Inständige Nüchternheit
Martin Jürgens
Das eigene Leben. Damit kennen wir uns aus, wer sonst? Das bilden
wir uns jedenfalls ein. Manche schreiben es dann auch auf, das
eigene Leben, en gros oder en détail. Von solchen Autoren
und ihren Zuwendungen leben einige zweifelhafte Kleinverlage,
ohne dass es einer nennenswerten Nachfrage bedürfte.
Zu solchen "books without demand" würde Hans Geulens
2005 erschienenes Buch Frühe Endzeit auch dann nicht gehören,
wenn sein Absatz zu wünschen übrig ließe, was
beim aktuellen Zustand des Buchmarktes ja kein Wunder wäre.
Von seiner Aufmachung her kann sich ein Buch kaum karger und sperriger
annoncieren: ein Einband aus weißer Pappe, vorn das Schwarzweißfoto
eines endlos scheinenden Gangs im Inneren eines Bunkers, die Namen
des Autors und des Verlags, der Titel ohne Gattungsbezeichnung,
weder vorn noch hinten ein Wort über den Verfasser. Auf der
Seite, die sich für eine Widmung eignen könnte, findet
sich in kleinen Lettern die Zeile "Über Anfänge
vor und nach 45. Ein Erzählversuch."
Das passt zur nüchternen Bescheidenheit des äußeren
Erscheinungsbilds und auch zum Unspektakulären der erzählten
Lebenszeit - nicht aber zu der stupenden und zugleich zarten Souveränität,
mit der hier erzählt wird. Um es mit aller gebotenen Emphase
zu schreiben: Hans Geulen ist ein großes Buch gelungen,
ein autobiographischer Text jenseits der Eitelkeit, in dem durch
alle subtil geschilderten zeittypischen Details hindurch nach
und nach die Gestalt des erzählenden Ichs sichtbar wird -
von den ersten erinnerten Bildern und Tönen bis zum beiläufig
bestandenen Abitur, bis zum Tag des Umzugs in die Universitätsstadt.
Legt man die Lebensdaten Hans Geulens zugrunde, sind es die 22
Jahre von 1932 bis 1954.
Was sich in diesen gut zwei Jahrzehnten an Identität bildet,
verdient weit mehr als individuelles Interesse, ist es doch die
Frühform jener subtilen Wahrnehmungs- und Artikulationsfähigkeit,
die sich in diesem Buch ihrer eigenen Genese zuwendet, nüchtern
und inständig, verbindlich bei freundlicher Skepsis und abhold
allen Effekten. Das ist außerordentlich und hat derzeit
kaum seinesgleichen, wenn man von den Texten Hermann Kinders,
Wilhelm Genazinos oder Paul Nizons absieht.
Geulen handhabt seine sprachlichen Mittel mühelos und virtuos
wie ein Zeichner das Ensemble seiner Bleistifte, Kreiden und Kohlestücke:
flüchtige Umrisse, Sätze, die der grammatikalischen
Vollständigkeit nicht bedürfen und in denen nichts kraftvoll
behauptet werden muss, um die Leuchtkraft der frühesten Erfahrungen
vor Augen zu führen, deren Atem gegenwärtig zu machen:
"Obstwiesen des Onkels. Die Vier Jahreszeiten', sein
Gasthaus mit anschließendem Saalgebäude [
] Rundum
Rosengewächse, rankendes Weinlaub. In den Wiesen hörte
ich zum ersten Mal meinen Namen rufen. Lief da zwischen Kleinvieh
umher und versteckte mich im höheren Gras. Über mir
Wipfel, Wolken, Tauben." Das klingt nach einer besonnten
Kindheit, in der es wohl Krankheit und Kummer gibt, wie schon
die ersten Seiten zeigen, aber kein historisches Unheil.
Aber so ist es nicht, wenn man 1932 geboren wird, nicht einmal
in den Sommerferien. Die Familie ist an die Mosel gefahren, und
noch ist Frieden. Aber am Nebentisch in der kleinen Pension sitzen
die zwei Offiziere der Legion Condor, die sich von ihren Schlächtereien
in Spanien erholen, bevor es - wie sie sagen - wieder losgeht'.
"Denn Krieg komme mit Sicherheit und bald." Die nachfolgenden
Sätze evozieren in atmosphärischen Abschattungen die
Flusslandschaft am Abend, die Traulichkeit des Tagesabschlusses
im Garten mit Musik und Gesang und zugleich eine Ahnung davon,
dass diese schlichte Schönheit zuschanden werden wird: "Nach
dem Abendessen ging man meist in den Garten, wo es Wein und Musik
gab und oft auch gesungen wurde. Ich sah in die dunkel gewordenen
Weinberge hinauf, bis es ganz still wurde, die Gäste auseinandergegangen
waren, der Vater im Dunkeln nach mir rief und ich mit den Eltern
noch einmal hinabdurfte ans Ufer, wo manchmal sehr spät noch
und fast geräuschlos die Fähre anlegte."
An die Stelle dieser stillen Idyllen tritt nach 1945 das in sich
verkrampfte, elende Beschweigen der zwölf zurückliegenden
Jahre. Das erzählende Ich erlebt es als Lähmung seines
eigenen Lebens und kann doch nicht ohne Mitleid sein, wenn er
die Eltern so sitzen sieht: "Die Mutter weinte hinter ihrer
Faust, hielt ein Taschentuch darin, und der Vater sah im Halbdunkel
ganz fahl aus, schwieg, wenn sie später ins kleinere Zimmer
gingen und er mir die Hand auf den Kopf legte. Ich sah dann oft
noch die kleine Schar meiner paar Bücher durch, ohne zu lesen,
und eigentümlicher mochte nichts sein, als ein aufgeschlagenes
Blatt hier und da in der Dämmerung vor mir. Es schien mir
oft so, als habe ein jeder, was gewesen' war, aber noch
gar nicht vergangen schien, immer ganz anders in sich, wo es bewegungslos
stockte [
] Niemand sprach, niemand hörte."
Wie lange das anhielt und ob es die Eltern bis zu ihrem Tod 1961
und 1962 begleitet hat, teilt der Ich-Erzähler nicht mit
- so wie er auch sonst nichts mitteilt, was den Voyeurismus stimulieren
könnte. Er selbst tastet sich als erzählte Figur an
eine ihm gemäße Sprache heran, gegen die Zumutungen
der Schule, in der es nur darum geht, das zu reproduzieren, was
man intus' hat, gegen die unbegreiflichen Abstraktionen
der Mathematik und gegen den abgestandenen bildungsbürgerlichen
Hochmut der besseren Kreise'. Gegen Ende der Schullaufbahn,
als die Zahl seiner Bücher schon zu labilen Stapeln auf dem
Schreibtisch geführt hat, kommt es zu einem dreisten Auftritt
einer Vertreterin eben dieser Kreise. Der Erzähler skizziert
ihn treffsicher, pointiert und mit einem Sinn für die Komik
haltloser Anmaßung, gefolgt von einem bestürzenden
Satz; in ihm wird der seiner selbst noch unsichere Wunsch mitgeteilt,
die Vergangenheit mit ihren Schrecken zu bannen - gegen die Fakten
und gegen die Aktenlage: "[
] sie entdeckte meinen Bücherhaufen,
kippte daran herum [
], lenkte das anschließende Gespräch
auf Bildung, dann Tradition, bestand streng auf beidem, dozierte
mit hoch- und scharf ausgezogenen Brauen. [
] Natürlich
fuhr sie mir gleich über den Mund, zupfte Gerede und Phrase
bei mir selber hervor, aber ich wollte ja auch etwas ganz anderes
sagen. Ich wollte wohl etwa sagen, dass all das Tradierte, Hergebrachte,
Geschichte
am Ende nur darauf warte, ganz anders gewesen
zu sein."
Solche Sätze verbünden sich mit dem Unabgegoltenen in
der Geschichte. Sie haben teil an der schwachen messianischen
Kraft, von der bei Walter Benjamin die Rede ist. Dass das ohne
Anstrengung und Pathos gelingt, ganz nüchtern und auf eine
scheue Art innig, würde dies Buch zu einer Sensation machen,
wenn das denn möglich wäre. Wäre es möglich,
könnte Hans Geulens Frühe Endzeit zu unserem Glück
Schule machen. Dem Tugendkatalog, den dieses Buch nur andeutet
und nie proklamiert, kommt man nur mit Paradoxien nahe: leidenschaftliche
Nüchternheit, maßlose Bescheidenheit, flammende Präzision.
Von all dem findet sich in den literarischen Blockbustern unserer
Tage keine Spur, nicht einmal ein Spurenelement. Dennoch, in allem
illusionslosen Ernst: Zu hoffen ist auf die Haltbarkeit solch
paradoxer Tugenden. So heimatlos sie derzeit sein mögen zwischen
den Feuchtgebieten weiblicher Provenienz und den killing fields,
auf denen die Schädel unter dem Tritt Littellscher Helden
knacken: In ihnen bleiben Ansprüche virulent, die aufzugeben
sich nur leisten kann, wer jeder Erwartung entsagt hat.
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