Am Erker 81

David Wagner: Verlaufen in Berlin

 
Rezensionen

David Wagner: Verlaufen in Berlin
 

Schwebend stromernde Nachrufe
Andreas Heckmann

Der Lyriker Andreas Altmann hat Streifzüge durch Berlin vermieden und jede Gelegenheit genutzt, aus Pankow aufs Land zu fliehen, an die Ostsee, ans Haff, um auf einsamen Gängen zu allen Jahreszeiten seine Versernte einzubringen. Nun wohnt er sogar in der Prignitz, zumindest zeitweise. Ein solches Leben und Schreiben wäre für David Wagner wohl ein Albtraum, der ihn allenfalls in Fiebernächten streifen mag. Denn als Stadtspaziergänger stets bereit, sich von der Metropole, zumal dem Prenzlauer Berg, überraschen und verführen zu lassen, tritt er uns in Verlaufen in Berlin, einer Sammlung des Verbrecher Verlags, einmal mehr entgegen, stromernden Texten aus dem letzten Jahrzehnt, von denen viele zuvor in diversen Zeitungen erschienen sind.
Wagners Flanieren in der Millionenstadt hat oft einen produktiv irritierenden Zug ins Dörflich-Kleinstädtische, denn der seit dreißig Jahren in Berlin lebende Andernacher begegnet immer wieder teils zufällig Freunden und Bekannten, die er duzt und beim Vornamen nennt und mit denen er Gespräche fortsetzt, die schon seit Jahren in wechselnder Intensität und schwankender Häufigkeit geführt werden. Der Prenzlauer Berg, genauer dessen westlichster Teil mit Schwedter Straße und Mauerpark, ist sein Revier, dort registriert er genau und doch wie nebenher auch subkutanen Wandel. Wenn er etwa in "Ende eines Supermarkts" die letzten Tage des alten Kaiser's an der Fürstenberger Straße beschreibt, der zu Beginn der Pandemie - bereits zum EDEKA umfirmiert - endgültig geschlossen und inzwischen im Zuge einer Großbebauung abgerissen wurde (und es war ein herrlicher Kaiser's, in dem sich bis Mitternacht selig einkaufen ließ!), dann erzählt er den Untergang eines kleinen Stücks Ostberlin gleich mit, denn dieser Laden gehörte zu den in den 70er Jahren in der Gegend errichteten Kaufhallen - wie das 2019 abgerissene Geschäft in der Pappelallee, dem der kurze Dokumentarfilm Aschermittwoch von Lew Hohmann (1989), bisweilen im Kino Krokodil in der Greifenhagener Straße zu sehen, ein Denkmal gesetzt hat, auch seiner Arbeitsatmosphäre, die nicht beschönigt wird, während sich doch zeigt: In der DDR konnte eine alleinerziehende Kaufhallen-Kassiererin mit sechs Kindern auskömmlich leben.
Zur Leichtigkeit der Wagner'schen Diktion gehören der schnelle Wechsel der Gangart und die Variationsbreite der Texte untereinander, auch wenn sie ähnliche Themen behandeln. Die souveräne Verführbarkeit des Erzählers, seine narrative Polyamorie verleibt sich dabei die Dinge nicht ein, sondern schmiegt sich ihnen mit Empathie und Aufmerksamkeit an, vergegenwärtigt und bestaunt sie, bis es die Augen - muthwill'gen Sommervögeln gleich - zu neuen Blüten treibt.
Manchmal indes flaniert Wagner motivisch-methodisch, wenn er sich etwa die Brandmauern Berlins vornimmt und fragt, was sie über die Stadt erzählen, über den deutenden Betrachter, seine Position. Dass viele dieser Mauern, ihre Struktur, Beschriftung, Bemalung verschwunden sind (man erinnere sich der ikonischen Juno-Zigarettenwerbung an der (Studio)Brandmauer, auf die Igor Oberbergs Kamera in Käutners Unter den Brücken blickt, ehe Hannelore Schroth in der Lockenszene zu Carl Raddatz sagt: "Sie können mich doch nicht einfach anpusten."), ist ein Jammer; dass die entfesselte Berliner Bautätigkeit immer wieder neue Brandmauern schafft, stiftet immerhin schwachen Trost.
Mitunter - zur späten Eröffnung des Berliner "Retroflughafens" 2020, zum Opening der 69. Mall am Mercedes-Platz nahe der East Side Gallery, zur Besetzung des Großen Sterns durch Aktivisten von Extinction Rebellion - bedient Wagner auch das Format der ironisch gebrochenen, aber kapitalismuskritischen Reportage für Flaggschiffseiten von Flaggschiffzeitungen, ohne dass er sich verbiegen müsste: Sein Ton bleibt kenntlich. Manchmal aber treibt er die Durchlässigkeit und universale Impressionabilität fast zu weit, etwa in "Erlösungsspiel am Rosenthaler Platz", teils extrem kurzen Beobachtungen von 2016-18, wobei, so die Spielregel, schon das abgedimmteste Gegrüßt- oder doch Wiedererkanntwerden den Beobachter erlöst. Diesen Text hatte ich zuerst in Anneke Lubkowitz' Psychogeografie-Anthologie bei Matthes & Seitz gelesen; dort aber ging die Luftigkeit der Form zwischen den mitunter recht robust geratenen Streifzügen anderer Autoren nahezu unter - um nun im Wagner-Biotop ihren Charme doch noch zu entfalten.
Verlaufen in Berlin ist ein Buch voller diskreter und womöglich gerade darum so eindringlicher Nachrufe, zu denen auch die Schilderung des letzten Spaziergangs mit Michael Rutschky zählt, dem Zentrum eines Intellektuellenkreises, zu dem auch etwa Kathrin Passig, Gerhard Henschel und Marc Degens gehörten. Doch Wagner begnügt sich nicht mit einem nostalgisch-melancholischen Blick, er kann auch anders, vermag auch sich selbst kritisch zu sehen, zumal in "Gartenjahre", wo er berichtet, wie die jungen Eltern Wagner mit einem weiteren Elternpaar eine Datsche südlich von Berlin ergattert und dort in den Nuller- und Zehnerjahren viel Spießbürgerliches mitgemacht haben, durchaus reflektiert, ironisch, halb wonnevoll womöglich, doch nun ist ihm vieles fremd, vom regelmäßigen Rausfahren in der Familienkutsche über Bau- und Gartenmarktexzessen bis zu Grillabenden. All das war overdone und der Umwelt gegenüber gedankenlos, sinniert der längst ohne Auto lebende Schriftsteller mit leichtem Grauen vor früherer Speckgürtelgewissenlosigkeit, die er freilich nur am Wochenende bediente. Der Text hat indes nichts Moralisierendes, beschreibt vielmehr, dass ein Lebensabschnitt - das Zusammenleben mit (kleinen) Kindern und die Sorglosigkeit dem Klima gegenüber - beendet ist oder zu Ende geht. Und mit ihm manches mehr.
Ich gestehe, dass mir dieses Buch mitunter nahegegangen ist, weil ich in den letzten Jahren meinerseits die Gegend vom Schwedter Steg über den Mauerpark mit seinem nie genug zu lobenden Birkenwäldchen bis zum Zionskirchplatz so oft durchstreift habe, dass sie mir vertraut geworden ist. Zugleich aber habe ich inmitten all der Originale, der Berliner Chuzpe, der so austauschbar wirkenden Easyjet-Touristen vieles von dem verschwinden sehen, was in Wagners Texten erkannt, benannt und so zumindest im Wort gerettet wird - mit einer absichtslos anmutenden Lässigkeit, um die ich den Autor beneide.
Auf einem Spaziergang 2016 sprach in der Schönfließer Straße ein schmaler, weißhaariger Mann meine Gefährtin und mich an, ob wir ihm helfen könnten, seine Orgel über die Straße und ins Erdgeschoss eines Hinterhauses zu tragen. Es war Ekkehard Maaß, und er kam vom Geburtstag bei Richard Pietraß, wo er einmal mehr Okudschawa- und Biermann-Lieder zu Gehör gebracht hatte. Noch in Konzertlaune und leicht aufgekratzt, lud er uns ein, doch etwas zu bleiben in seiner Wohnung, die zu DDR- und Wendezeiten ein wichtiger kultureller Treffpunkt gewesen war und noch immer voller Kunst und Erinnerungen aus dem Prenzlauer Berg der 80er Jahre hing. Wir staunten nicht schlecht, der Westler aus München und die Ostberlinerin, wo wir gelandet waren. Maaß öffnete eine Flasche Wein, griff zur Gitarre und genoss es sichtlich, seiner beeindruckten Zufallsbekanntschaft ein Stück authentischen Prenzlauer Berg von damals zu präsentieren. In einem der schönsten Texte seines Buchs hat David Wagner auch Ekkehard Maaß - einem engagierten Förderer von Giwi Margwelaschwili und schon zu DDR-Zeiten im intensiven Austausch mit Georgien, seiner Kultur, seinen Schriftsteller:innen - ein in seiner Flüchtigkeit berückendes Porträt gewidmet.

 

David Wagner: Verlaufen in Berlin. 220 Seiten. Verbrecher. Berlin 2021. € 16,00. Zur Ergänzung: Prenzlauer Berginale Kurzfilme 1965-2004. DVD. € 11,95 (über prenzlauerberginale.berlin).