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Patrick Modiano

 
Rezensionen

Patrick Modiano: Unbekannte Frauen
 

Sog des Unbestimmten
Georg Deggerich

Patrick Modiano verfügt zweifellos über das, was Kritiker heute gerne einen eigenen, unverwechselbaren Sound nennen. Dabei wäre wohl keinem die Vokabel so fremd wie dem Autor selbst. Seine Romane spielen vorzugsweise in der nostalgisch eingefärbten Zeit der fünfziger und sechziger Jahre, der eigenen Jugendzeit des Autors, und sind so etwas wie Beschwörungen einer vage erinnerten Vergangenheit, die sich nie ganz fassen läßt. Auch in seinem jüngsten Buch bewegt Modiano sich souverän im Schwebezustand zwischen Erinnerung und Imagination, in dem Orte, Charaktere und Ereignisse wie durch ein beschlagenes Glas betrachtet erscheinen.
Der Roman Unbekannte Frauen - streng genommen handelt es sich um drei eigenständige Erzählungen - läßt drei Ich-Erzählerinnen auftreten, die auf Episoden aus ihrer Jugend zu Beginn der sechziger Jahre zurückblicken. Der Titel ist dabei durchaus Programm. Von den drei jungen Frauen erfährt der Leser kaum mehr als das Alter und ein paar dürftige Hinweise auf die Lebensumstände. Viel wichtiger aber ist, daß es sich bei den Erzählerinnen um ausgesprochen verletzliche, empfindsame Wesen handelt, die wie somnambul durch ihr Leben gleiten und mehr im Traum als in der Wirklichkeit zu Hause zu sein scheinen. In der ersten Episode geht es um ein achtzehnjähriges Mädchen, das in der Hoffnung auf eine Karriere als Mannequin nach Paris kommt und dort die Geliebte einer zwielichtigen Figur namens Guy Vincent wird, mit dem sie sich einen Monat lang in einem Hotelzimmer trifft. Daß Guy Vincent in Wirklichkeit Alberto Zymbalist heißt, Teilhaber einer höchst windigen "Agentur" ist und vorzugsweise Algerier mit ledernen Aktenkoffern auf seinem Zimmer empfängt, macht seine Gestalt nicht durchsichtiger. Als der Geliebte zuletzt untertaucht oder von der Polizei verhaftet wird, beschließt auch die Erzählerin, unerkannt aus Paris fortzugehen, ganz so wie die tot aus der Seine geborgene "nicht identifizierte junge blonde Frau", von der regelmäßig in den Zeitungen zu lesen ist. In der zweiten Episode geht es nicht weniger undurchsichtig zu. Sie handelt von einem jungen Mädchen, das während der Sommerwochen von einem reichen Paar als Babysitterin angestellt wird, zuerst im Urlaub in Lausanne, dann im Haus der Familie in Genf. Bei ihrer Ankunft in Genf ist aber statt der Familie nur der Hausherr und ein Freund zugegen, die über ihre weiteren Absichten mit dem Mädchen keine Zweifel lassen. Bevor das Unausweichliche geschieht, erschießt das Mädchen einen der Männer mit der alten Pistole ihres Vaters, eines ehemaligen Straßenräubers und Widerstandskämpfers. Auch in dieser Episode herrscht eine schwebende, unwirkliche Atmosphäre, als sei das Geschehen nicht der Erzählerin selbst, sondern einer dritten Person widerfahren.
Am eindringlichsten aber entfaltet sich der Zauber von Modianos leiser, melancholischer Erzählkunst in der dritten Geschichte, die auf den ersten Blick die unspektakulärste ist. Sie erzählt von einer knapp zwanzigjährigen Frau aus London, die für einige Monate das Pariser Atelier eines Freundes hütet. Ohne jeden menschlichen Kontakt, gerät die Erzählerin immer tiefer in einen Strudel von Beklemmungen und Panikanfällen, bis sie die kleine Wohnung kaum noch verläßt. Zum Sinnbild ihrer eigenen hoffnungslosen Lage wird das Hufgeklapper der Pferde, die in der morgendlichen Dunkelheit an ihrem Haus vorbei zum Abdecker geführt werden. Fasziniert und zugleich abgestoßen, sucht die junge Frau am Tage nach den Spuren des weiteren Schicksals der Tiere. Der stumme Zug der Pferde, das blutfleckige Sägemehl in den Cafés um die Schlachthöfe, die massigen, roten Gesichter der Schlächter - all das erinnert an Georges Franjus bedrückenden Dokumentarfilm über die Pariser Schlachthöfe, Le Sang du Bêtes von 1949. Wie Franju schafft Modiano stille, magische Bilder, die dem Leser nicht mehr aus dem Kopf gehen - unendlich schön, und unendlich traurig.

 

Patrick Modiano: Unbekannte Frauen. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. 141 Seiten. Hanser. München 2002. € 14,90.