Reproduktion der Schuld
Marius Hulpe
Orte sind nicht selten mit Schuld beladen. Wer
den Sehnsuchtsaspekt an ihnen überbetont - das Ferne einerseits,
die Heimat andererseits - der begegnet im neuen Gedichtband
Christian Lehnerts einem mystisch aufgeladenen Bilderspektakel,
das im Umkehrschluss nur allzu offensichtlich macht, in welchem
Ausmaß der Unsinn geographischer Lobhudelei zu einem öffentlichen
Selbstläufer anschwellen kann, so geschehen im vergangenen
Jahrzehnt hinsichtlich des plötzlich von den Sendestationen
entdeckten ostdeutschen Raums. Wo aber, im medialen Blitzlichtgewitter,
nach den Allgemeinheiten des Lebens diesseits von Stacheldraht
und Beton geschielt wird, dort widmet sich Lehnerts Gedicht-Ich
seinem ganz persönlichen, man ist versucht zu sagen: mystischen
Bezug zu dieser Geschichte, die immer wieder in einer seltsamen,
aber spannenden Schwebe zwischen Ironie und Pathos kommentiert
wird: "Hier werde ich gegangen sein, / werde ich gegangen
sein, / werde ich gegangen sein ..."
Das Anschwellen des öffentlichen Interesses am untergegangenen
Staat vollzog sich mit Verzögerung, schließlich aber
rapide, und das, obwohl viele öffentliche Versuche der Schatzrettung
und Geschichtenbergung im Sinne der Klischeevernichtung angedacht
waren, nicht aber zugunsten der Potenzierung vermeintlicher Eindeutigkeit.
So aber ist es gekommen, eindeutig, ganz medial und auf großer
Bühne - und das Label, das man schließlich wie ein
schon benutztes Kondom darüberzog, hieß "Ostalgie".
In Auf Moränen leistet die Lehnertsche Poetik dieser
Ostalgie gegenüber einiges an Aufarbeitung und Rückbesinnung:
auf das vermeintlich Untröstliche, tatsächlich zu historischer
Aufmerksamkeit Einladende: "Das Schweigen, / als ich vibrierte
am Preßluftschlauch, als der Schnee / gegen den Sperrzaun
wehte, ein Reh sich überschlug // als die Maschinengewehre
in die Etagen zielten, als ich das Wort / Stille hörte, das
Wort stehen, auf dem Appellplatz, / das Wort Ausgang hörte
/ und es war draußen nichts."
Solch welker Sprache, in der das Echo der DDR-Blütezeit aber
immer noch nachhallt, kann kaum mit den herkömmlichen Inszenierungsgebärden
medialer Cluster begegnet werden. Eher schon mit einer harten
Fuge aus Beschreibungen einer durch Uranbergbau zerstörten
Landschaft, "deren immer noch plätschernden Flüssen
und Seen". Nur wie es unter der glitzernden Oberfläche
eines Bergsees aussehen mag, bleibt der Phantasie überlassen,
meistens jedenfalls. Vielleicht ist auch die transzendentale Herangehensweise
an ohnehin Erschütterndes die viel geeignetere Waffe, um
den Schrecken der Rodung und Lebensraumvernichtung etwas an Kritikwürdigkeit
anzuheften: "Ich bin dein Echo, du bist meine Stimme. / Ich
höre mich, wenn ich in dir verschwimme. / Du bist der Raum,
in dem ich widerhalle / und endlos falle."
Hoffnung auf himmelhochjauchzende Zustände gewähren
diese Gedichte jedenfalls an keiner Stelle, Düsternis im
Geschichtskreis stellt sich ein, festgemacht an gebrochenen Biographien:
"Ein Körper in der unteren Bettenlage, / blaß
und reglos zwischen blauen Karos: / Atmet er noch?" Doch
stellt sich mit der letzten und keineswegs rhetorischen Frage
auch etwas wie Fürsorge angesichts all der Ungewissheit über
Künftiges ein. Selbst wenn kein Licht zu sehen ist, so scheint
es doch auch keine Wand, die am Ende des Tunnels der Geschichte
steht. Diese Offenheit ist bei Lehnert keine, die je beliebig
werden könnte, sondern feine Sprachkalibrierung unter Berücksichtigung
aller Möglichkeiten, die Geschichte zu bewerten.
Teils ließe sich der Hang dieser Gedichte kritisieren, Situationen
zu stilisieren, tatsächlich unschöne, ätzende Erfahrungen
zu ästhetisieren, was Lehnert den Ruf eines religiösen
Dichters eingebrockt hat. Diese künstliche Aufladung ist
nie zu übersehen, allerdings auch nichts, was die Texte hauptsächlich
kennzeichnen würde. Zwei Prinzipien scheinen einander permanent
zu widersprechen. Einerseits bauen die Texte auf so etwas Vagem
auf wie subjektiver Vernunft und historischer Ratio, andererseits
kommen sie nicht ohne eben jene Ästhetisierung, ohne theologische
Andeutung aus. Die historische Ratio, von ganzen Philosophengenerationen
als Wunschtraum und Hirngespinst bekämpft, wird bei Lehnert
von Grund auf wieder ästhetisiert, mystifiziert. Vielleicht
bloß, um zu zeigen, dass sie selbst nie mehr als ein Mythos
war. Hierin lässt sich allerdings auch ein Kampf des Autors
um die angemessenste Perspektivierung herauslesen.
Neben der Aufarbeitung klassisch ostdeutscher Zeitgeschichte fnden
sich in Auf Moränen auch grundsätzlich einige
aufschlussreiche Passagen über Zeit als Phänomen an
sich. Was diese Texte zudem leisten, ist, dass Geschichte selbst
anhand von Gedichten nicht nur erfahrbar wird, sondern in all
ihrer Plastizität auch Stoff für kritische Auseinandersetzung
mit fragwürdigen Interpretationen bietet, wie sie von Talkmastern
nicht weniger als von alten Stasi-Kadern durch die öffentliche
Diskussion geschleudert werden. Dafür ist Christian Lehnert
nicht genug zu danken.
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