Károly Pap: Azarel

Franz Kafka: Brief an den Vater

 
Rezensionen

Franz Kafka: Brief an den Vater
Károly Pap: Azarel
 

Erstickte Rebellion
Pascal Echt

Aus der deutschsprachigen Literatur ist Überraschendes zu berichten. Ein von Lesergenerationen gehasstes Monster soll tatsächlich ein angenehmer Mensch gewesen sein. Das grausame Bild, das Franz Kafka in seinem Brief an den Vater von ebendiesem zeichnete, ist ins Wanken geraten. Wer die Erinnerungen des Lehrjungen Frantisek Basík an seine Jahre in der Kafka'schen Galanteriewarenhandlung liest, die der Neuausgabe des Briefs im Wagenbach Verlag beigefügt sind, lernt einen anderen Hermann Kafka kennen, einen "ruhigen, sympathischen Mann". Doch so interessant diese Entdeckung auch ist, sie sollte nicht zu biografischem Puzzlespiel verleiten. Schließlich geht es im Brief um mehr als eine einzelne Vaterfigur: Er dokumentiert den Konflikt der jüdischen "Übergangsgeneration" (Kafka), die sich von der Orthodoxie gelöst und für die Assimilation entschieden hat, mit ihren Nachfahren.
Auf nicht minder eindrucksvolle Art tut dies auch der bereits 1937 erschienene Roman Azarel des ungarisch-jüdischen Schriftstellers Károly Pap, der nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Die flott erzählte Kindheitsgeschichte in der Tradition des Entwicklungsromans ergänzt Kafkas gedankenschweren Brief wunderbar - nicht zuletzt deshalb, weil sie einen anderen Weg aufzeigt als den von Kafka beschrittenen: offene Rebellion.
Wie ein Rebell wirkt er zunächst nicht, der kleine Gyuri Azarel, der jüngste Sohn des angesehenen Rabbiners einer Stadt im Westen Ungarns. Gyuris Vater neigt dem Reformjudentum zu, doch der Großvater Jeremias ist streng orthodox, studiert mystische Lehrschriften wie die "Geheimen Auslegungen" und will zumindest einen Spross seiner Familie auf den rechten Weg zu Jahwe führen. Weil die Eltern dem Alten einen ihrer Söhne versprochen haben, wird Gyuri von ihm erzogen und so zum Opfer eines religiösen Purifikations- und Askesewahns. Der Junge muss in einem zwischen Synagoge und Friedhof aufgestellten Zelt hausen, Fastenübungen über sich ergehen lassen und mit ansehen, wie der Großvater sein Spielzeug verbrennt. Er lebt in ständiger Angst. Hier hätte Pap erzählerisch Funken schlagen können, doch er verschenkt einen Großteil der möglichen Wirkung, indem er diese traumatischen Erfahrungen gleich zu Beginn des Romans ein wenig eilig und kunstlos schildert, als warteten wichtigere Aufgaben. Ein Meister der raffinierten Dramaturgie und des kultivierten Stils ist der Ungar nicht.
Doch weiter in der Geschichte. Nach dem plötzlichen Tod Jeremias' kehrt Gyuri zu seinen Eltern und den beiden älteren Geschwistern zurück. Die Pein der religiösen Indoktrination hat damit zwar ein Ende, aber die Familie kann Gyuris Gefühl "unendlicher Wichtigkeit" und "beunruhigender Ausschließlichkeit" nicht befriedigen. Er buhlt um die Gunst der Mutter, will sich gar aus dem Fenster stürzen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sein Geltungsdrang trägt ihm Liebesentzug, Strafen und den Vorwurf ein, er sei ein "böses Kind". Bald identifiziert Gyuri sich mit dieser Zuschreibung und beginnt gegen die Familie zu rebellieren. Schließlich geht er so weit, die Glaubensfestigkeit der Eltern und auch die Existenz Gottes in Zweifel zu ziehen. Nach der handgreiflichen Reaktion reißt Gyuri aus, will seinen Vater in der Synagoge bloßstellen, bricht dort aber, von Schuldgefühlen übermannt, zusammen. Seine Rebellion ist im Würgegriff des assimilierten Milieus erstickt.
Wie schmerzhaft es den Jungen nach Zuwendung verlangt, wie er sich, von den Eltern enttäuscht, in eine Parallelwelt flüchtet, in der die Dinge belebt sind und mit ihm sprechen, wie er sich in die Rolle des "bösen Kindes" hineinspielt - all das wird unglaublich plastisch, detailgenau und mit einem ausgeprägten Sinn für Empfindungs- und Ausdrucksnuancen geschildert. Diese Darstellung der kindlichen Psychologie braucht den Vergleich mit einschlägigen Klassikern der Weltliteratur nicht zu scheuen. Hinzu kommen eine religiöse Skepsis und eine radikale Infragestellung des jüdischen Selbstverständnisses, die von einem imponierend unabhängigen Denken zeugen. Und nur ganz selten entsteht der Eindruck, als spreche aus Gyuris Mund der Autor.
Pap verarbeitet offensichtlich eigene Erfahrungen. Der 1897 geborene Sohn einer bekannten Rabbinerfamilie hatte es mit einem reformistisch gesinnten Vater und einem Großvater vom Schlag Jeremias' zu tun. Nach dem Ersten Weltkrieg und den folgenden Revolutionswirren brach er mit seinem Elternhaus. Noch als Kaffeehausliterat im Budapest der zwanziger und dreißiger Jahre, der täglich mit dem Geld für zwei Tassen Heißgetränk "zur Arbeit fuhr", beschäftigte er sich mit diesem Konflikt. Viel Zeit blieb Pap nicht, um seine Gedichte, Erzählungen und Romane niederzuschreiben. 1935 verstummte er angesichts der Nazi-Barbarei, 1945 starb er im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Mit Schaudern erinnert sich der Leser des Azarel an die ahnungsvolle Bemerkung des Großvaters, das jüdische Volk drohe "in den Assimilationsöfen der Fremde" eingeschmolzen zu werden.

 

Franz Kafka: Brief an den Vater. 160 Seiten. Wagenbach. Berlin 2004. € 19,50.

Károly Pap: Azarel. Roman. 304 Seiten. Luchterhand. München 2004. € 20,00.