Henning Ahrens
Am Erker 54, Münster, November 2007
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"Die Literatur ist das langsame Umgraben
- ob auf dem Land oder in der Stadt"
: Wenn du
das Leben in der Provinz mit dem in der Großstadt vergleichst
- siehst du da heute noch Unterschiede?
: Ich glaube, dass sich
die Unterschiede zum Teil verwischen. Nach dem Umzug in dieses
Dorf ist mir vor allem aufgefallen, dass es eine bestimmte Art
von Leuten, die ich aus der Stadt kenne - ich habe lange in Kiel
gelebt und bin häufiger in Berlin -, hier nicht gibt. Das
müssen nicht Autoren oder Künstler sein, aber Leute
mit bestimmten Interessen oder einem bestimmten Bildungsniveau,
aus denen ich normalerweise meine Freunde rekrutiere. Diese Schicht
ist auf dem Land oder in der Kleinstadt kaum vertreten. Wenn man
aufs Land zieht und ein geselliger Typ ist, könnte man also
Probleme bekommen. Aber ich kann gut allein sein, und daher hat
es mir wenig ausgemacht.
Das habe ich als den wichtigsten Unterschied empfunden. Und dass
die Hierarchien in der Kleinstadt viel ausgeprägter sind
als in der Großstadt - oder viel offensichtlicher. Als Autor
ist man ja nicht recht einzuordnen, es sei denn, man ist rasend
erfolgreich. Das ist bei mir nicht der Fall. Also wissen die Leute
mit mir nicht viel anzufangen und können mich nicht einsortieren.
: Also diese fest gefügten
Dorfstrukturen - das ist schon ein Unterschied zur Großstadt?
: Ja, die Offenheit hier
ist nicht gerade groß. Als Kind - ich bin zwei Kilometer
entfernt aufgewachsen - ist mir das nicht so aufgefallen. Da war
ich über meine Eltern im Dorf integriert, aber als ich wieder
hierhergezogen bin, hab ich bei meinen Kindern gemerkt, dass es
gar nicht einfach war. In Kiel sind sie von Haustür zu Haustür
gelaufen, rein, raus, kein Problem. Das geht hier nicht, da muss
man sich eine Woche vorher verabreden, dann klappt es vielleicht,
das ist sehr unflexibel. Für die Kinder fand ich das schwierig.
: Du hast dich trotzdem entschieden,
hier zu leben?
: Ich war damals mit
meiner Familie hergezogen, doch die Ehe ging auseinander, und
meine Frau ist mit den Kindern wieder nach Kiel zurück. Dann
hatte ich eine Freundin in Berlin und wollte dorthinziehen. Nur
ist es so, dass die Gegend hier nicht unbedingt boomt, und für
das Haus hätte ich deshalb kaum etwas bekommen. Also hab
ich mir gedacht: Du warst jahrelang unterwegs, mal in Berlin,
mal in München - du willst irgendwo ankommen. Dann hab ich
auch begonnen, mich hier wieder wohlzufühlen. Am Anfang
war das ein bisschen wie ein Rückschritt. Ich dachte: Du
gehst dorthin zurück, wo du hergekommen bist, wie schrecklich.
Man will ja immer größer, besser und so weiter, und
ich wollte eben lange nach Berlin, auch weil ich dort Freunde
habe, aber inzwischen ist mir das doch sehr entrückt.
: Das würde ich wahrscheinlich
auch so sehen, wenn ich wieder nach Ostfriesland aufs Dorf müsste.
Ich bin damals quasi geflohen ...
: Ja, anfangs kommt einem
das ein bisschen regressiv vor.
: Aber vielleicht kann man's
dann irgendwann. Und zum Arbeiten ist es bestimmt gut.
: Ja. Außerdem
ist es so, dass die Welt, an die man sich aus der Kindheit erinnert,
in dieser Form keinen Bestand mehr hat. Da hat sich viel verändert.
Es ist nicht mehr das, was ich kannte. Und die Leute von damals
sind fast alle weg. Ich bin wiedergekommen, aber die meisten sind
weggezogen. Als ich nach Kiel ging, haben die Kieler gesagt: "Ich
geh nicht aus Kiel weg." Das war mir völlig fremd, hier
ist jeder weggegangen. Und die Kieler - Wasser und so: Die wollten
alle bleiben. Aber inzwischen hab ich mich eingewöhnt, ich
mag die Landschaft und merke auch, dass ich gewissermaßen
meine Wurzeln hier habe, die ganze Familiengeschichte. Diese Landschaft
bedeutet mir viel. Und es liegt relativ günstig, nach Berlin
sind es anderthalb Stunden mit dem Zug, nach Hamburg genauso.
Man kann hier jederzeit raus.
: Es ist schon eher platt hier,
oder?
: Total platt! Es gibt
hier einen Berg, aber der ist nur hundert Meter hoch. Das ist
alles von den Gletschern geplättet. Es ist völlig unspektakulär,
sehr zersiedelt, von Straßen durchschnitten - das Gegenteil
von idyllisch. Aber das hab ich immer gemocht, denn so gibt's
viele Reibungsflächen. Es gibt nette Ecken, aber die muss
man sich suchen. Ich würde nicht in einer total idyllischen
Landschaft leben wollen, in Ostholstein zum Beispiel. Da bin ich
lieber hier und stolpere mal über einen Hochspannungsmast.
: Du magst diesen Kontrast
zwischen ländlich und technisch-industriell also?
: Genau, diese Reibung.
Ansonsten ähneln sich das Leben auf dem Land und das in der
Stadt. Durch die technischen Möglichkeiten hat sich viel
nivelliert, obwohl es vielleicht noch ländliche Gebiete in
Deutschland gibt, wo die alten Strukturen intakter sind.
Als Autor auf dem Land wird man in Deutschland merkwürdig
angeguckt. Man hat das Gefühl, man müsste eigentlich
in der Großstadt leben. Vor ein paar Jahren hat die Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung das Sommerloch mit einem Artikel darüber
gefüllt, dass Autoren angeblich wieder aufs Land ziehen.
Dazu gab's eine Deutschlandkarte, auf der die Wohnorte der Schriftsteller
eingezeichnet waren. Diese Fluktuation hat's aber immer gegeben,
hin und her.
Deutschland ist ja eher provinziell, darum wird das mit den Städten
so betont. Ich finde das schon speziell - in England oder in Amerika
leben so viele Künstler, auch wichtige, auf dem Land. Das
kratzt da keinen.
: Das Land sei "seinen
Klischees längst entwachsen", lässt du den Maler
Rudolf in Tiertage sagen - den Klischees von Rückständigkeit?
: Wenn ich mir Bilderbücher
für Kinder anschaue - ich habe zwei Söhne, aber sie
sind schon etwas älter -, dann wird da ein Bild vom Land
gezeichnet, das es nicht mehr gibt. Da sieht man tolle Bauernhöfe:
Für Kinder mag das nett sein, aber das entspricht in keiner
Weise der Realität, weil sich die Landwirtschaft völlig
verändert hat. Ich bin mal in einen Mähdrescher gestiegen,
in so einen neuen, und dachte: Was ist denn das? Das war so ein
Hightech-Teil mit Bildschirm. Früher saß mein Vater
vorn drauf ohne Kabine, setzte sich eine Brille auf und trackerte
übers Feld. Heute ist das Schneidwerk lasergelenkt. In der
Zeit war mal ein Fahrbericht über einen Claas-Mähdrescher.
Da wurde sehr schön deutlich, wie wenig der ländliche
Alltag noch den alten Vorstellungen entspricht. Es ist alles anders
geworden und ändert sich weiter mit den Biogasanlagen und
der Erzeugung von Bio-Brennstoffen. Die Landwirtschaft prägt
diese Region kaum noch. Es gibt nur noch wenige Bauern, jedenfalls
im Vergleich zu früher.
: Siehst du Zusammenhänge
zwischen der Provinz und deinem Schreiben oder deinen Themen?
: Durchaus. Provinz klingt
immer etwas heikel. Aber Tiertage habe ich bewusst in der
Provinz spielen lassen, obwohl fast alle Figuren auch in der Stadt
hätten leben können.
In diesem Roman wollte ich unter anderem darstellen, wie sich
die Provinz verändert hat, dass sie nicht mehr den Klischees
entspricht. Und warum sollte man einen Raum, der den größten
Teil Deutschlands ausmacht, nicht für die Literatur fruchtbar
machen? Das bietet sich an. Ich möchte das auch weiter tun.
Kann sein, dass ich mich im nächsten Buch wieder dieser Gegend
bediene, auch weil ich sie vor Augen habe - das ist ein großer
Vorteil.
: Und bei deinen anderen Romanen,
vor allem bei Lauf Jäger lauf?
: Der spielt ja in einer
montierten Kunstwelt, wie Langsamer Walzer. Diese Bücher
bestehen aus Landschaften oder Städten, die ich zusammengesetzt
habe. Tiertage ist mein erster Roman, der ein halbwegs
konkretes Setting hat, auch wenn es sich streng genommen nicht
um dieses Dorf handelt. Einheimische werden manche Lokalitäten
aber wiedererkennen.
: Wenn man Google Maps anklickt
und sich die Welt von oben anschaut, kann man den Baggersee aus
Tiertage erkennen.
: Wirklich?
: Man erkennt die Halbinsel,
die in den See ragt, den Hochspannungsmast darauf und sogar die
Hochspannungsleitungen.
: Im Ernst? Ich bin offenbar
doch ein bisschen hinterm Berg hier.
: Man erkennt auch den Hafen
am Mittellandkanal mit einem Schiff drin und kann sich vorstellen,
wie Mr. Allyours dort von seiner Lady Why abgefertigt worden ist
und geläutert zurück in seine Sasse hoppelt. Es ist
merkwürdig, Orte, von denen man aufgrund ihrer Beschreibung
bereits angenommen hat, dass es sie wirklich gibt, direkt ansteuern
zu können. Wenn man weiß, wo ein Schriftsteller wohnt,
kann man ihm quasi aus der Luft auflauern, um das Setting seiner
Bücher zu erkennen.
: Toll! Das wusste ich
nicht.
: In Stoppelbrand, deinem
zweiten Gedichtband, geht es auch viel ums Dorfleben und konkret
um die Landwirtschaft.
: Dieses Thema war in
Stoppelbrand sehr akut. Auch mein allererster Roman, den
ich nicht veröffentlicht habe - vierhundert Seiten, in fünf
Monaten runtergekloppt -, spielt hier und ist voll von meinen
landwirtschaftlichen Erfahrungen. Doch als ich fertig war, dachte
ich: Das ist nicht das, was du machen willst. Also habe ich Lauf
Jäger lauf geschrieben. Das Leben auf dem Land ist ein
Thema, das für mich wichtig bleiben wird - das ist mein Stoff,
das sind die Erfahrungen, die ich habe, und die gibt es heute
nicht mehr oft. Meine Söhne spielen nicht mehr auf dem Heuboden.
Da gehen viele sinnliche Erfahrungen verloren.
All die konkreten Erlebnisse mit Natur, mit Tieren, auf dem Feld,
die Gerüche - das ist ein großer Schatz für mich.
Und ich war stolz darauf, Sohn eines Bauern zu sein. Die Freunde
sind immer zu uns gekommen, wir hatten viel Platz - Ställe,
Haus, Wiese, Scheune.
: Auf dem Dorf zählen
Bauern noch.
: Meine Eltern gehören
noch zu dieser alten Generation - die fanden das nicht so toll,
glaube ich, da ging es mehr um sozialen Aufstieg, im Gegensatz
zu unserer Generation. Damals wurde uns auch das Plattdeutsch
ausgetrieben. In den Sechziger- und Siebzigerjahren galt das als
sozial minderwertig. Inzwischen gibt es ein Revival, aber damals
galt: bloß kein Plattdeutsch sprechen - sonst wurde man
gleich als einer erkannt, der vom Dorf kam.
: Wird hier auf dem Dorf noch
Platt gesprochen?
: Die älteren Leute
sprechen das vielleicht noch, aber die jüngeren nicht mehr.
: Das Sinnliche ist ja schon
ein Merkmal ländlicher Ästhetik. Ist das eine andere
Sichtweise auf die Welt? Sind das unmittelbare Erlebnisse, wie
man sie in der Großstadt eben nicht machen kann? Würdest
du sagen, das ist typisch?
: Ich glaube nicht, dass
das Großstadtleben weniger sinnlich ist. Dort hat man nur
andere Eindrücke. Und in der Landwirtschaft werden Natur
und Tiere nicht romantisch wahrgenommen. Der Umgang damit ist
rein sachlich, nüchtern und zweckmäßig. Jemand,
der in der Stadt lebt, mag das vielleicht ein bisschen idealisieren.
Aber selbst das könnten Klischees sein, die nicht richtig
greifen.
: Georg Simmel hat in seinem
Vortrag Die Großstädte und das Geistesleben
von 1903 das großstädtische Seelenleben, wie er es
nannte, vom ländlich-kleinstädtischen abgegrenzt. Das
Ländliche, schrieb er, sei geprägt von einem langsameren,
gewohnteren, fließenden Rhythmus des sinnlich-geistigen
Lebensbildes - im Gegensatz zum Großstädtischen, wo
es um Tempo, Vielfältigkeit der Eindrücke und Möglichkeiten,
Intellektualität gehe. Das Kleinstädtische sei mehr
aufs Gemüt gestimmt, lebe von gefühlsmäßigen
Beziehungen und dem ruhigen Gleichmaß. Kann man sagen, dass
diese Beschreibung zutrifft?
: Ich glaube schon. Hier
geht es ruhiger zu, was ich als wohltuend empfinde. Natürlich
sind neue kulturelle und künstlerische Entwicklungen meist
in Städten entstanden, weil es dort eine größere
Vielfalt und mehr intellektuelle Reibung gibt. Das ist einfach
so, da spielt das Land eher eine untergeordnete Rolle. Das mit
dem Gemüt klingt natürlich etwas klischeehaft, das würde
man heute wohl nicht mehr so sagen. Aber hier ist es sicher ruhiger
und ein bisschen einförmiger, auch von den Menschen her.
: Hat das Einfluss aufs Schreiben?
Würdest du auch in der Stadt übers Landleben schreiben?
: Ja, in Kiel habe ich
das getan. Mit Abstand klappt es manchmal sogar besser. Nostalgisch
war ich aber nie. Doch es ist auch ein Vorteil: Wenn man weiter
weg ist, hat man einen anderen Blick - obwohl der Roman Tiertage,
den ich hier geschrieben habe, das Ganze mit mehr Abstand betrachtet
als meine Gedichte, die meinen biografischen Erfahrungen viel
stärker verhaftet sind.
: Es wäre mal interessant,
dich zum Schreiben an verschiedene Orte zu setzen und die Resultate
zu vergleichen.
: Ich bin immer viel
allein gewesen. Ich treffe mich gern mit Leuten, aber ich bin
froh, wenn ich mein Ding machen kann, und letztendlich würde
ich wahrscheinlich auch in Berlin kaum anders leben und schreiben
als hier.
: Wir haben noch ein anderes
Zitat von Simmel, das auch zu Tiertage passt. Er schreibt,
die Veränderungen würden auf dem Land anders verarbeitet
als in der Stadt, wo die Leute - sagt er - schnell und rational
auf Veränderungen reagieren, weil sie gewöhnt sind,
viele Eindrücke zu verarbeiten, während auf dem Land,
wo das Gemüt sehr konservativ ist, Veränderungen immer
von Erschütterungen und "innerem Umgraben" begleitet
sind, von intensiven Reaktionen auf Veränderungen also.
: Hm, das finde ich doch
etwas veraltet. Natürlich gilt es hier auf dem Land als seltsam,
mit einer so merkwürdigen Sache wie dem Schreiben sein Geld
zu verdienen. Ich hatte in dieser Gegend mal eine Lesung, und
hinterher kam ein ehemaliger Freund meiner Eltern zu mir, auch
ein Bauer, zwei Söhne, einer im Alter meines Bruders, und
sagte: "Meine Söhne machen ja was Handfestes."
Als könnte man als Autor ohne Realitätssinn und Bodenhaftung
überleben.
Und Veränderungen - nach der Wende haben alle nach dem Wenderoman
gerufen, als ob Literatur so funktioniert. Dabei braucht das Zeit,
damit die Erfahrungen sich setzen. Natürlich werden da Romane
rausgehauen, aber das sind wohl keine Texte, die bleiben. Romane
brauchen Zeit. Das unterscheidet Literatur vom Journalismus. Als
Schriftsteller muss man sich Zeit lassen, das dauert fünf
Jahre oder zehn, und dann kommen diese Bücher auch. Insofern
ist also die Literatur das langsame Umgraben, würde ich sagen
- ob auf dem Land oder in der Stadt.
: Aber in Tiertage reagieren
die Figuren schon sehr intensiv, und darin steckt auch eine Art
Ursprünglichkeit. Die sind ja schon - wie die Hasen - recht
triebhaft zum Teil, auch sehr impulsiv, die Charaktere. Als Viktor
Mirandas Handy in den See wirft, zum Beispiel. Oder wie alle Männer
auf diese Frau fliegen ...
: Das würde ich
nicht so sehen. Das sind einfach Menschen, die in seelische Krisen
geraten. Kann natürlich sein, dass nicht jeder ein Handy
in den See pfeffert oder eine Teekanne aus dem Fenster wirft.
: Das macht Madsack.
: Stimmt, der wirft einen
Becher auf die Straße.
: Wenn du deine Figuren mal
durchgehst ...
: Ja, aber Choleriker
oder sehr impulsive Menschen ...
: ... gibt's auch in der Stadt,
aber bei dir doch häufiger mal.
: Ja, klar. Ich neige
selbst dazu.
: Siehst du dich in einer
literarischen Tradition? Das ländliche Setting, die Sprachexperimente,
die fantastischen Elemente - ich habe mir die Namen Arno Schmidt,
Frank Schulz und Dietmar Dath notiert. Oder siehst du dich eher
in einer älteren Tradition?
: Hm, schwierig. Ein
echtes Vorbild habe ich nicht. Ich habe ja über John Cowper
Powys promoviert und seine Bücher sehr geschätzt. Der
ist für mich immer ein Vorbild gewesen, aber vor allem hinsichtlich
seiner Komplexität und Vielschichtigkeit, die ich in dieser
Form noch nicht erreicht habe. Wenn man einen Roman wie Glastonbury
Romance nimmt: Da ist alles drin - Natur, Philosophie, alle
gesellschaftlichen Schichten, alle Denkrichtungen, alles wird
da ausgetestet. Eine solche Vielschichtigkeit und Komplexität
ist sicher ein Vorbild.
Von amerikanischer Literatur bin ich dagegen kaum geprägt.
Dazu habe ich komischerweise kaum einen Bezug - da haben mich
nur ein paar Lyriker interessiert. Jahrelang habe ich aber halb
vergessene deutsche Autoren gelesen, die zum Teil auch während
der Nazizeit publiziert haben, ohne Nazis zu sein: Horst Lange,
Elisabeth Langgässer, Ernst Kreuder - das hat mich lange
fasziniert.
Dann gibt es noch eine ganz andere Einflussquelle, nämlich
Comics. Das merkt man vielleicht an den Tieren in Tiertage oder
am Plastischen überhaupt. Ich wollte mal Comiczeichner werden
und hab jahrelang sehr viel gezeichnet. Daher kommt das Filmische,
etwa im Walzer, und weniger direkt vom Film. Eher aus dem
Comicmedium, das mich sehr gefesselt hat, weil dort so viele Sachen
verbunden werden: Zeichnen, Geschichten erzählen, Schnitttechnik,
Dialoge, alles Mögliche. Was Literatur angeht, habe ich immer
nach abseitigen Sachen gejagt - die haben mich immer interessiert.
Sogar von Ernst Wiechert habe ich manches gelesen. Das meiste
ist moralinsauer und ungenießbar, aber es gibt ein, zwei
gute Romane. Von Lange in Lauf Jäger lauf zum Beispiel
- diese Figur ist eine Parodie auf Wiecherts Das einfache Leben.
Da gibt es einen Offizier, der mit seiner Bibliothek nach Masuren
auf eine Insel zieht, um dort ein einfaches Leben als Fischer
zu führen und all seine Bücher zu lesen - völlig
absurd, eine Beschwörung der kaiserlichen Ständegesellschaft,
aber von großer suggestiver Kraft, gerade in den Schilderungen
der Natur. Und Arno Schmidt habe ich viel und gern gelesen.
: Du hast viel Literatur der
Dreißigerjahre gelesen.
: Ja, auch Friedo Lampe,
um noch ein Beispiel zu nennen.
: Ich habe mich in meiner
Dissertation auch mit den Dreißigern befasst - mit englischer
Lyrik, vor allem mit Stevie Smith.
: Die kenne ich nur aus
Anthologien.
: Die lohnt sich. Sie
hat auch gezeichnet und all ihre Gedichte mit Strichzeichnungen
illustriert.
: Das mache ich manchmal
in den Notizen zu meinen Romanen. Sonst gar nicht mehr.
: Und sie hat ihre Gedichte
singend vorgetragen. Muss ein Erlebnis gewesen sein.
: Die Lyrik ist vermutlich
immer noch die Königsdisziplin.
: Hast du da Vorlieben?
Oder liest du, was dir in die Hände fällt?
: Da sammle ich fast
alles. Vorlieben - ja, da haben mich einige am Anfang stark geprägt,
natürlich Huchel, Bobrowski, diese ganze bildstarke und metaphernreiche
Lyrik. Heute ist es ein bisschen anders. Ich bin inzwischen ein
großer Fan von Charles Simic, den ich sehr schätze
wegen seines wunderbaren, leicht ironischen Humors. Inzwischen
mag ich auch das Alltägliche sehr, anders als früher.
Ich schau in vieles rein, auch in neuere Sachen, die Lyrik der
kookbooks-Autoren zum Beispiel - da gibt es echte Perlen.
Im Frühjahr veröffentlicht S. Fischer einen Gedichtband
von mir. Meine anderen Lyrikbände, Lieblied was kommt
und Stoppelbrand, sind leider nicht mehr lieferbar. Als
die DVA von Random House gekauft wurde, ist da erst mal ausgemistet
worden. Ich hab von beiden Bänden einen Schwung gekauft,
und die Rechte sind an mich zurückgefallen. Die neuen Gedichte
sind allerdings erzählerischer und aus einem relativ großen
Zeitraum, aus zehn Jahren.
: Ich habe mir neulich
deine Dissertation über John Cowper Powys ausgeliehen und
fand die kursorische Lektüre sehr erhellend. Die Doktorarbeit
ist nicht selten das erste eigene Buch eines Schriftstellers,
und so ist es auch in deinem Fall. Auf Powys bin ich durch eine
lobende Erwähnung von Seiten Hans Henny Jahnns gestoßen,
der als Autor für dich sicher auch nicht unwichtig war. Ich
weiß ansonsten wenig über Powys, und seine Lebensphilosophie
war mir völlig unbekannt, aber ich finde es interessant,
dass du eine Doktorarbeit über diesen "Elementalismus"
geschrieben und zum Verfahren deiner Arbeit kurzerhand erklärt
hast, du wollest auf eine feste Begrifflichkeit und einen analytischen
Zugriff verzichten. Das hat mich beeindruckt, obwohl ich die Arbeit
nicht von vorn bis hinten gelesen habe.
: Das muss man auch nicht,
das ist Schnee von gestern.
: Da habe ich einen
anderen Eindruck. Es gibt ja Doktorarbeiten, denen man quälend
deutlich anmerkt, dass sie Eintrittskarten in die akademische
Welt sein sollen oder dass dort Obsessionen ihres Verfassers abgefeiert
werden. Deine Dissertation aber scheint mir eher eine Vergewisserung
deiner Berufung zum Schriftsteller zu sein, denn du stellst eine
unsystematische, widersprüchliche, in schwankender Begrifflichkeit
entwickelte Lebensphilosophie - also eine Privatmythologie - vor,
die vor allem das Ziel hat, eine fortwährende, spiralförmige
Selbstfindung und -erfindung zu feiern. Und der Umschlag ist auch
interessant. Ich vermute, er ist von dir gestaltet, nicht vom
Verlag.
: Das Foto jedenfalls
habe ich ausgesucht.
: Deswegen ist er so
interessant. Auf dem Bild sitzt ein Mann, vielleicht fünfzig
Jahre alt, sicher der Dichter, in Gedanken versunken in einer
eher unspektakulären Landschaft. Er wirkt in sich ruhend
- weder weise noch zufrieden, aber in der Landschaft verwurzelt
und doch auf der Suche. Ist das ein Wunschbild des noch unbekannten
Autors Ahrens, eines zudem, dem die Provinz eingeschrieben ist?
Wieso hast du dieses Foto genommen?
: Es schien mir gut zu
seinen Kerngedanken, zu seiner Lebensphilosophie zu passen, zu
der Versenkung in die Natur. Powys hat sonderbare Sachen gemacht,
Bäume umarmt, mit Steinen geredet. Ich hatte den Eindruck,
er sei da in einem Moment der Versenkung aufgenommen worden -
darum habe ich es ausgesucht.
Powys hat anfangs in New York gelebt, dann nördlich davon,
in Phudd Bottom, und am Ende ist er aus den USA nach Wales gezogen,
in ein Kaff in den Bergen, wo Schiefer abgebaut wurde, und hat
dort in einem Arbeiterhäuschen gelebt. Auf dem Foto ist er
fünfzig, sechzig, schätze ich. Ja, Powys hat mich wieder
zum Schreiben gebracht. Ich habe während des Studiums kaum
eigene Texte verfasst und erst im Laufe der Doktorarbeit wieder
angefangen, ernsthaft zu schreiben. Die Beschäftigung mit
Powys' Werk hat den Motor sozusagen wieder gezündet.
: Das wäre wahrscheinlich
nicht möglich gewesen, wenn es sich um eine klassische Doktorarbeit
gehandelt hätte. Deine Dissertation ist dagegen eine werkimmanente,
nachempfindende, sich auch persönlich tief auf den Gegenstand
einlassende Arbeit, die vermutlich auch dich verändert hat.
: In gewisser Weise schon.
Dieser immanente Ansatz, dieses Sich-Einlassen - das fand ich
immer wichtig. Ich hatte ja nie vor, an der Uni zu bleiben. Das
ist eine sehr essayistische Dissertation, aber mein Doktorvater
fand das völlig in Ordnung. Ja, das ist recht unwissenschaftlich,
das war mir manchmal sogar etwas peinlich später, ich hätte
das ideengeschichtlich alles besser einordnen müssen. Mir
ging es nur darum, da reinzugehen und das von innen aufzudröseln,
mir ging es also wirklich nur um Powys, nicht um irgendwelche
Kontexte. Da hätte man natürlich sehr viel machen können.
Diesen ganzen Eso-Boom zum Beispiel, den es heute gibt, gab es
ja damals schon. Aber ich wollte diese Lebensphilosophie für
mich selbst kapieren. Diese Bücher von Powys waren mir wichtig
und haben mir viel gegeben. Inzwischen finde ich es etwas mühsam,
Powys zu lesen.
In England gibt es zu jedem Schriftsteller eine Gesellschaft,
also auch eine Powys-Society. Deren Vorsitzender - ein Ex-Professor
aus Cambridge - hat mal gesagt, Powys habe die Erzählform
des neunzehnten Jahrhunderts dadurch zum Platzen gebracht, dass er sie
mit Inhalten des zwanzigsten Jahrhunderts gefüllt habe. Das ist eine
gute Beschreibung. Dieser langsame, schlendernde Stil - ich habe
gerade einen Roman von Saul Bellow neu übersetzt, und das
ist ähnlich: tausend Seiten, und er bleibt überall stehen,
jede Person, jedes Detail wird geschildert, das ist ein ganz anderes
Tempo als heutzutage. Das Erzähltempo heute ist völlig
anders, die Sprache ist ja auch schneller geworden. Ich hab nicht
immer die Geduld, denn es ist zu langsam, dazu diese ewige Introspektion,
die inneren Monologe. Aber damals war mir das wichtig, und Powys
hat mich ermutigt, das unsichere Dasein als Schriftsteller zu
wagen.
Das Hineinfühlen finde ich zentral. Das vermisse ich oft
bei der Literaturkritik - man packt von außen ein Raster
drauf und versucht nicht, die Bücher von innen heraus zu
verstehen. Das ist im Grunde eine Verhöhnung der Autoren.
: Der Gedichtband Stoppelbrand
und die drei Romane, die dann kommen, beschreiben eine Art Kreisbewegung
von der poetisch-realistischen Evokation des Lebens auf dem Lande
über mitunter sehr experimentell anmutende Erzählformen
in Lauf Jäger lauf und vor allem in Langsamer Walzer
zurück zum wieder eher realistischen Setting von Tiertage.
In Stoppelbrand gibt es einige Gedichte - vor allem den
Zyklus "Geschichten der Wiesen" -, die mit sparsamen Mitteln
sehr intensive Bilder des ländlichen Alltags beschwören.
Damit geht es los. Dann kommt in Lauf Jäger lauf die
ungemein sprachgewaltige Beschwörung einer magisch überhöhten,
ländlich abgeschiedenen Gutswelt, in der sich Gestalten der
Genreliteratur tummeln. Und dann geschieht etwas Merkwürdiges:
Das Ländliche wird zugunsten einer großstädtischen
Katastrophensituation verabschiedet, obwohl die Bedingungen des
Spiels gleichbleiben: Es sind wieder nur einige Leute notgedrungen
unterwegs, diesmal in einer Trümmersteppe.
Nach diesen beiden eher experimentellen Romanen gibt es nun einen
Rückbezug auf die Welt von Stoppelbrand: Tiertage
ist ein eher realistisch gehaltener Roman über das Leben
auf dem Lande. Waren also Lauf Jäger lauf und Langsamer
Walzer Experimente à la Powys, spiralförmige Suchbewegungen,
die zum Realismus zurückgeführt haben? Wie würdest
du deine Romane einschätzen? Diese Kreisbewegung dauerte
ja zehn Jahre, und in Stoppelbrand stehen auch Gedichte,
die noch älter sind.
: Hm, die Settings von
Lauf Jäger lauf und vom Walzer sind eher als
metaphorische Räume zu verstehen, gerade beim Walzer
- das sind eklektische Welten. Beim Walzer habe ich das,
was beim Jäger da war, ins Extrem getrieben und hatte
danach das Gefühl, das nicht mehr toppen, nur wiederholen
zu können. Mir war klar: Wenn ich das übertrumpfen will,
schreibe ich mich aus dem raus, was Literatur ist, dann wird's
noch abgedrehter, noch fantastischer, und das wollte ich nicht,
und ich wollte mich auch nicht wiederholen, sondern etwas anderes
machen, wollte weniger typenhafte, eher psychologische Charaktere
und auch konkretere Settings haben. Und ich wollte auf Knalleffekte
verzichten, was mir anfangs schwergefallen ist - ich habe diese
Schießereien aus dem Walzer wahnsinnig vermisst,
bis ich beim Herantasten an Tiertage gemerkt habe, dass
mir das Kleinteilige, das Detailschreiben, das Subtilere viel
Spaß macht. Das war eigentlich der Impuls, etwas anderes
zu probieren.
Daher habe ich mich von Langsamer Walzer und Lauf Jäger
lauf nicht ganz verabschiedet, aber etwas in der Form werde
ich vorerst nicht mehr machen. So was wie die Parallelhandlung
mit den sprechenden Hasen und Reihern, die in Tiertage
einen Tiermörder dingfest machen wollen, mach ich allerdings
auch nicht wieder - so was kann man nur einmal im Leben schreiben.
Ich weiß noch nicht genau, was als Nächstes kommt,
es wird aber vermutlich wieder ein handfesteres Setting sein.
In Tiertage wollte ich einen konkreten Hintergrund und
weniger Metaphorik haben. Der "wilde Mann", der ja sehr
vage bleibt, ist für mich eine eher symbolische Gestalt,
die für bestimmte Triebe steht. Aber Dinge dieser Art gibt
es in Tiertage viel, viel seltener als im Walzer.
Und dann wollte ich auch einen Roman in einem anderen Ton schreiben.
Ich schreibe schließlich für Leser, aber das hat nicht
wirklich hingehauen. Das war sehr bitter, weil Tiertage
eigentlich funktioniert - das merke ich bei Lesungen immer wieder.
Es ist ein Buch, das funktioniert, aber nicht recht durchgedrungen
ist. Es verkauft sich zwar nicht schlechter als viele Romane deutschsprachiger
Kollegen, aber enttäuschend war es trotzdem.
: Dass Tiertage kein
großer Erfolg wurde, ist beinahe unbegreiflich. Dass Langsamer
Walzer allerdings vielen Lesern Probleme gemacht hat, ist
nicht verwunderlich. Für diese Art Literatur muss man schon
ein Freak sein.
: Ja, das ist anarchisch
und sehr kompliziert, und alle laufen ständig rum. Das, was
in den Figuren innerlich los ist, ist die ganze Zeit auch außen
los: Zerstörung, Gewalt, Orientierungslosigkeit - das ist
sehr anarchisch, und ich kann verstehen, dass das nichts für
jeden ist. Das war vielen zu hart.
: Du hast den Tiertagen
ein Motto von Hans Jürgen von der Wense vorangestellt und
kommst im Roman zweimal auf ihn zu sprechen.
: Ja, den liebe ich sehr,
den habe ich erst spät entdeckt, den von der Wense. Die Briefausgabe
bei Zweitausendeins ist fantastisch, weil dieser Mann eine ungeheure Leidenschaft
hat. Das ist ein Wahnsinnssteinbruch, und das Tolle, was mich
auch an Powys erinnert - er erinnert mich ja in vieler Hinsicht
an Powys, auch wegen seines ständigen Herumwanderns zum Beispiel
-, das Tolle bei Wense ist, dass das Allerhöchste neben dem
Profansten steht. Er schreibt über Gott und im nächsten
Moment über seine kaputte Tasse, und beides hat die gleiche
Wichtigkeit für ihn und gehört zusammen. Wense ist jemand,
der einen förmlich überrollt mit seinen Interessen,
ein absoluter Steinbruch, gigantisch und teilweise richtig komisch.
Das ist bestimmt ein sehr schwieriger, vermutlich manisch-depressiver
Typ gewesen, und er ist - was ja auch passt - fast vergessen.
: Ein dialogischer Enthusiast.
Es gibt ja Enthusiasten genug, die monomanisch wüten, aber
das tut Wense nicht - schon deshalb nicht, weil er vor allem Briefe
schreibt.
: Ja, er hat immer kommuniziert
und seine Jünger um sich geschart. Das war ein sehr sozialer
Typ, trotz seiner Exzentrizität und seines eigenbrötlerischen
Daseins - das wird in seinen Briefen sehr deutlich. Er hat sich
um andere gekümmert, und zwar mit aufrichtigem Interesse.
Er war eine spannende Mischung, eine sehr widersprüchliche
Persönlichkeit. Für mein Schreiben hat er nicht so große
Bedeutung, aber ich finde ihn als Charakter und von seinem Horizont
her ungeheuer beeindruckend. Was der sich alles autodidaktisch
angeeignet hat! Was Raoul Schrott gemacht hat, Die Erfindung
der Poesie, hat Wense längst gemacht - und nicht mit
Interlinearversionen. Er hat die entlegensten Sprachen gelernt,
hat sie passiv beherrscht und konnte sie übersetzen.
: Im schönen Nachwort
zu den beiden Bänden ist die zentrale These, Wenses Briefwerk,
in dem der Enthusiasmus so reichlich strömt, sei ein großes
Werkverhinderungsritual und zugleich ein großes Textproduktionswerk
gewesen. Das finde ich sehr einleuchtend. Und das ist auch eine
sehr humane Art der Textproduktion, gerade weil sie dialogisch
ist.
Aber jetzt mal zu deinen Übersetzungen, die sehr diskret
und zurückgenommen wirken. Bei deiner Hugo-Hamilton-Übersetzung
zum Beispiel ist eine gewisse Strenge zu spüren. Sie ist
ganz und gar nicht kulinarisch, eher so, wie du jetzt dasitzt.
: Als Übersetzer
bin ich nicht in der Position des Autors und nehme mich da tatsächlich
sehr zurück.
: Du hast in den letzten zwei
Jahren ungemein viele, durchaus anspruchsvolle Bücher übersetzt
und obendrein noch Tiertage geschrieben - ein fast beängstigendes
Pensum.
: Ich bin jetzt auch
ausgepowert, das war ein bisschen viel. Ich habe aber immer parallel
geschrieben und übersetzt, das ist kein Problem. Schreiben
ist sozusagen die Kür, da bekommt man etwas zurück.
Das Übersetzen ist da mühsamer.
Und es ist ein hartes Brot. Man muss stundenlang mit voller Konzentration
arbeiten, was richtig Kraft kostet. Man muss immer ganz geistesgegenwärtig
sein bei dieser Arbeit, wie beim Schreiben, man muss voll da sein,
bei jedem Wort.
Übersetzen ist insofern schwieriger als das Schreiben, als
man von der Muttersprache ein Stück weit getrennt ist. Man
muss sich da Formulierungen, die einem normalerweise in die Feder
fließen, zum Teil hart erarbeiten oder merkt erst eine Woche
später, welchen Mist man da zusammengebastelt hat. Dass der
Umgang mit der eigenen Sprache beim Übersetzen so viel mittelbarer
ist, empfinde ich als die größte Herausforderung.
: Und wenn der Autor, den man
übersetzt, Manierismen verwendet, die im Englischen funktionieren
und im Deutschen nicht, muss man sich auch noch Umwege einfallen
lassen.
: Tja, das hatte ich
bei DBC Pierre. Also, ich mag Bunny und Blair sehr. Dieser
Roman ist überall verrissen worden - völlig zu unrecht.
Kaum ein Rezensent hat kapiert, dass man dieses Buch auf einer
symbolischen Ebene mitlesen muss. Ich hatte sogar den Eindruck,
dass diese Ebene gar nicht mehr wahrgenommen wird. Das ist schon
ein ziemlicher Verfall der Lesekultur, und das beim Roman, einem
der komplexesten Medien überhaupt.
Ich hab den Roman auf Englisch gelesen und war begeistert von
der Sprache, coole Formulierungen, endlich mal einer, der mit
Sprache arbeitet. Dann hab ich angefangen, das zu übersetzen,
und es hat oft keinen Sinn ergeben. Da waren Bilder drin ... wörtlich
übersetzt lautete eins: "Er lag in der Wanne, sein Körper
auf der braunen Emaille wie eine von Wellen zerflirrte weiße
Maus" - na gut, das kann man sich noch vorstellen, aber dann
kam: "Und die Erbse der Realität fiel auch nicht gerade
in seine Tasse." Was macht man damit? Ich hab's paraphrasiert.
Ich dachte: Das versteht niemand. Und damit muss man sich dann
rumplagen. Manchmal scheint es mit Pierre durchgegangen zu sein.
Im Englischen wird offenbar nicht lektoriert, und das ist für
Übersetzer ein großes Problem.
Allerdings halte ich mich nicht für klüger als den Autor
- im Zweifelsfall bin ich dem Original treu. Bei DBC Pierre hab
ich mir aber gesagt: Wenn ich alles so übersetze, wie es
dasteht, wird das Buch in der Luft zerrissen, und unlesbar ist
es auch. Also habe ich sehr vieles sehr behutsam interpretiert,
manche Bilder abgeschwächt, manche aufgelöst, aber das
Buch ist trotzdem auf Grund gelaufen. DBC Pierres Stil ist manieriert,
das kann ich nicht ändern - ich kann schließlich kein
neues Buch schreiben.
: Gestern hat Derk
mir noch eine Geschichte erzählt, die zu den impulsiven Charakteren
von Tiertage passt: Du sollst in Braunschweig einfach vor
einer Lesung abgehauen sein, weil dir zu wenig Leute da waren.
: Oh ja, da war ich sehr
gefrustet. Woher weißt du das?
: Steht im Internet.
: Im Ernst? Ach, da war
ich echt genervt. Ich hatte auch Lesungen mit fünfzig, sechzig
Leuten, aber vor der Lesung in Braunschweig war zwei oder drei
Mal tote Hose gewesen, und weil auch der Verkauf von Tiertage
nicht richtig anzog, war ich regelrecht demoralisiert. Ich stand
da und hab mit mir gekämpft. Und mein Lektor war extra gekommen
... Aber am Ende dachte ich: Du hast all die Jahre funktioniert,
jetzt funktionierst du mal nicht. Und da konnte ich's machen,
da konnte ich einfach ins Auto steigen und nach Hause fahren -
das hätte ich anderswo natürlich nicht tun können.
: Und das Gefühl hinterher?
Reue?
: Ja, man bereut Impulsivität
häufig, voreilige Bemerkungen, böse Briefe, die man
schreibt. Aber nee, das hab ich nicht wirklich bereut. Wenn es
mein erstes Buch gewesen wäre, aber es ist mein fünftes
... Und dann kommst du hin, und da sind die beiden Buchhändler
und fünf Angestellte und zwei zahlende Gäste. Da hatte
ich die Faxen dicke.
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