Am-Erker-Preis
für Kurzgeschichten
2005 - "Eltern"
 

4. Münsteraner Erker-Kurzgeschichtenpreis 2005

Preisträger: Stefan Tetzlaff

Der Preis war seitens von 'Am Erker' und der Uni Münster mit je € 500,- dotiert.

 

Jury 2005:

  • Joachim Feldmann (Lehrer und Mitherausgeber "Am Erker")
  • Stefan Herkenrath (Journalist)
  • Dr. Klaus Haberkamm (Germanist, Uni Münster)
  • Gerhard Heinrich Kock (Feuilletonredakteur der Westfälischen Nachrichten)
  • Ellen Piechura (Buchhändlerin)
  • Simon Urban (Preisträger von 2003)

Der mit insgesamt 1000 Euro dotierte Kurzgeschichtenpreis von "Am Erker" und des Senatsausschusses für Kunst & Kultur der Uni Münster wurde 2005 zum Thema "Eltern" ausgeschrieben. Angehörige der Universität Münster waren aufgefordert, unveröffentlichte Prosatexte einzureichen, die einen Umfang von sechs anderthalbzeiligen Seiten nicht überschreiten sollten. Die Kopien durften keinen Hinweis auf den Autor/die Autorin tragen.

Den Preis erhielt der 23-jährige Germanistikstudent Stefan Tetzlaff aus Münster für seinen Prosatext "Das Morgen. In Erinnerungen". Tetzlaffs Einsendung überzeugte die fünfköpfige Fachjury durch eine präzise Sprache, eindrucksvolle Bilder und eine ungewöhnliche Herangehensweise an das Thema.
Außerdem wurden die Geschichten "Erwachsenwerden" von Hendrik Steinkuhl (23) und "HeimSpiel" von Ina Brauckhoff (22) mit einem Anerkennungspreis ausgezeichnet.
Alle drei Texte werden in der Frühjahrsausgabe 2006 (Nr. 51) von "Am Erker" veröffentlicht.

Seite der Uni Münster zur Preisverleihung

Der Siegertext wurde im Rahmen der Elternbesuchstage "Elternalarm" (»» SPIEGEL ONLINE) am 5. November 2005 im Münsteraner Landesmuseum öffentlich vorgestellt.

 
 
Preisverleihung am 5.11.2005 im Landesmuseum. Von links nach rechts: Ortwin Lämke, Ellen Piechura, Joachim Feldmann, Ina Brauckhoff, Gerhard Heinrich Kock, Stefan Tetzlaff, Simon Urban, Ursula Franke.
 

Die Laudatio auf Stefan Tetzlaff hielt Gerhard Heinrich Kock.
Den Text können Sie auch als pdf-Datei downloaden.

Münster, Landesmuseum, 5. Nov. 2005

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

"Ich lebe von bereits Gedachtem, und sehr lange schon geschieht nichts mehr. Ich bin ein genau wiederholter Vorgang, eine exakte Kopie desselben Moments und nehme immer dieselbe Zeit ein."
Was hat das mit "Eltern" zu tun?
Genau das hat sich auch die Jury gefragt und den Text von Stefan Tetzlaff rasch beiseite gelegt.
Ein Fehler, wie sich zeigen sollte.
Doch auch Jury-Mitglieder sind eben nur Menschen, lieben es angenehm, und kuscheln sich gern in altbekannte Kissen. Davon gab es unter den 50 eingereichten Texten viele. Eltern sind bekanntermaßen ein Schicksal. Und dementsprechend haderte ein Großteil der Autoren mit eben diesem - meist anschaulich, oft scharfsinnig, selten amüsant. Höchst erstaunlich, denn schließlich sind Eltern eine interessante Laune der Natur.
Das beginnt schon am Anfang: Im Gegensatz zu dem Huhn und dem Ei ist nämlich klar, wer von Eltern und Kind zuerst da war: Adam und Eva.
Der eine oder andere erinnert sich vielleicht noch: Als der liebe Gott in seiner natürlichen Schaffensperiode war, schuf er unter anderem Adam. Als der sich langweilte, bestellte der Mann sich eine Gefährtin. Es gab ja noch keine Bundesliga. Damit hatte der Schöpfer sein Werk eigentlich vollendet. Denn Gott schuf ein Liebespaar. Soweit so verlockend. Aber schuf er auch Eltern? Wollte Gott Kinder?
Stellen Sie sich vor, Sie wären Schöpfer. Würden Sie Eltern schöpfen?
Nun ist Stefan Tetzlaff nicht Gott. Aber er hat sich mit seinem Text auf Distanz begeben. Seine Distanz zum Komplex "Eltern" ist derart groß, dass verständlich ist, warum viele Jury-Mitglieder seine "Eltern" nicht erkennen konnten. Dabei klingen bereits im Titel seines Textes Ansatz, Struktur und Stil dieser "Assoziations-Phantasie" an: Das Morgen. In Erinnerungen. Damit wird ein Standpunkt eingenommen, der entweder diesseits oder jenseits der Zeit liegt, und eine Spannung zwischen Gegenwart und Ewigkeit erzeugt. Eltern werden hier quasi überzeitlich und zugleich gegenwärtig in den Blick genommen.
Und skeptisch durchleuchtet. Tetzlaff schreibt:
"Das Konzept der Eltern als letztes kulturelles Konstrukt der kollektiven Täuschung ist beseitigt. Nach und nach hat man entlarvt: Gott, Liebe, Eltern."
Das ist frech und provokant. Das ist gut. Weil es weiterführt.
Es gibt heute immer wenigere, die mit Schillers Glocke Ideale träumen: Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben und drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder. Die Realität: Doppelbelastung, Patchwork-Familien, allein Erziehende. Leben wir in einem Zeitalter der Auflösung sozialer Elternschaft? Schlimmer noch: Wie steht es um elterliche Schöpfung im biologischen Sinne - man denke an das Klonen. Im Hier und Jetzt kann und will das noch keiner denken.
Aber Tetzlaff scheint zu fragen: Kommt nach der gottlosen Gesellschaft von gestern, der lieblosen von heute, die elternlose von morgen?
Tetzlaffs Text gibt keine Antworten. Das ist einer seiner größten Vorzüge. Denn je öfter er gelesen wird, desto mehr Saiten und Räume bringt er zum Klingen. Diese schillernde "Glocke", aus desillusionierender Erde gehoben, hat auch die Jury vernommen. Tetzlaffs Ton zog einen nach dem anderen in seinen Bann. Das Morgen. In Erinnerungen ist eine Art Testen und Tasten in einem stummen Raum. Auch für den Leser. Sich aus diesem Text Bedeutung zu erschließen, ist eine Herausforderung.
Mehr noch. Der Text ist eine Zu-Mutung. Ein unbefriedigendes Mirakel.
Aber sind Eltern nicht eben genau das? Ein ewiges Rätsel? Wer Eltern wird, ahnt etwas von diesem Geheimnis. Doch ihre eigene Kindschaft werden auch Vater und Mutter nie auflösen. Aber das Geheimnis des Lebens wird noch größer, bewusster, faszinierender.
Und diese Faszination scheint Stefan Tetzlaff verdichtet zu haben.
So wie er den Leser im Verlauf seines Wörter-Werkes ständig an Identitätsgrenzen führt, so schließt er auch:
"Jetzt soll die Wiedererschaffung von Eltern versucht worden sein. Mit Anstrengung und kindlicher Rücksichtslosigkeit. Es war wie der Tod Gottes eine gehirnmuskulöse Spielerei gewesen. Aber zuletzt war es nicht mehr ein Konstrukt, dem man beim Einstürzen zusah, sondern man selbst. Da brach die Angst aus. An nichts mehr zu glauben hatte man nur gewagt im Glauben an Eltern. Ich bin müde und niemand bringt mich zu Bett. In mir sind viele Stimmen und jede meine eigene. Und wie aus einem Mund: Es hat uns nie gegeben, mein Junge."
Wie sich dieser paradox tröstende Satz denken oder fühlen lässt, daran werden sich alle Kinder bis zum Ende aller Eltern abrackern müssen.

 
 
Nach der Präsentationslesung von 'Am Erker' 51, Münster, Studiobühne, 4.5.2006. Hendrik Steinkuhl, Stefan Tetzlaff, Ina Brauckhoff. Foto: Klaus Baumeister.