen Ausgang hinter uns verloren. Er war unsichtbar und es war ein grandios grausames, schockierendes Gefühl, wie ein bewegungsloser Teil eines Felsens oder ein Stück Eis zu sein. Berauscht versuchten wir das Licht wieder zu finden. Wir gingen in die Richtung, aus der wir gekommen waren, viel länger als auf dem Weg hinein. Aber der Ausgang kam nicht. Vor uns lag dasselbe wie hinter uns; in dem Moment, da wir sie aus den Augen verloren hatten, war die Öffnung verschwunden. Wir fanden später einige von den Steinen und Stöcken, die wir hineingeworfen hatten. Und manchmal glaubte einer von uns zwischen unseren Stimmen noch ein Echo von unserem eigenen früheren Rufen zu hören. - Der Tunnel aber behielt uns.

11.
Jetzt soll die Wiedererschaffung von Eltern versucht worden sein. Mit Anstrengung und kindlicher Rücksichtslosigkeit.
Es war wie der Tod Gottes eine gehirnmuskulöse Spielerei gewesen. Aber zuletzt war es nicht mehr ein Konstrukt, dem man beim Einstürzen zusah, sondern man selbst. Da brach die Angst aus. An nichts mehr zu glauben hatte man nur gewagt im Glauben an Eltern.
Ich bin müde und niemand bringt mich zu Bett.
In mir sind viele Stimmen und jede meine eigene.
Und wie aus einem Mund: Es hat uns nie gegeben, mein Junge.