Lyrikpostkartenoffensive starten?
Rolf Birkholz
"Das neue Jahr hält die Dichter / in Atem / die sagen / was zu sagen ist", kündigt Rose Ausländer in "Neujahr" an. Und zu Beginn des Postkartenkalenders Fliegende Wörter, der jubiläumsgestärkt in den 26. Jahrgang geht, ist das auch nicht zu viel versprochen. Andrea Grewe, Hiltrud Herbst und Doris Mendlewitsch haben wieder eine Lyriksammlung komponiert, die sich an die Wand hängen und übers Jahr hübsch Woche für Woche versenden lässt - wenn man sie sich am 31. Dezember nicht lieber komplett selbst ins Regal schiebt. Denn auch die neue Ausgabe ist eine veritable Anthologie, quer durch Zeiten und Sprachen, mit guten alten Bekannten und der Einladung, neue Bekanntschaften zu schließen. Zum Beispiel mit Luis Rosales, dessen Gedicht "Autobiographie" nachdenklich stimmt, ausgegraben übrigens aus dem Band Panorama moderner Lyrik, der 1960 im Sigbert Mohn Verlag erschien, der damaligen Belletristiksparte des zu weiterem Wachstum ansetzenden späteren Medienriesen Bertelsmann. Die Herausgeberinnen fügen die ausgesuchten Gedichte thematisch locker in die Folge der Monate und Jahreszeiten ein. Marion Caillard und Barbara Mekus verbinden die Verse mit einem (ent)sprechenden Design. Beispielhaft etwa in Antonia Pozzis "Abend im April". Für die Phantasie der "Mondin" als eine große Primel "auf der blauen Wiese des Himmels" reicht ein bläulich schimmerndes, sanft mondbestrahltes Rechteck im Schwarzen. "Das Dunkel" verhandelt Ernst Meister im vielleicht düstersten Gedicht des Kalenders in fünf Zeilen. Ganz sachte zum Heiligenschein führt hingegen Hans Magnus Enzensberger ("Nimbus"). Robert Frost ist dabei und Robert Burns, Angelus Silesius (eine Weihnachtskarte hätten wir damit schon) ist ebenso vertreten wie Sappho, Paul Celan, Tadeusz Dabrowski, Durs Grünbein, Ulla Hahn, Søren Ulrik Thomsen oder Ben Lerner. Passend zum Bücherherbst bringen die Fliegenden Wörter im Oktober "Nänie im Bücherladen" von Michael Augustin. "Unter Lyrik stehn sie arg beengt / paar Bändchen nur, hineingezwängt: / drei Klassiker und, gleich daneben / zwei Preisgekrönte, die noch leben / / Ach ja, sie stehen, stehen, stehen / doch diese blöden Leser gehen". Es ist nicht schwer zu raten: zu Romanen. Aber Rose Ausländer hatte ja vorgegeben, dass die Dichter sagen, "was zu sagen ist". Vielleicht sollte man einmal eine Lyrikpostkartenoffensive Richtung Nur-Romanleser starten. |