Kunst und Arbeit
Joachim Feldmann
Wer aufmerksam durch das Ruhrgebiet fährt, kann leicht den Eindruck empfinden, sich in einem gigantischen Freilichtmuseum zu bewegen. Die steinernen Zeugnisse der Schwerindustrie, die im vergangenen Jahrhundert die Landschaft prägte, sind noch immer da, teils stehen sie leer, teils werden sie anders genutzt: als Konzerthalle, Atelier, Bühne. Industriekultur spielt nicht nur im regionalen Marketing eine große Rolle. Auch im Münsterland, nicht weit von hier und dem Rezensenten gut vertraut, weiß man mit den ehemaligen Textilfabriken etwas anzufangen.
Warum also wendet sich unser Blick Richtung Süden, nach Pirmasens in Rheinland-Pfalz, wo bis zum Ende der sechziger Jahre die Schuhindustrie blühte? Und wo ebenfalls Kultur in manch stillgelegte Produktionsstätte Einzug hielt? Der Grund heißt Rainer Wieczorek. Der 1956 geborene Schriftsteller hat der Stadt, in der die Arbeitslosigkeit mit elf Prozent auf Gelsenkirchener Niveau liegt und jedes dritte Kind in Armut aufwächst, eine Novelle gewidmet, die sich auf literarisch avancierte Weise des Zusammenhangs von Arbeit, Kunst und sozialer Lage annimmt.
Aber keine Angst: Was hier so akademisch klingt, ist im Ergebnis eine wunderbare Mischung von Fakt und Fiktion und eine ebenso erhellende wie stimulierende Lektüre. Denn es bleibt nicht bei dem einen unerhörten Ereignis, das die Novelle traditionell erzählt. Manch überraschende Wendung in der Geschichte der Kunst nämlich verdankt sich kaum vorhersehbaren Konstellationen. Für Wieczoreks Figuren, die Musikexperten Danski und Wajaroff, sind dies die Entwicklung des Jazz zur ernsthaften Improvisationskunst und die deutsche Folkbewegung seit Anfang der sechziger Jahre. Und wer sich fragt, wie man in einem Atemzug von Minton's Playhouse in Harlem und den Liederfestivals auf Burg Waldeck erzählen kann, darf sich hier überzeugen lassen: Es funktioniert. Dabei spielen die Bilder der Künstlerin Serena Amrein, die ebenso wie der Autor selbst den fiktiven Raum der Novelle betritt, eine zentrale Rolle. Im Dialog werden Parallelen zwischen Bild- und Musikstruktur deutlich. "Das Lebendige, die Spannung entsteht, aber auf andere Art als zuvor", erklärt Amrein ein neues Bild, und Danski stellt den Bezug zur Musik John Coltranes her. Wajaroff, der Folkexperte, meint allerdings, hier passen zu müssen. Die "Jugendbewegung der Wandervögel" sei nicht das "erotischste aller Themen". Und doch gehören die Burg-Waldeck-Festivals in eine Geschichte, die von Kunst und Aufbegehren erzählt. Das ist romantisch im besten Sinne. So wundert es nicht, dass der namenlose Erzähler irgendwann an Danski und Wajaroff verzweifelt und vom Autor mehr Disziplin verlangt: "Er müsse sein intendiertes Thema klarer in den Vordergrund stellen und dafür die notwendigen Änderungen an der Erzählstruktur vornehmen." Aber diesen Gefallen erweist Wieczorek seinen Figuren nicht. Stattdessen wird die Intention direkt formuliert. Es gelte zu zeigen, dass "künstlerische Entwicklungen und Marktmechanismen nicht unabhängig voneinander verlaufen". Und das gelingt in dieser Novelle. Aber eben nicht nur. Zum Glück, denn sonst bliebe sie Sozialgeschichte. Pirmasens ist ein kleines Gesamtkunstwerk, ein bibliophil ausgestattetes Buch, gebunden, mit Lesebändchen und Abbildungen einiger Werke Serena Amreins. Wer noch mehr will, höre während der Lektürepausen Coltranes A Love Supreme. Oder eine der wunderbaren Aufnahmen des deutschen Saxophonisten Heinz Sauer, dem Rainer Wieczorek ein schönes Porträt in Dialogform gewidmet hat, das sich als Seitenstück zur Novelle lesen lässt. Jazzfreund Danski, auf dessen Expertise Wieczorek ungern verzichtet, hat hier einen weiteren Auftritt. Hoffen wir, dass es nicht der letzte ist. |