Am Erker 86

Marion Gay: Grasbaumgewächse

 
Rezensionen

Marion Gay: Grasbaumgewächse
 

Wenn Grasbäume flüstern
Rolf Birkholz

Es ist "Eisige Nacht und der Hund / tau­melt über den mondhellen Platz, / trägt leise seinen Schatten ins Haus." Ähnlich wie der Hund in diesem Dreizeiler "Foto­grafie" führen auch manche Gedichte von Marion Gay unter bestimmten Vorausset­zungen sichtbare und doch nicht greifba­re Erscheinungen vor Augen. Oder von ihr Beschriebenes mag erst unauffällig gewesen sein ("Er muss durch die Hinter­tür geschlichen sein") wie der Farn in "Epiphyt (Geweihfarn)", bis er sich "ganz selbstverständlich den sonnigsten Platz im Glaspalast / erobert" hat. Wie den un­scheinbaren Hundeschatten bringt auch die üppige Entwicklung der Pflanze erst die Sichtweise der Dichterin nahe.
Zwei Zyklen bilden die Schwerpunkte des, nach Veröffentlichungen in anderen Textgattungen, ersten, mit eigenen Illus­trationen angereicherten, nach den Him­melsrichtungen in vier Kapitel geglieder­ten Lyrikbandes der in Hamm lebenden Autorin: Grasbaumgewächse. In der ei­nen Gedichtfolge geht es durch Neapel, wo religiöse und weltliche Wünsche und Bemühungen sich mischen: "in allen Ni­schen sind / Heilige gebannt" ist hier zu sehen, nebenan "wringen Frauen Lotto­zahlen / aus den Träumen." Überall "Spiegelungen Täuschungen", Pulcinella legt "das Buch der Zahlen / als Köder aus". Das berühmte neapolitanische Blut­wunder des Januarius bleibt unterdessen aus, "dieses / gottverdammte Blut / will und will nicht / flüssig werden." Anderes "will und will nicht / ruhig werden dieses / störrische Blut!" Wie auch, wo sogar "die Blumen lodern / unter Schneewittchen­glas". Und wenn "zwei Schwestern / die Laken Neapels / pressen und wringen daraus / tröpfchenweise / Glück", so gelingt es Marion Gay in ihrem Schreiben, freilich auf sanftere Weise, Begleiterscheinungen der Phänomene zu erkennen und eben poetisch auszudrücken.
Das gilt auch für "American Cycle (Mai­ne)". "Sommer wie Treibholz und Libellen / unter der Haut der Veranda sah ich // wie Ruderboote Kajaks und meine / Vor­stellungen kopfüber zu Wasser // getra­gen wurden. Die Trauerbienen / waren ein Jahr zu früh gekommen", hebt diese als Langgedicht zu lesende Versreihe an. Es geht den Fluss hinunter und übers Land, da "feierten wir die Felsenfeste / wie sie fielen". Und "am Fluss waren wir wurzelnde / Eschen me & you and a dog / named Daisy", klingt der bekannte Song von Lobo durch. "In jenen Som­mern hinkte ich der Zeit nach", an der In­terstate "lockte Motel Number 6", dann wieder "wasted land soweit die Geier / munkelten". Später begegnen "ganze Pick-ups / voll Sprachmüll, jedes Wort sein eigener Angreifer". Solches Material transportiert Marion Gays Buch nicht. Ihre Worte greifen nicht, sie ziehen an. "An See verließ sich der Fischer auf Wind / statt dem Flüstern der Grasbäume zu trauen." Wir aber lauschen ihnen gern.

 

Marion Gay: Grasbaumgewächse. Ge­dichte, mit Illustrationen der Autorin. 76 Seiten. edition offenes feld. Dortmund 2024. € 19.