Ein unbeirrbarer Poet
Jürgen P. Wallmann
"Ich spiele es das / dreipedalige klavier
ihn / den dreitonnenflügel sie die / sechsregistrige orgel
(jeder / ein ein solist an der kreuzung der's kann noch
/ lächelt der dirigent) // Ich spiele, leicht / blaß
(nicht / leichenblaß frau, noch / verreckt nur der motor)
// Der doch der / sich nicht findet in simplem dreivierteltakt
kann / unter die räder geraten / mit seinen gedanken // Ein
requiem üb ich für sie und / werde gelobt für richtiges
einordnen"
Dieses Gedicht Reiner Kunzes mit dem Titel "Fahrschüler
für Lastwagen" wurde in der DDR geschrieben und steckt,
was man heute im Westen nicht mehr auf den ersten Blick sieht,
voller politischer Anspielungen und böser Bedrohlichkeiten:
Da "verreckt" (vorerst) nur der Motor, da kann jemand
bloß wegen seiner Gedanken "unter die Räder geraten"
und für "richtiges Einordnen" wird man gelobt.
Heute, in dem jüngst erschienenen Band Gedichte von
Reiner Kunze trägt dieses Gedicht die Widmung "Für
Jürgen P. Wallmann". Als es erstmals 1973 in der bei
Reclam Leipzig erschienenen Sammlung Brief mit blauem Siegel gedruckt
wurde, hieß die Widmung noch etwas verschleiernder "für
J.P.W.". Aber auch das war nicht ganz ungefährlich für
den Autor Kunze, wußten die Kulturbehörden der DDR
doch ganz genau, wer da gemeint war. Später, nach dem Ende
der DDR, wurde dann aus den Stasi-Akten deutlich, daß man
mich, den Widmungsträger, wegen meiner Freundschaft zu Reiner
Kunze stets im Visier gehabt hatte. So heißt es beispielsweise
in einem Bericht von Stasi-Major Reinhardt vom 20.10.1976, der
Schriftsteller Stefan Hermlin bezeichnete "den BRD-Journalisten
Wallmann als einen Ganoven, gegen den man etwas unternehmen müsse".
Schon am 19.11.1975 berichtete Stasi-Hauptmann Gütling, Stefan
Hermlin habe Reiner Kunze beschimpft als einen "blöden
Hund, dem man in den Arsch treten müßte". So feinsinnig
äußerte sich einst, laut mir vorliegender Stasi-Akten,
der in der DDR einflußreiche und im Westen als Schöngeist
geschätzte Stefan Hermlin, Träger des Nationalpreises
der DDR 1. Klasse, Träger des Verdienstordens der DDR in
Gold, Träger des Ordens Großer Stern der Völkerfreundschaft
und Vizepräsident des Internationalen P.E.N.-Clubs.
Aber zurück zu Reiner Kunze. Ein Vielschreiber ist der Lyriker
nie gewesen, weder in der DDR, wo er mit seinen stillen Versen
die Verwalter der politischen Macht gegen sich aufbrachte, noch
im Westen, wohin man den Unbeugsamen 1977 auszureisen gezwungen
hatte. Lediglich drei neue Lyrikbände hat Kunz in den achtziger
und neunziger Jahren vorgelegt, drei Sammlungen, die eindrucksvoll
das Vorurteil widerlegen, hier sei ein dezidiert politischer Autor
am Werk, der sich an der Staatsmacht reiben müsse, um literarisch
kreativ zu sein zu können. "poesie ist außer der
wahrheit / vor allem poesie" heißt es, in einem Zitat,
in einem der neueren Gedichte, und das ist für Kunze Programm.
Das lyrische Werk Reiner Kunzes von den fünfziger Jahren
bis heute ist nun mit den wesentlichen Texten gesammelt in einem
handlichen Dünndruckband zu überblicken. Nur wenige
Gedichte sind gegenüber den zum Teil vergriffenen Originalausgaben
überarbeitet, und im Anhang hat der Autor einige erklärende
Hinweise beigefügt. Bemerkenswerterweise schließt die
ansonsten chronologisch angeordnete Auswahledition mit den Kindergedichten
des 1991 erschienenen Bandes Wohin der Schlaf sich schlafen
legt. Offenbar wollte Kunze damit seinen leicht übersehenen
Versen für Kinder den gleichen Rang zusprechen wie seinen
übrigen Gedichten.
Richtig an dem Bild vom politischen Dichter Kunze ist, daß
er sich nach einigen frühen, nicht in diesem Band enthaltenen
Versen eines (so Kunze) "poetologisch, philosophisch und
ideologisch Irregeführten" auch in Gedichten von früh
an für die Rechte des Einzelnen einsetzte. Dadurch wurde
er in Konflikte mit der Macht verstrickt, die vorgab, sie praktiziere
einen humanen Sozialismus. Daß Kunze seine Position unbeirrt
beibehalten hat, daß er weder durch Bedrohungen noch Privilegien
korrumpierbar war, haben ihm all jene, die von ihren linken Illusionen
noch immer nicht lassen mögen, bis heute nicht verziehen.
Wahr ist ein Gedicht für Reiner Kunze nicht dann, wenn die
Meinung, die Ideologie, der Glaube, der zum Ausdruck gebracht
werden soll, wahr ist, sondern wenn das dichterische Bild, das
die Verbindung zwischen zwei entgegengesetzten Welten herstellt,
wenn also die Metapher stimmt. Darum wären Kunzes Gedichte
nicht ohne erheblichen Substanzverlust ins Begriffliche zu übertragen,
weil sie eben nicht vornehmlich Informationen oder Meinungen transportieren.
Übrigens hat der sonst eher vornehm zurückhaltende,
nicht zur Polemik neigende Poet den Interpreten schon vor zwanzig
Jahren einen ebenso groben wie wahren Vers ins Stammbuch geschrieben:
"Von hundert germanisten liebt die dichtung einer / Berufen
ist zum germanisten außer diesem keiner." Und er hat
gleich noch, immerhin studierter Philologe, eine "Interpretationshilfe"
angefügt: "Außer diesem einen / mag der autor
keinen".
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