Am Erker 84

Sabine Schiffner: Wundern

 
Rezensionen

Sabine Schiffner: Wundern
 

Bewegen reicht schon
Rolf Birkholz

So oft habe sie sich bücken müssen, sagt die alte Frau, "nun vergiss ja nicht sie zu erwähnen / in deinem gedicht die roten / und rosa und paar weißen / alpen­veilchen". Nein, Sabine Schiffner vergisst es nicht. Sie erwähnt den Blumenstrauß und auch die vorausgegangene Mühe des Pflückens. Und sie nennt das Ge­dicht sogar "gedicht", was andeuten mag, dass in dieser Gattung auch die nicht so weltbewegenden Dinge Platz finden. Be­wegen reicht schon.
In ihrem neuen Gedichtband Wundern wundert sich das lyrische Ich über die ganz unterschiedliche Gleisführung am und im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ("gleise"). Überwucherte, ze­mentierte, überteerte, dann weiterführen­de und "kurz vor dem hauptlager" plötz­lich endende Gleise: "dahinter beginnt / die erschreckende / die gleislose / land­schaft". Aus unscheinbaren Beobachtungen gerinnt so Bewegendes.
Ähnliches geschieht in "endstation", wo die 1965 geborene Dichterin mit anderen in einem ausrangierten Pendelbus der Stadtbetriebe Düsseldorf von Auschwitz 1 nach Birkenau transportiert wird, um dort an der Rampe auf einen noch älte­ren, ebenfalls in Deutschland hergestell­ten Zug zu treffen. Auch in der Bukowina ("den pruth suchen") ist sie in belasteter Landschaft unterwegs.
Auf eine Änderung der Blickrichtung am Fenster im heimischen Köln reagiere der Kopf mit Unverständnis, heißt es im Ein­gangsgedicht ("schreibschreib"), "wäh­rend die hand stets fleißig / weiter­schreibt". Das sagt vielleicht auch etwas über die Schreibweise der Poetin, die in ihrer Art von satzzeichenlosem lyrischen Erzählen in freien Versen gezielt unauf­fällig Reime setzt und einen allzu gefälli­gen Rhythmus zu vermeiden sucht.
Um die Kindheit geht es in diesem Band, als der Dom mal bedrohlich, mal als Hal­tepunkt wirkte, und um die Frage nach den Kindern ("schrei/cry", "was für immer verschwand", "das lied von bob marley"). In dieser Reihe ist "weihnacht" eines der erschütterndsten Gedichte dieses Genres.
Sahen wir eingangs, was alles im Versformat Platz findet, so zeigt "longericher frühling", dass so leicht auch nichts daraus verschwinden kann: "die katze tut als kenne sie mich nicht / und läuft schnell raus / aus dem gedicht". Das war zu spät, aber da darf das Tier sich nicht wundern: Sabine Schiffner ist eine sehr aufmerksame Dichterin.

 

Sabine Schiffner: Wundern. Gedichte. 112 Seiten. Quintus. Berlin 2022. € 15,00.