ich habe den schatten der erde gesehn
Andreas Heckmann
Vielleicht weil ich kein großer Wanderer bin, sondern lieber lange Spaziergänge mache; womöglich weil es mich weder zur Pilzsuche noch aus Abenteuerlust ins Unwegsame zieht und ich mich gern an Parklandschaften erfreue, an der Holsteinischen Schweiz, am Ammersee: Jedenfalls begegnen mir nur selten Kadaver, stoße ich fast nie auf Aas. Es sei denn, ich bin mit Fanny unterwegs. Worauf sind wir nicht schon gestoßen! In Bornholm auf ein Schaf, aus dem sich beim Näherkommen eine Wolke von Fliegen erhob; auf dem Darß auf den haarlosen Rumpf einer kopflosen Robbe; auf eine zwischen Felsen treibende Möwe, erneut auf Bornholm. Unversehens sieht sich, wer in herrlicher Landschaft im Sonnenlicht auf Kadaver stößt, mit seiner Endlichkeit konfrontiert, erschrickt und schweigt.
Eine solche Begegnung beschreibt Arne Rautenberg in seinem Gedichtband permafrost unter dem Titel "am januarstrand": "heut sah ich keine blüte keine frucht / heut ging ich am ausgeblichenen strand // der dauernde tiefstand des lichts / die sonne eisig im untergang // schweigend folgte ich den buhnen / verlor zeit und fluchtpunkt // halb intakt lag eine riesige robbe am spülsaum / das irre grinsen ihres skelettierten schädels // die spitzen zähne besah ich mir genau wächter / eines euphorisch aufgerissenen totenmauls // lauter abdrücke von möwenfüßen drumherum / auch meine spur sah ich und kehrte um". Leblos und lichtarm ist die Welt, kalt und schweigend, völlig ungeordnet. Dann das Grauen, anfangs noch durch Neugier gebannt. Bis der Blick, der Distanz schaffen soll, auf die eigene Spur fällt, das Profil der Schuhe zum Bestandteil der nature morte wird. Da bleibt nur Umkehr. Und wie schön wäre es, könnte man im Rückwärtsgehen die eigenen Spuren tilgen, um weit, weit weg zu kommen vom Memento mori.
Mit drei großen Texten über Vergänglichkeit und Todesnähe setzt permafrost ein, "am januarstrand" ist der dritte in diesem Bunde. Rautenberg, nicht zuletzt mit Gedichten für Kinder erfolgreich und ein großartiger Vorleser seiner Werke, lässt das Buch mit listiger Naivität beginnen: "wie ist es denn so / wenn ich nicht mehr bin / fragte mein sohn mich / ich sagte es ihm / es ist wie es war / bevor du geboren / du warst noch nicht da / du hast nicht gefroren / du hast nichts vermisst / du hast nichts gesehen / als du noch nicht sahst / du hast nicht gelitten / als du noch nicht warst / so wirst du nichts sehen / wenn du nicht mehr bist / so wirst du nicht leiden / wenn das was war ist". Man lese sich dieses Gedicht ein paarmal vor, lasse sich von seinem Rhythmus wiegen, und bald schon findet man sich in einer seltsam tröstlichen Kreisbewegung mehr geborgen als gefangen. Es ist gewissermaßen die kindgerechte Antwort auf die Frage nach dem Tod, die das Wissenwollen des Kindes ernst nimmt, ohne ihm Angst zu machen oder es zu verstören.
Dazwischen das Gedicht "auf höhe der schneeglöckchen", das aus der Gartenidylle in große Einsamkeit aufsteigt und doch - unverwüstliche Wirkung des Hortus conclusus, des Locus amoenus - auf etwas Bergendes verweist, das der Spülsaum nicht bieten kann: "... / der gedanke an den einkauf / von sonnencreme irrt noch vergessen / umher derweil du ins beet / starrst und zählst // die monate tage stunden / bis die uhr zurückgestellt wird / schneeglöckchen sind die igel / der blumen unter den hasen / der jahre: schon da und du bist es auch / starrst auf den boden / horchst in den himmel".
Die 68 Gedichte können die im Eröffnungsdreiklang vorgegebene Höhenlinie nicht immer halten, es wird schließlich nicht alle naslang ein Rilke geboren. Aber neun weitere Gedichte haben mich ebenfalls berührt. Jedes sechste Gedicht ein Treffer: eine mehr als gute Quote, die fast schon an Geistesverwandtschaft gemahnt. Einen Autor aber als geistesverwandt zu begreifen, dürfte - von Genreliteratur aller Art einmal abgesehen - ein zuverlässiges Merkmal für die Qualität von Texten sein. Oder teilen wir nur die (vielleicht temporäre) Neigung zu Bilanzgedanken, wie sie auftauchen mag, wenn die Midlife-Crisis nur mehr als Wetterleuchten aus der Vergangenheit grüßt? Dass Arne Rautenberg vor zwei Jahren fünfzig geworden ist, hat ihn jedenfalls beschäftigt, wie "wunsch wiedergeboren zu werden" zeigt: "heut hat mir der himmel alles gegeben / seit fünfzig jahren bin ich am leben / ich sah die ISS-raumstation fliegen / stechend und rot den mars südlich liegen / ich habe den schatten der erde gesehn / er ging übern mond das war wunderschön / ne sternschnuppe glomm über alledem / ich habe den schatten der erde gesehn". Oder sind wir doch schon im Genre angekommen? Bei Rutger Hauer im Blade Runner? "Ich habe Dinge gesehen, die ihr niemals glauben würdet. Brennende Schiffe, draußen vor der Schulter des Orion. Und ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln nahe dem Tannhäuser Tor. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit wie Tränen im Regen."
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Geistesverwandtschaft! Als Thomas Glatz 2010 das Arbeitsstipendium Literatur des Freistaats Bayern erhielt, nannte er auf die Frage der oktoberfestbedingt zart angeschickerten Moderatorin Nora Gomringer nach seinen literarischen Vorbildern Forellenfischen in Amerika von Richard Brautigan, ein Buch, in dem es in anarchisch-buntem Durcheinander um alles Mögliche geht, nicht jedoch ums Angeln. Wohl aber war Brautigan (1935-84) gut befreundet mit dem leidenschaftlichen Fliegenfischer Thomas McGuane (*1939), auf dessen sehr lesenswerte Essays und Reisereportagen rund ums Angeln, die im April 2019 unter dem Titel Unendliche Stille bei Forelle & Äsche erschienen sind, ich hier pro domo verweise.
Glatz und Rautenberg haben mancherlei gemein, die Arbeit als Autor und bildender Künstler zum Beispiel, die Neigung zur kleinen Form, ob im Gedicht (Rautenberg) oder in den wunderbaren Mini-Romanen von Glatz, die im Black Ink-Verlag erscheinen. Zudem verbindet beide ein großes komisches Talent und - man darf es wohl so sagen - ein unverstellter Zugang zum Kindlichen, gerade zum respektlosen Staunen, das beide in ihre Texte einfließen lassen.
Hier soll es indessen um Richard Brautigan gehen, über den Rautenberg im Dezember 2018 im Lyrik Kabinett München eine Rede hielt, die inzwischen in der Reihe "Zwiesprachen" bei Wunderhorn erschienen ist und in der das Thema "seit fünfzig jahren bin ich am leben" einmal mehr nachhallt. Die Rede setzt ein mit einer literarischen Initiationserfahrung, genauer: mit der Naherwartung des Parusie-Moments. Eben hat der 19-Jährige, angeregt durch einen Fernsehbericht, die ersten Bände der von Günter Ohnemus übersetzten Brautigan-Ausgabe erworben: "Bereits auf der Busrückfahrt in den Kieler Vorort, wo das Reihenhaus meiner Eltern stand, holte ich mit klopfendem Herzen die Bücher aus der Tüte. Es passiert einem nicht oft im Leben, dass noch ungelesene Bücher einen so auratischen Sog entfachen. Ich begann zu schaudern, weil ich ahnte, dass sich mit diesen Büchern etwas verändern könnte. Die Rezeption von Brautigan ist berühmt dafür, dass ihr immer wieder junge Leserschaften anheimfallen, ähnlich wie bei Hesse. Und ich war nun einer davon."
Die Gedichte sind "so kurz, dass man sie beim Blättern sofort zu lesen beginnt". Weit wichtiger aber: "Wenn Belanglosigkeiten poetisch ebenso wahrnehmungswürdig scheinen wie große Ereignisse, dann gibt es keine Belanglosigkeiten mehr. Alles ist von gleicher Intensität und Wichtigkeit - und du selbst bleibst stets das Maß deiner Dinge." Grundstürzende Erkenntnisse, von Brautigan 1986 frei Haus in einen Kieler Vorort geliefert. Die Folge ist ein Auftrag Rautenbergs an sich selbst: "Mach doch einfach mal jetzt und hier deine Augen auf." Seitdem, so scheint es, ist das Leben des jungen Mannes ein anderes geworden. "Offenheit dampft aus den so unscheinbar daherkommenden Gedichten und lockt mit dem Heilsversprechen eines wünschenswerteren, intensiveren Lebens." Vielleicht war zudem Wort-, Klang-, Buchstabenmagie zugegen, als es zur Traditionswahl kam, als Arne Rautenberg sich Richard Brautigan erwählte, einen Autor, mit dem ihn in Vor- und Nachnamen jeweils zwei und drei Silben verbinden, wobei die Zunamen sich enorm nah sind, wie die Unterstreichungen zeigen sollen.
Im Folgenden beschreibt Rautenberg mit großer Zuneigung, was er von den lyrischen Lehrstücken seines Mentors gelernt hat: "Sie haben meiner Wahrnehmung den entscheidenden Dreh gegeben: Guck genau hin. Und halte dich zurück mit vorschnellem Werten." Und dann noch die Schreibmotivation, die Brautigan ihm stiftete: "Die Schwelle, die von vielen Brautigan-Gedichten ausgeht, ist so niedrig, dass sie dreist zur Überwindung animiert. Welch befreiende Leseerfahrung, die aus dem Lesenden einen Schreibenden macht, weil er plötzlich etwas vom Wesen der Lyrik versteht." Nach dieser großen Hommage an einen mal wieder sehr randständigen Autor wendet Arne Rautenberg sich der Biografie Brautigans zu und dem Kalifornien der 50er bis 70er Jahre, den Beatniks, Kollegen wie Allen Ginsberg, Jack Kerouac, Robert Duncan, Gary Snyder. Auch wo seine Rede, die weit mehr ein strahlend schöner Essay ist, primär Leben und Werk Brautigans referiert, bleibt sie trotz diskreter Kritik voll bewundernder Empathie für einen Dichter, der sich spätestens in den 1970ern zu einem eher unangenehmen Zeitgenossen entwickelte: Dass der literarische Erfolg der späten 60er ihm nicht treu blieb, er seine Anziehungskraft auf Frauen verlor, der Zeitgeist sich wandelte und für seine Literatur kaum mehr Interesse bestand, hat Brautigan zum Alkoholiker und 1986 - vereinsamt auf seiner Farm im hippiesken Bolinas - zum Selbstmörder werden lassen.
"Mit dem Ende der 60er Jahre war Brautigan das Baby, das mit dem Bade ausgeschüttet wurde", hat der kluge Angler Thomas McGuane (von dem zur Wendezeit zwei Romane in deutscher Übersetzung erschienen sind, ohne größere Spuren zu hinterlassen) über seinen Freund geschrieben. Doch Arne Rautenberg wäre kein Liebender, würde er seinen Text düster beschließen. Stattdessen preist er zum Ende hin den 1976 in Japan entstandenen "Tagebuch-Gedichtband" Japan bis zum 30. Juni sowie den Kurzprosaband Der Tokio-Montana-Express (1979). "Der Sehnsuchtsraum bleibt geöffnet", so Rautenberg. Und mit Blick auf Murakamis frühe Romane: "Die autobiographischen, warm-verschrobenen Erzählsujets, die gewagten Vergleiche, das Episodenhafte - man bekommt eine Ahnung davon, wie sehr die Bücher Brautigans auf eine junge japanische Schriftstellergeneration einwirken konnten."
Wenn Autoren über andere Autoren schreiben, dann meist auch über sich. Zum Beispiel diese Zeilen: "Naivität muss nichts Schlechtes sein. Die Blauäugigen können zulassen. Und im Zulassenkönnen steckt das Leben-und-leben-lassen-Credo, welches für die Kontemplation etwa in der Natur unabdingbar ist." Und weiter: "Im vermeintlichen Makel 'naiv' steckt also etwas von Brautigans Größe; das hat auch mit der Verweigerungshaltung des Erwartbaren zu tun. Zumal er inhaltlich Höhen und Tiefen ja nicht ausgespart hat. Sein Schreiben im poetischen Habitus der (durchaus auch humorigen) Leichtfüßigkeit durchmisst dabei vielerlei Räume: von der Ich-Konstituierung über Liebeshöhen hin zu den Todestälern und einer alternativen und melancholischen Version des amerikanischen Traums. Das Reflektieren und Bewerten überlässt Brautigan anderen." So Arne Brautenberg über Richard Rautigan. |