Das Beste an Veit Heinichens zehntem Roman um den Triester Commissario Proto Laurenti ist sein offenes Ende. Werden die Guten belohnt und die Bösen bestraft? Und sind die Guten nicht auch gelegentlich ein bisschen böse? Fragen, deren Antwort uns der Autor vorenthält. Wer klare Verhältnisse bevorzugt, muss andere Kriminalromane lesen. Diesen Satz könnte man für eine Empfehlung halten. Doch das wäre ein Irrtum. Denn tatsächlich handelt es sich bei diesem mit dem launigen Untertitel "Commissario Laurenti vergeht der Appetit" versehenen Buch um ein ziemlich fahrig erzähltes Stück Spannungsliteratur, dessen Lektüre Durchhaltevermögen erfordert. Die Geschichte des zu Unrecht verurteilten Kochs Aristèides Albanese, der nach siebzehn Jahren Haft in seine Heimatstadt zurückkehrt, um auf unkonventionelle Weise Rache an denen zu nehmen, deren falsche Zeugenaussagen ihn ins Gefängnis gebracht haben, wird bemerkenswert langatmig zum Besten gegeben. Heinichen hat eine dominante Erzählerfigur installiert, die mit Begeisterung landeskundliches Wissen und politische Einschätzungen ausbreitet und ansonsten penibel darauf achtet, dass man besondere körperliche Merkmale der Figuren nicht vergisst. Das ist gelegentlich unfreiwillig komisch, beispielsweise wenn sich der rachsüchtige Küchenheld vorstellt, wie seine frühere treulose Geliebte, von deren "Pferdezähnen" schon oft die Rede war, vor dem Spiegel steht und "mit ihrem auffälligen Gebiss ihre Kleidung" kontrolliert. In der Regel aber wirkt diese Form der Lesergängelung enervierend. Und das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum das eigentlich sehr sinnvoll angelegte offene Ende des Romans verstimmt.
Wie man einen komplexen Plot effektiver in den Griff bekommt, zeigt Elisabeth Herrmann in ihrem zweiten Roman um Judith Kepler, die Reinigungsfachkraft mit dem Spezialgebiet Leichen. Erzählt wird aus den individuellen Perspektiven der Protagonisten, ab und an auch in erlebter Rede. Kurze Kapitel sorgen für einen rasanten Spannungsaufbau, Rückblenden werden ordnungsgemäß angekündigt und außerdem durch den Wechsel vom Präteritum zum Präsens markiert. Denn das Vergangene ist bekanntermaßen nicht tot, es ist noch nicht einmal vergangen. Wie bereits im Vorgängerband Zeugin der Toten (2010) ist es ein zufälliger Arbeitseinsatz, der Judith Kepler veranlasst, den Rätseln ihrer Biografie nachzuspüren. Und diese sind eng mit der deutsch-deutschen Geschichte verknüpft, Geheimdienstaktivitäten inklusive. Im aktuellen Fall allerdings geht es um schlichtes Gangstertum der zeitgenössischen Art. Banken raubt man nämlich nicht mehr mit vorgehaltenen Waffen, sondern digital aus. Welche Rolle Kepler dabei zugedacht ist, sei nicht verraten. Man kann sich darauf verlassen, dass Elisabeth Herrmann alle Erzählfäden, von denen hier nur einige genannt worden sind, sicher in der Hand behält.
Wer mehr über die neuesten Methoden erfahren will, Unternehmen und sogar ganze Staaten um beträchtliche Summen zu erleichtern, sollte sich Fiona Grey anvertrauen. Unter diesem Namen ermittelt Harry Binghams detektivisches Naturtalent Fiona Griffiths in einer Organisation, die mithilfe eines gefälschten Computerprogramms einen Teil des britischen Lohnsteueraufkommens privatisieren will. Doch noch interessanter als das geplante Verbrechen ist die Ermittlerin. Fiona Griffiths ist hochintelligent, kampfsporterprobt und psychisch krank. Undercover zu arbeiten kommt ihr entgegen, denn auch ihr "normales" Leben hat etwas von einer Simulation. Und dass Bingham ihr eine sehr authentisch klingende Erzählstimme verliehen hat, sorgt für eine außergewöhnliche Lektüreerfahrung. Fiona. Als ich tot war ist der dritte Band der Reihe, die ersten beiden sind bei uns untergegangen, die folgenden noch nicht übersetzt. Es lohnt sich, alle zu lesen.
Mittels Kriminalliteratur auf soziale Probleme aufmerksam zu machen, hat eine lange Tradition, doch nicht jedes Mal kommt Gutes dabei heraus. Wer allerdings, wie die indische Autorin Anita Nair, sein Handwerk versteht, darf darauf vertrauen, dass das Genre noch immer mit Gewinn zum Zweck der Aufklärung genutzt werden kann. Also erfährt man in Nairs Krimidebüt Gewaltkette vieles über Brutalität, Korruption und Verbrechen in der indischen Metropole Bangalore, deren florierende Software-Industrie einen weltweiten Ruf genießt. Weniger bekannt dürfte das ebenfalls boomende Geschäft mit der Kinderprostitution sein, dessen Profiteuren Kriminalinspektor Borei Gowda das Handwerk legen möchte. Das ist kein leichtes Unterfangen, denn man gerät schnell mit den politisch Mächtigen aneinander. Doch der clevere Ermittler weiß sich zu helfen. Anita Nair schreibt auf Englisch und bedient sich eines robusten literarischen Modells europäischer Herkunft: die besten Voraussetzungen für einen internationalen Erfolg. Und den gönnt man der Autorin auch, nicht nur wegen ihres aufklärerischen Anliegens. |