Andreas Heckmann
Die Rübe nimmt die Rübe an der Hand
und zieht mit ihr ins Zucker-Zauberland. Bis es dazu aber kommt,
bohren sich die Rüben tief und tiefer ins Erdreich der Börde,
während sich ihr Nacken unterm Joch des Himmels ermüdend
rundet. Rübenhals und Rübenkopf sind blättrig und
grün, und der Wind, der regenschauernd über die Börde
weht, die Hildesheimer und die Magdeburger und all die anderen
Börden, in deren Böden die Rüben im Saft stehen,
der graunasse Wind wirft den Blätterschopf der Rüben nach
links und nach rechts, nach vorne und nach hinten, und so reifen
sie, die Rüben, sie reifen und reifen, und der Wind, der
große Choreograph der Felder, der Tanzmeister der Blätter
und Halme, der Zweige und des rankenden Efeus, der Wind malt flüchtige
geometrische Figuren in die aufgereiht und dicht gedrängt der
Ernte entgegenschwellenden Rüben.
Sarstedt, ein Städtchen zwischen Hannover und Hildesheim,
ist umgeben von Rübenäckern. Wenn es herbstet, sieht man
auf den Feldern rübengefüllte Anhänger stehen,
die auf den Traktor warten, auf daß sie angeschirrt und
in die Zuckerfabrik gefahren werden. Auch liegen Rübenhaufen
herum, Rübenwälle, Rübendeiche, Rübendämme. Tritt
man nah heran, liegen sie erdig-vernarbt da, die kostbaren Rüben,
in denen der Zucker gefangen ist wie der Geist in der Flasche.
Vernarbt sind sie, weil die Rübenerntemaschine sie herausgeschleudert
hat aus ihrer Erdverwurzelung. Gerade eben noch haben die Rüben
- das näherkommende Brummen der Erntemaschine in den immer
besorgteren Ohren - ihren Nachbarinnen ewige Freundschaft geschworen,
da wird ihnen der Schopf schon geschoren: hoch durch die Luft
fahren die unsanft freigesetzten Rüben; bumm fallen sie auf
den Rüttler; kreuz und quer geschüttelt knallen sie
zwischen Blechwänden herum, auf daß alles Erdige von
ihnen abfalle. Und hopp fliegen sie aus dem Rüttler, und
da liegen sie, die Rüben, kopflos unter Kopflosen.
So ist die moderne Landwirtschaft, skrupellos richtet sie unter
den Rüben ein Blutzuckerbad an. Aber nicht davon will ich
berichten, sondern vom Schicksal eines Sonnenstrahls, den ich,
wären wir im Märchen, womöglich als vorwitzig bezeichnen
würde. Wie jeder, der dem Affen Vorwitz Zucker gibt, mußte
auch dieser Sonnenstrahl bitter leiden.
Eben hatte sich ein langer Regen ausgetröpfelt, und ein naßblanker,
reingewaschner Himmel rückte von Westen über die Börde
vor. Von den Apfelbäumen, die die Alleen rund um Sarstedt
säumen, tropfte noch das Wasser, und wenn der Wind in ihre
Kronen fuhr, sprühte es sogar von ihnen herab. Die Sonne
stand schon tief. Klar konturiert und in leichtem Abendorange
lag die Natur da. Jetzt geschah es: der kleine Sonnenstrahl, nennen
wir ihn Rufus - denn wir wollen ihn personalisieren, wir wollen
ihm ein Schicksal geben, ja aufladen wollen wir es ihm, hängen
wollen wir es wie einen Mühlstein an den schlanken Hals seines
Strahlens -, Rufus also fuhr (ganz Geist, ganz wie ein Wehen von
weither) in eine Rübe, nennen wir sie Mechthild, und er hielt
Hochzeit mit der Rübe Mechthild, die auch der Erde, dem Wasser
und der Luft tief verbunden war. Rufus trug das stark abgeschwächte
Feuer der Sonne in den Leib der Rübe Mechthild, befruchtete
ihn und sah sich dann in ihr gefangen. Er war erwärmend in
sie eingedrungen, nun saß er drin und fühlte sich recht
wohl dabei, auch wenn es dunkel und ein wenig holzig war rundum.
Die Monate vergingen, die Rüben wurden geerntet, und Mechthild
und Rufus mußten sich trennen: kleingehäckselt wurde
Mechthild und mit vielen Schicksalsgenossen ins heiße Wasser
geworfen. Da quollen die Rüben verhackstückt durcheinander,
verloren ihre Individualität zugunsten eines Allgemeinen,
der Rübenmaische, in der sie ihren Zuckersaft hergeben mußten,
während die letzten Reste der Erinnerung an ihre Rübenexistenz
in ihnen verlosch. Alle in den Rüben gefangenen Sonnenstrahlen
- unter ihnen, so keck wie verzweifelt, auch Rufus - irrten nun
durcheinander und flüsterten sich, während der Zuckersaft
unter immer größerer Hitzezufuhr zu Sirup wurde, Worte
des Trostes und der Ermunterung zu. "Solange es wärmer
wird", so Rufus, "kann uns als Sonnenstrahlen nur wohl
sein. Am Ende kommt die Sonne selbst, um uns aus dieser klebrigen
Lage zu befreien." Kaum hatte er diesen Satz beendet, begann
die Zentrifuge zu rotieren, langsam erst, dann immer schneller,
und die Sonnenstrahlen wurden zusammen mit den dumpfbraunen Sirupresten
an die Tankwand gepreßt, während in der Mitte des Tanks
sich eine strahlende Säule glasklarer Zuckerkristalle sammelte,
durch die ein fiebriges Leuchten ging. Zur Weiterverarbeitung
wurden die Sirupreste in einer offenen Leitung in eine andere
Halle der Fabrik gepumpt. Auf dem Weg dorthin sprangen die kleinen
Sonnenstrahlen, unter ihnen auch der erleichterte Rufus, von der
Leitung ab und in den Himmel hinauf und strebten zur Sonne zurück,
woher sie vor Monaten so frohgemut gekommen waren. Das nächtliche
Leuchten über den offenen Leitungen der Zuckerfabriken -
ein irisierendes Flimmern und Zucken, das von einem leisen, sehr
hohen Gesang begleitet wird - rührt von diesem Heimgang her,
von der Auffahrt der Sonnenstrahlen in das Geistreich ihrer Mutter.
Dort angekommen, geraten sie wiederum in einen mächtigen
Sog und Wirbel, und eines Tages verlassen sie, eruptiv ausgespieen,
ein weiteres Mal ihre Heimat und diffundieren ins All. Kaum wahrscheinlich,
daß die Reise wieder nach Sarstedt geht. Vielleicht auf
den Mars, zur Venus, zu Neptun gar, zu Pluto oder Uranus. Oder
einfach in den Weltraum hinaus, in die unendlichen Weiten.
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