Am Erker 62

Hermann Kant: Lebenslauf, zweiter Absatz

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Hermann Kant: Lebenslauf, zweiter Absatz
 

Glück ist ein Wort für die Ausnahmen
Rita König

Hermann Kant, in Ost und West bekannt als Autor des Romans Die Aula, zieht ebendort ein Resümee der Arbeiter- und Bauernfakultät: Alle Absolventen aus proletarischen Schichten bewältigen erfolgreich die Ausbildung. Rückbesinnung und Resümee bestimmen auch das aktuelle Buch Hermann Kants: Lebenslauf, zweiter Absatz, dessen Titel zu einer der hier versammelten zehn Erzählungen gehört. Wie zu seinem – Kants – Lebenslauf fügen sich die Themen und Figuren zusammen: ein Elektrikergeselle, ein deutscher Soldat vor der Kriegsgefangenschaft, Mangelwirtschaft in der DDR, Nachwendezeit. Die meisten Texte sind bereits zwischen 1962 und 2008 veröffentlicht worden – wozu also eine Neuauflage? Man könnte das Resümee eines literarischen Lebens anlässlich des diesjährigen 85. Geburtstages des Autors vermuten, aber das griffe zu kurz. Natürlich erkennt der DDR-sozialisierte Leser bei der Geschichte "Der dritte Nagel" schnell, wann die Geschichte spielt, natürlich liest der westdeutsch sozialisierte die Mangelwirtschaft heraus, aber dreht es sich tatsächlich nur um schmackhafte Brötchen, ein Buch, eine Eintrittskarte, einen Termin und einen Telefonanschluss? Ist der Stephan Hermlin gewidmete Text "Bronzezeit" (erstmals erschienen im gleichnamigen Erzählband 1986) tatsächlich nur eine Satire auf die sich wandelnden politischen Einstellungen der DDR (-Führung) zur preußischen Geschichte? Es geht um den Nachbarn, den Kollegen (die Kollegin), um kleine Leute mit ihren Sorgen und Wünschen, aber vor allem sind die hier versammelten Erzählungen eines: Sie sind heute gut zu lesen. Bei einem Text möchte man sofort von vorn beginnen, beim anderen gar nicht zum Schluss kommen, beim dritten denkt man an Lyrik: "Kann sein, es ist ein Ort wie die Erde nicht, und Ordnung zählt nicht zu den himmlischen Regeln. Kann sein, der liebe Gott schert sich den Teufel um Meldepflicht und nimmt die Seele, wie sie kommt. Kann wirklich sein, Frau Schmidt, aber ist es so?" ("Eine Übertretung") Bei einer Erzählung weiten sich unwillkürlich die Pupillen, bei anderen lacht man laut los: "Der Tag hat sich gelohnt, sagte mein Vater, heute morgen waren zwanzig Mark fällig, und daraus sind nun, wie, weiß ich auch nicht ganz, vierzig geworden." ("Frau Persokeit hat grüßen lassen") Bei der titelgebenden Erzählung aber kommt der Gedanke auf, auch so könnte Geschichte gelehrt werden: "Ich lag unter einem Bett etwas südlich der Straße [...], in Höhe von Koło etwa. Etwas und etwa: ich hatte keinen Kompass und keine Karte. Es war am zwanzigsten Januar, sage ich seither; [...] schätzungsweise. Es ist schwer, so etwas zu schätzen, [...] Wenn nicht mehr gilt, dass man morgens aufsteht und sich abends schlafen legt, [...] Und wenn es sein kann, dass es Sonntagvormittag war, als man den Küchensoldaten erschoss, anstatt in der Kirche zu sitzen und vom Gott zu singen, der Eisen wachsen ließ, und wenn man nur noch weiß, es war ein heller Wintermorgen, an dem man doch gegen allen Vorsatz vom Schnee gefressen hat, und wenn man glaubt, es könnten auch Monate gewesen sein ohne Ofenwärme, dann ist es nicht mehr wichtig, wann man unter einem polnischen Bauernbett liegt, weil es eben geklopft hat. Wichtig ist nur, dass es geklopft hat." Das ist es, was diesen Lebenslauf ausmacht: Geschichte in Geschichten sichtbar zu machen, mit einem selbstironischen Blick und einem, der ganze Welten der Lächerlichkeit preisgibt, ohne selbst dorthin abzugleiten. Man ist versucht, noch einmal Die Aula hervorzukramen. Oder dem Autor zu glauben, dass "Glück ein Wort für die Ausnahmen" ist.

 

Hermann Kant: Lebenslauf, zweiter Absatz. Erzählungen. 208 Seiten. Aufbau. Berlin 2011. € 18,95.