Am Erker 79

Şafak Sarıçiçek: Jamsids Spiegelkelch

 
Rezensionen

Şafak Sarıçiçek: Jamsids Spiegelkelch
 

Wilde Tour: Mythologiepoesie
Rolf Birkholz

So wie im Gedicht "Traum" mag man sich den Start des lyrischen Ichs zu einer "Reise auf der Suche nach alten Weisheiten durch Kulturen und Religionen des vorderen Orients" vorstellen. "Ein Magus, ein Dingbej und Fünf / Geflügelte Zwerge sind aus meinem Traum ausgebrochen. / In die Welt. Farben und andres verköstigend. / Den Staub der Milchstraße haben sie verloren. / In den tosenden Schlaf der Welt; den Traum / aus Blau und Heroin."
In seinem neuen Band Jamsids Spiegelkelch nimmt Şafak Sarıçiçek seine Leserinnen und Leser auf eine ziemlich wilde Tour durch die Mythologie mit, für die sich leicht überdurchschnittliches vorderorientalisches Hintergrundwissen empfiehlt. Einerseits. Andererseits sollte Dichtung, auch wenn wissenschaftliche Leser wie Christian Metz (Poetisch denken) Lyriklektüre mit Fremdwörterbuch oder angeklicktem Wikipedia heute als Avantgarde-Standard betrachten, die Kraft besitzen, in ihre Verslandschaft zu ziehen, ohne dass man dauernd nachschlagen muss.
Und das schafft der 1992 geborene Autor auch, dem immer wieder Neuschöpfungen gelingen, wenngleich es mitunter sprachlich im Nominalstil wie über Stock und Stein geht. Textfunde zu Geschichte, Geschichten und Gestalten aus mesopotamischer, zoroastrischer, persischer, hethitischer, jüdischer, ägyptischer, kurdischer, griechischer, römischer, christlicher Welt, aus Kulten, Sagen und Religionen werden wie Ausgrabungsstücke ausgebreitet, betrachtet, neu aneinandergefügt, durchaus eben aus heutigem, fragendem Blickwinkel. Vom guten zoroastrischen Schöpfergott Ormuzd und seinem Widersacher Ahriman über Babylons Stadtgott Marduk und die in Babylonien für Krieg und sinnliche Liebe zuständige Ishtar, über Isis, Horus und Osiris aus Ägypten bis zum griechischen Feuergott Hephaistos begegnen sich/uns? an die dreißig Figuren aus diesen Sphären, dazu Gestalten wie ein Dengbej, ein Volksliedersänger, und verschiedenste Landschaften.
Der Titel spielt auf die persische Sagenfigur Jamsid an, Herrscher eines Goldenen Zeitalters, der vergaß, dass er all sein Wissen und seine Macht aus einem von Gott erhaltenen Kristallkelch bezog. Manchmal klingt in dem Zyklus aus dreißig Gedichten ein Widerspruch zwischen Glaube und Religion an: "Du sagst: Ich habe keine Religion, denn ich bin gläubig", heißt es einmal, dann: "Religiös bin ich nicht und ich bin gläubig, / bin trunken." Zum Schluss findet das ruhelose Ich: "Woraus wir wurzeln, tragen in uns: / Wir. // Sind Licht, sind Wahrheit selbst." Damit hängen auf dieser rastlosen Reise vielleicht auch die Worte aus dem Titelgedicht zusammen: "Wo wir so vereinsamt sind, Selbstverzehr."

 

Şafak Sarıçiçek: Jamsids Spiegelkelch. Gedichte. Mit Illustrationen von Deniz Sarıçiçek. 80 Seiten. edition offenes feld. Dortmund 2019. € 16,50.