Der LebensversichererAlfons Huckebrink
Paul Nizons Journalbände sind durchaus ein
Affront für den hochgestimmten Leser. Ihre Notate machen
um die Abgründe der Schriftstellerexistenz keinen Bogen,
bieten radikalste Zurschaustellung eines Künstlerlebens.
Präsentiert wird ein vorfiktionaler Zustand. Literatur im
Gärungszustand. Der Blick auf das pulsierende zuckende Fleisch,
die Sezierung von Lebensmaterialien. "Buch-werden als ein
ununterbrochener Prozeß quer durch Sorgen, Denken, Sinnen,
Träumen, Erinnern, Herumlaufen, Liebemachen und Angsthaben
".
Demonstriert auf eine Weise, die, befürchtet Nizon, durchaus
als unanständig empfunden werden könnte: "Die Leute
wollen Literatur als das Fertige, als das Kunstgebilde zur Kenntnis
nehmen und in sich aufnehmen und nicht das offen liegende Gärende,
Belagerte, Errungene, womöglich Blutige." Unverstellte
Einblicke - womöglich als Bedrohung empfunden von jemandem,
der das Leben im ritualisierten Alltag weitgehend auf Distanz
hält. Nizons Notate enthalten aber auch die Aufforderung,
sich von dem in die Wirklichkeit zurückführenden Sprachkunstwerk
faszinieren zu lassen. Dies durchaus im Sinne von Elias Canetti,
Nizons Freund, der im Hinblick auf den Tagebuchleser postulierte:
"Es ist unendlich wichtig, dieses Härteste, Unauflöslichste
bei anderen einzusehen, um das Eigene, das ihm entspricht, ruhiger
ins Auge zu fassen und nicht an ihm zu verzweifeln." (Das
Gewissen der Worte)
Die Zettel des Kuriers ist Nizons Journal der Jahre 1990-99
betitelt. Die Gesamtreihe spannt einen weiten Zeitbogen. Ein Rückblick:
Der Ersteintrag im ersten Band (Die Erstausgaben der Gefühle)
datiert vom 24.03.1961. "Auf der Straße Max Frisch
getroffen
" beginnt er und schildert eine Begegnung
mit Frisch und Dürrenmatt in der Kronenhalle. Ziemlich genau
30 Jahre später dieser Vermerk in den Zetteln: "Die
Nachricht von Frischs Tod
"; die detaillierte Analyse
eines reservierten Verhältnisses bilanziert: "Der leibliche
Frisch stand mir immer im Wege beim Frisch-Lesen. Der Herr sei
seiner Seele gnädig. Ich schäme mich für den Mangel
an Gefühlen, Zuneigung." Ganz anders Nizons Blick auf
den kurz zuvor gestorbenen Dürrenmatt, den "bewunderten
Antipoden", dessen Prosa er in höchstem Maße lobt:
"Bei Dürrenmatt drängt sich der veraltete bis unheimliche
Geniebegriff auf." Bewunderung auch für Nabokov, Hemingway,
Céline, die "durch ihre Gebrochenheit Moderne sind."
Überhaupt fügen sich die Totenklagen - Erinnerungen
an Freunde wie Armin Kesser und Reinhard Hemm, an Schriftstellerkollegen
wie Didier-Georges Gabily, der Abschied von Paul Hofer - zum ergreifenden
Menetekel dieses Bands. Indem sie Besorgnis schüren um eigene
Hinfälligkeit, erfahren durch den langen Krankenhausaufenthalt
im April 99: "Von der Außenwelt abgeschnitten, sogar
den Knall der Knospen verpasst und die grünen Schlüpflinge,
jetzt ist alles gleichmäßig grün." Die Erkenntnis
des Alterns, eine "unangenehme Pille", kulminiert in
der Angst, verfrüht und voreilig abzugehen, die in einem
Todestraum (19.01.1994) zur Geltung kommt. Vermerkt sind jedoch
auch glückliche Augenblicke. Einer Fanfare gleich vermeldet
der Ersteintrag am 8. Januar 1990 die Geburt des Sohnes Igor,
"ein überaus sympathischer Citoyen", und die ironische
Selbst-Einreihung Nizons bei den alten Vätern wie Yves Montand.
Zu besichtigen gibt es allerlei. Vor allem die Mühen mit
dem Werk. Wahre Schöpfungsberichte. Im Mittelpunkt der Betrachtungen
das Werden von Hund. Beichte am Mittag. Am 7. Mai 1992
die erste Notiz über den Clochard, erblickt vor einem Geschäft
in Paris, der Nizon gleich inspiriert zur Figur des Marschierers,
eines Heruntergekommenen; bis zu jenem Brief an den Verleger Unseld
(02.04.1998), in dem der konzeptionelle Rahmen des Buchs, das
im selben Jahr erscheint, skizziert wird. Dieses sei "auch
ein Sturmlaufen und bisweilen Amoklaufen gegen die Geschichte.
Geschichten legen einen fest, sie verhaften uns, vor allem berauben
sie uns der Unschuld." Nizons Credo: Gegen die Handlung,
für das Gewebe, den Alltag. Insofern bis dahin seine konsequenteste
künstlerische Schöpfung. Elisabeth Borchers, seine Lektorin
bei Suhrkamp, legt sich bereits 1993 auf den Titel fest.
Endlich auch wieder ein erhellender Passus zur musikalischen Grundierung
der Prosa: "Ich schreibe eine Ohrensprache,
ich lege
die Finger auf die Tastatur meiner Schreibmaschine, wie der Pianist
die Finger auf die Tasten des Pianos legt." Schreiben als
Vagabundieren auf den Wellen musikalischer Strömungen.
Der Selbstzweifel über den eigenen Stellenwert nagt nach
einer Lesereise durch ostdeutsche Städte (02.11.95). Der
Eindruck, "daß ich mit meiner Sache eben noch lange
nicht wirklich durchgedrungen bin." Die Ernüchterung
in Jena: "Die ganze Stadt zwischen Abbruch und Aufbruch."
Das Zwiegespräch mit Odile, seiner jungen Frau, "die
mich des l'art pour l'art verdächtigte, als handelte es sich
um ein ästhetisches Gefummel und nicht um einen schier auf
Leben und Tod ausgefochtenen Kampf." Die ewige Suche nach
dem Ich als Herausbildung einer neuen Figur, Autofiktionen, Häutungen:
Eine Arbeit, die nicht nur den Autor verwandelt, sondern als literarisches
Kunstwerk auch dem Leser offenbaren kann, wie das Leben neu zu
gewinnen ist. Klingt kompliziert, doch bringt der letzte Satz
der Zettel Nizons Künstlertum auf eine luzide Kurzformel:
"Noch mehr Nähe, nie nie auslassen." Beileibe also
kein Affront, aber wie jede Kunst eine Anmutung. Eine bis heute
andauernde Lebensversicherung. Auch für den Leser. In dieser
Hinsicht - und nur in dieser soll der altmodische Begriff
einmal erlaubt sein - haben seine Texte auch etwas Tröstliches.
Die meisten müssten sie allerdings noch für sich entdecken.
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