Sachzwang versus MelodieMarius Hulpe
"Es ist, als spiegelte sich zum erstenmal
die Welt in einer menschlichen Seele", beschrieb Hugo von
Hofmannsthal vor etwa einem Jahrhundert seine Begegnung mit Homers
Odyssee, mit der die abendländische Literatur ihren
Auftakt fand. Epochen von Dichtern und Denkern war dieses Werk
ein Leitstern auf dem Weg in die Neuzeit. Gerade die später
Bedeutenden hielten sich an das Welthaltige dieses Textes - das
Welthaltige, das es davor nicht gegeben hatte. Die Odyssee
ist Wegbereiter für alles Großangelegte, Umfassende,
Epische, bis in die Gegenwartsliteratur hinein. Große Übersetzer
arbeiteten sich an ihr ab, Generationen von Interpreten stritten
um ihre Bedeutung en detail.
Nun hat der Manesse Verlag einen Band vorgelegt, einen schmucken
und großzügig mit Farbtafeln ausgestatteten "Prachtband",
um genauer zu sein, der mit einer Neuübersetzung aufwartet.
Geliefert hat sie Kurt Steinmann, der mit genauer Kenntnis der
vorliegenden wissenschaftlichen Kommentare gearbeitet und den
Homer noch ein wenig mehr auf die Höhe seiner Zeit gebracht
hat, als es die Voß'sche Übersetzung von 1781 vermochte.
Als "korrekt" ließe sich seine Arbeit bezeichnen.
Steinmann ist vertraut mit dem neuesten Stand der Forschung und
versteht es, Unglätten aus älteren Übersetzungen
"rund" zu schreiben.
Dieses relativ normative Verfahren führt allerdings dazu,
dass sich die vierundzwanzig Gesänge auf einem recht unterschiedlichen
sprachlichen Niveau einpendeln. Denn was Steinmann nicht vermag,
ist, den Gleichklang von Emotionalität und Textrhythmus durchgängig
aufrecht zu erhalten. Sicher, es ist ein gewaltiges Unternehmen,
den Homer vollständig und in einer Tonlage, dazu noch auf
der Höhe seiner Zeit, neu zu übersetzen. Das sei Steinmann
hoch angerechnet. Die Rhythmik und die sprachliche Eleganz der
Voß-Übersetzung erreicht er dennoch nicht. Zudem erfolgt
die Glättung des Rhythmus nicht einheitlich, und sollte der
Übersetzer diese Entscheidung, was man unterstellen darf,
bewusst getroffen haben, so scheint sie falsch zu sein.
Denn es fehlt dieser Übersetzung vor allem an einem ästhetischen
Mehrwert, den man angesichts der (nicht minder verlässlichen)
Übertragungen aus früheren Epochen erwarten muss. Einzig
um wissenschaftliche Genauigkeit kann es nicht gehen, erst recht
nicht, wenn man das Buch nicht in eine Studienausgabe, sondern
in ein derart schmuckes Farbengewand kleidet.
Die raschen Daktylen des Johann Heinrich Voß ("stürzt,
wenn im Zorn sich erhebt die Tochter des schrecklichen Vaters")
werden oft zu holprigen Einheitssätzen ("denen sie zürnt,
bezwingt, die Tochter des mächtigen Vaters"). Ganze
Verse müssen unnatürlich gesprochen werden, gibt Steinmann
diversen Silben doch eine für das Deutsche ungewohnte und
ungelenk wirkende Betonung. Geschmeidiger ist da selbst die als
günstige Taschenbuchausgabe erhältliche Prosaübersetzung
Wolfgang Schadewaldts.
Bleibt zu sagen, dass es dennoch ein großes Verdienst ist,
sich diesem Werk neu zu widmen und es für heutige Leser mit
bibliophilem Anspruch zugänglich zu machen. Der Kommentar
trägt ebenfalls erheblich zur Erhellung bei. Hätte der
Übersetzer sein eigenes Verfahren konsequenter angewendet,
so wäre dieses Buch ein Muss für jeden, der die Odyssee
neu oder zum ersten Mal entdecken will.
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