Donald Barthelme: 'Forty Stories' (1987)

Donald Barthelme: 'Sixty Stories' (1981)

Donald Barthelme: 'The Dead Father' (1975)

Donald Barthelme: 'Der tote Vater' (2007)

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Donald Barthelme
Bibliografie zu Donald Barthelme
Heide Ziegler

 
Donald Barthelme

Im Gespräch mit Heide Ziegler

Am Erker 20, Münster, Frühjahr 1989.

"Ironie ist immer eine Form der Selbstbefriedigung"

Heide Ziegler: Sie geben sich in Ihrer Prosa gleichermaßen kritisch gegenüber den Werten von Liberalismus, Konservatismus, Radikalismus oder jedweder anderen Position: Entweder werden alle diese Werte verspottet oder aber - in einer mehr oder weniger resignativen Haltung - ganz einfach hingenommen. Ich habe den Eindruck, dass Sie beispielsweise in einer Reihe von Erzählungen mehrere Arten von Werten nebeneinander existieren lassen - in "Der Wiener Opernball" etwa oder auch in "Florence Green ist 81 Jahre alt".

Donald Barthelme: Mir ist noch nicht ganz klar, was Sie mit "Liberalismus" meinen. Ich denke, wir sollten das zunächst klären, bevor ich mich dazu äußere, ob ich es für relevant halte oder nicht. Vielleicht sollte ich zum besseren Verständnis darauf hinweisen, dass es in den beiden von Ihnen angesprochenen Kurzgeschichten um Geräusche geht, und zwar um Geräusche in dem Sinne, dass es sich nicht um verständliche Zeichen handelt. Im Fernmeldewesen wird beispielsweise unterschieden zwischen einem Zeichen, das heißt einer verständlichen Botschaft, und dem durch atmosphärische Schwankungen oder Übertragungsstörungen verursachten Hintergrundrauschen. In beiden Erzählungen habe ich auf verschiedene Weise versucht, dieses Rauschen in Musik umzusetzen.

Heide Ziegler: Sie haben sich offensichtlich nicht darum bemüht, einen Harmonieeffekt zu erzielen.

Donald Barthelme: Gewiss nicht. Das ist Musik des späten zwanzigsten Jahrhunderts, und die besteht nun einmal aus Geräuschen. Wir sind dem den ganzen Tag über ausgesetzt, wenn wir in einer Großstadt leben. Bei Beethoven weitet sich uns die Brust; umgeben aber sind wir von einem Alltag voller Lärm.

Heide Ziegler: Aber steht die Wiedergabe von Alltagslärm nicht auch für eine Haltung, die bereit ist, jedwede Art von Dissonanz einfach hinzunehmen?

Donald Barthelme: Ich akzeptiere Dissonanz nicht, ich nehme sie lediglich wahr und schreibe darüber. Die größte Dissonanz in meinem Erwachsenenleben war der Vietnamkrieg, der von den Leuten auch nicht einfach hingenommen wurde. Grace Paley, die gleich gegenüber wohnte, wurde zu einer Heroin der Anti-Kriegs-Bewegung. Auch ich veröffentlichte damals eine Story mit dem Titel "Bericht", ungefähr 1968, von der ich hoffte, sie würde den Krieg auf magische Weise über Nacht beenden. Sie tat es nicht, obwohl es sich um eine Story mit eindeutig propagandistischem Einschlag handelt. Es gibt darin einen Typen, der mitten in der Story ein großes Schild hochhebt und verkündet: "Die Regierung tut Unrecht! Rührt euch! Schreitet ein!" Natürlich hat es nichts genützt. Aber vielleicht hat die Geschichte ja doch etwas bewegt, nur ein winziges Quäntchen zum Guten beigesteuert.

Heide Ziegler: Könnte es sein, dass jede Gesellschaftssatire im Kern vom Problem ihrer Folgenlosigkeit berührt ist? Denn um bissige Sozialsatire zu schreiben, braucht man als Kontrastfolie ein ideales Gegenbild, und eben dieses Idealbild neigt dazu, die Satire bereits von Anfang an zu unterlaufen.

Donald Barthelme: Gesellschaftssatire spielt keine große Rolle, weder in der Welt noch in dem, was ich mache – meine Denkweise ist eher ironisch. Mein Interesse gilt vornehmlich der Sprache und der Herstellung einer gewissen Art von Musik. Wenn ich ohne Wenn und Aber behaupten würde, Kannibalismus sei verwerflich, könnten Sie mir darin zustimmen? "Aber ja", würden Sie sagen, "im Großen und Ganzen ist es falsch, einen Menschen zu verspeisen". Nun, wie ich Ihnen sagte, ich habe eine Behauptung aufgestellt, die vernünftig und moralisch einwandfrei ist und der Sie nur zustimmen können. Aber ich habe Ihnen nichts mitgeteilt, das Sie nicht auch vorher schon gewusst hätten. Ich versuche nun in einen Bereich des Wissens vorzustoßen, der nicht genau in Worte zu fassen ist, sondern in der Weise zu verstehen ist, wie man Musik versteht. Nehmen wir ein Musikstück, das keine Programmmusik ist, keine beschreibende Musik, sagen wir Fontane di Roma. Sie können nicht genau sagen, was dieses Musikstück bezeichnet; auf der anderen Seite können Sie aber auch nicht behaupten, dass es bedeutungslos ist. Es hat schon eine Bedeutung und zwar eine sehr offenkundige, nur können Sie nicht genau festlegen, worin diese Bedeutung denn nun besteht, und vielleicht sollten Sie dies auch gar nicht. Genau das möchte ich auch mit meinem Schreiben erreichen.

Heide Ziegler: Sie sagten, Ihre Denkweise sei eher ironisch. Nun, in "Kierkegaard unfair zu Schlegel" gehen Sie ausführlich auf den Begriff der Ironie ein. Sie versuchen dort, wie mir scheint, das von Kierkegaard entwickelte Konzept der subjektiven Ironie infrage zu stellen. In Ihrem eigenen Werk scheint die Ironie eher die Rolle einer Defensiv-Strategie gegenüber der Umwelt zu übernehmen, als dass sie ein Mittel des Subjekts wäre, sich einen wenn auch negativ bestimmten Freiraum zu schaffen.

Donald Barthelme: Meine Wiedergabe von Kierkegaards Begriff der Ironie ist insoweit korrekt, wie ich namentlich aus seinem Werk Über den Begriff der Ironie zitiere. Ich glaube, über mein ganzes Werk sind tausende von kleinen Statements verstreut, die, wenn man sie alle untersuchen und aufaddieren würde ... Ich möchte keine gewichtigen moralischen Lehrsätze von mir geben. Rilke kann sagen: "Du musst dein Leben ändern". Vermutlich hat er sogar recht; ich wagte es nicht, ihm zu widersprechen. Aber ich kann einen so bedeutenden Satz nicht aussprechen. Den Einwand, dass mir eine solch große Behauptung bisher nur noch nicht gelungen ist, lasse ich noch gelten. Immerhin habe ich es erreicht oder mich zumindest darum bemüht, tausende von kleinen Behauptungen aufzustellen - die Schraube ein wenig in die Richtung anzuziehen, in der meiner Meinung nach das Gute liegt. Darin besteht mein Beitrag, selbst wenn all meine Bemühungen umsonst gewesen sein sollten. In der Erzählung "Kierkegaard unfair zu Schlegel" wird Ironie mit Masturbation gleichgesetzt, gleich zu Anfang schon, wo der Typ sagt: "Oft benutze ich das Mädchen im Zug." Das ist eine Masturbationsphantasie; aber es geht auch aus anderen Stellen der Erzählung hervor. Keinem der Kritiker ist es bislang aufgefallen. Ironie wird also mit Selbstbefriedigung gleichgesetzt. Bei den Dänen gibt es eine Redensart, die besagt, Selbstbefriedigung verhalte sich zum Beischlaf wie ein Imbiss am Hot-Dog-Stand zum Abendessen in einem guten Restaurant. Meine Vorstellung vom Sinn dieser Erzählung läuft insofern darauf hinaus, dass Ironie, im Großen und Ganzen betrachtet, ziemlich nutzlos ist. Dennoch gibt es diese ironische Denkweise, die du dir irgendwie angeeignet oder sonstwie zugelegt hast. Alles, was du schreibst, trägt ihren Stempel. Du kommst einfach nicht davon los. Manchmal kommt es zu einem regelrechten Aufbäumen gegen die Ironie. Davon handelt meine Erzählung.

Heide Ziegler: Wollen Sie damit sagen, das Subjekt kann mittels Ironie niemals frei werden - auch nicht im negativen Sinne frei?

Donald Barthelme: Ironie ist immer ein Schritt in Richtung Freiheit. Du versuchst, von irgendetwas in deiner Umgebung loszukommen, in der Regel von etwas, das dich auf irgendeine Art und Weise bedrängt. Nehmen wir an, du hast einen Auftritt in der Öffentlichkeit und stehst plötzlich im schwarzen Frack da. Du kommst dir in diesem Aufzug wie ein Idiot vor, wir nennen den Smoking deshalb auch "Affenanzug". Also machst du dir einen Spaß daraus, um dich von der ganzen Geschichte zu distanzieren. Du siehst dich an und sagst: "Das bin ich doch gar nicht. Ich trage diesen verrückten Anzug nicht. Mein eigentliches Ich verbringt neunundneunzig Prozent seiner Zeit in Jeans und T-Shirt. Ich verarsch' mich ja selbst, indem ich dieses absurde Kostüm trage." Du versuchst also, dich durch Scherze aus dieser lächerlichen Zwangslage zu befreien.

Heide Ziegler: In Ihrem ersten Roman Schneewittchen entwickelt Dan die Theorie, dass der "ausfüllende" oder "stopfende" Teil der Sprache eine "endlose" und eine "vermüllende" Qualität besitze. Die "vermüllende" Qualität resultiert aus der "Schwere" des sprachlichen "Füllmaterials"; das bedeutet aber, wenn ich Sie recht verstehe, dass die "vermüllende" Qualität der Sprache – die ja laufend zunimmt – schließlich selbst Wert und Bedeutung erhält. Als Folge dieses Prozesses wird die Sprache selbst ihrem Wesen nach ironisch. Würden Sie diesen Vorgang nun als ein ästhetisches oder ein ethisches Phänomen betrachten?

Donald Barthelme: Ich weiß nicht, ob ich im Sinne Ihrer Frage antworte, wenn ich etwas meiner Meinung nach sehr Offenkundiges sage: nämlich dass die Ironie von ihrem Ursprung her und im Grunde genommen schon immer eine Form der Verteidigung darstellt. Demnach muss man sich fragen: Eine Verteidigung gegen was? Ich glaube, es handelt sich um die Abwehr von unsinnigen Auflagen, die dir von anderen Leuten, die sich in dein Leben einmischen, gemacht werden. Wir haben in diesem Land beispielsweise eine sich Einkommenssteuerbehörde nennende Institution, die mit dem Einzug der Steuer beauftragt ist; nette Leute, gute Menschen, so eine Art Robin-Hood-Truppe im Auftrag der Regierung. Sie sind äußerst penibel, gut geschult und kennen ihre Zahlen genau. Gegenüber der Einkommenssteuerbehörde gibt es keine andere Verteidigungsmöglichkeit außer der Ironie, und die bewirkt in dem Fall nicht viel. Es ist so, als ob man mittels Ironie etwas gegen das Fernmeldeamt ausrichten wolle. Ironie ist bei denen nicht vorgesehen. Natürlich kann ein scharfer Verstand verletzend oder gar tödlich wirken. Aber ein gewitzter Kopf braucht zunächst einmal ein gewitztes Publikum. Wenn du vor einer Zuhörerschaft von Schafen stehst, sind Witz und Verstand wirkungslose Waffen. Der amerikanische Psychologe Gregory Bateson hat gesagt, Humor sei die wichtigste Alternative zur Psychose. Oder, um es mit den Worten des großen irischen Dichters Flann O'Brien zu sagen, "bei dieser Bemerkung winden sich die Maden vor Lachen im Gras". Das mag dir vorübergehend Befriedigung verschaffen, aber das Problem ist damit noch keineswegs aus der Welt geschafft. Es handelt sich lediglich um ein Fluchtventil. Niemandem ist damit wirklich geholfen, aber auf der anderen Seite ist es einfach eine Art notwendiger Verteidigungsmechanismus.

Heide Ziegler: Könnte man sagen, dass Sie die konkrete Erfahrung der abstrakten Bedeutung vorziehen? In Ihrer Erzählung "Der Ballon" beispielsweise wird einerseits gesagt, es handle sich bei dem Ballon um eine "spontane autobiografische Enthüllung" des Ich-Erzählers, der ihn mitten im Zentrum von Manhattan aufbläst und verankert, um einen subjektiven Ausgleich für seine vorübergehende Einsamkeit zu schaffen. Andererseits bezeichnet der Ballon auch eine objektive Realität, die nicht zu übersehen ist, denn "im Augenblick gab es nur diesen einen Ballon, der in seiner konkreten Einzigartigkeit dort hing." Da der Ballon subjektive und objektive Wirklichkeiten widerspiegelt, das heißt unterschiedliche Formen von Wirklichkeit umfasst, lässt sich seine Bedeutung nicht eindeutig festlegen. Aber er kann als konkretes Phänomen unmittelbar erfahren werden. Könnte man sagen, dass dieser Gedanke, die Welt könne nur durch den direkten und spontanen Zugriff des Einzelnen erfasst und bewältigt werden, sich wie ein roter Faden durch Ihre Schriften hindurchzieht? Und ließe sich weiter folgern, dass der Vorzug, den Sie Kurzgeschichten vor Romanen geben, ebenfalls von diesem Gedanken herrührt?

Donald Barthelme: Ich weiß nicht so recht, wie ich darauf antworten soll ... Schauen Sie doch bitte einmal hier herüber und sehen Sie sich dieses Stillleben des amerikanischen Künstlers William Bailey an, das unmittelbar auf die Stillleben des italienischen Malers Morandi verweist. Bailey ist noch ein junger Mann. Der Italiener Morandi ist bereits ziemlich alt und hat sein Leben lang Flaschen gemalt. Morandi ist wunderbar, aber auch Bailey ist bereits ziemlich vollkommen. Es gibt etwas in diesem Bild, das mich dazu bewog, es mir an die Wand zu hängen. Sie mögen sagen, dass mit der Farbe eher spärlich umgegangen wurde, dass es nicht gerade ein Feuerwerk der Farben ist. Nun, die Farbgebung ist in der Tat dezent, man könnte sogar sagen, das Bild ist ziemlich düster. Dennoch mag ich es sehr. Ich kann es tagelang betrachten. Was hat das nun alles mit Ihrer Frage zu tun? Ich denke, es erläutert den Gedanken des Maßhaltens, die Arbeit an kleinen Dingen. Kurzgeschichten sind kleine Dinge mit sehr engen Grenzen. Eine Kurzgeschichte ist in meinen Augen wie ein kleines Gemälde im Vergleich zur Sixtinischen Kapelle, die man als bildnerisches Äquivalent zum Roman bezeichnen könnte. Ich mag solche kleinen Skizzen, Modellstudien, wie die Maler sagen. Jack Barth schreibt Bücher von über tausend Seiten Umfang, die ich sehr bewundere. Aber für mich ist das nichts; ich habe es nie auf zweihundert Seiten gebracht. Der Grund dafür liegt vielleicht darin, dass ich alles komprimiere, oder vielleicht befinde ich mich immer noch in der Phase der Vorbereitung, wer weiß? Aber ich habe einfach kein Vertrauen in große Leinwände und weiß nicht, wie ich sie ausfüllen könnte.

Heide Ziegler: Ja, ich glaube zu verstehen, warum Sie die Skizze mögen. Hängt diese Vorliebe nicht auch mit der Vorstellung zusammen, dass ein seitenstarker Roman nicht nur einen Handlungszusammenhang und einzelne Charaktere entwickeln, sondern auch ein zugrunde liegendes Konzept, einen Leitgedanken ausbreiten muss? Was ich zu begreifen suche oder als Frage formulieren möchte, ist, ob Sie vielleicht skeptisch gegenüber Konzepten und Argumentationsketten eingestellt sind und stattdessen spontane Reaktionen bevorzugen.

Donald Barthelme: Soll ich Ihnen verraten, womit ich gerade beschäftigt bin? Ich arbeite an einem Roman, dessen zentrales Thema Angst ist. Der Versuch, Angst zu verstehen. Wie Sie wissen, spielt Furcht in unserem Leben leider eine viel zu große Rolle. Ich versuche herauszufinden, wie Furcht entsteht, ich versuche, den Wurzeln des Problems nachzuspüren. Denn Angst ist ein sehr interessantes, aber auch ein sehr unangenehmes Thema. Die Leute wollen sich nicht mit der Angst auseinandersetzen, sie wollen nichts davon hören. Es gibt sehr wenige Untersuchungen zu diesem Thema. Wenn Sie die psychologische oder andere Literatur durchforsten, werden Sie nichts darüber finden. Über die Angst ist verdammt wenig in Erfahrung zu bringen. Kierkegaard trägt ein wenig zum Thema bei.

Heide Ziegler: Ich hatte den Eindruck, dass Furcht auch der Hauptgedanke von Am Boden zerstört ist, Furcht vor der Notwendigkeit und der gleichzeitig empfundenen Unfähigkeit, sein eigenes Selbst zu finden und zu beschreiben. In "Der Aufstieg des Kapitalismus" sagen Sie beispielsweise, "Selbstverwirklichung lässt sich nicht mittels fremder Grundvorstellungen erreichen", wohingegen der Protagonist in "Daumier" vergeblich versucht, das Konzept eines Ersatz-Ich als einen Schutzwall gegen die Zerbrechlichkeit des Egos aufzurichten. Die fragilste Position scheint mir jedoch die des Künstlers zu sein, dessen Selbstverwirklichung, wie Sie in "Der Sandmannn" selbst sagen, ständig daran scheitert, das, was er intuitiv fühlt, nicht realisieren zu können.

Donald Barthelme: Der Begriff "Selbstverwirklichung", um mit diesem Punkt zu beginnen, ist lediglich ein Verhohnepipeln des soziologischen Jargons. Letztlich besagt er doch nichts anderes, als dass du dir nicht einreden kannst, dein Partner werde dich schon retten, wenn du nur genügend in ihn investierst. Dein Partner wird nicht einmal sich selbst retten; niemand kann einen anderen vor dem Zusammenbruch bewahren. Wie lautete noch der zweite Teil Ihrer Frage?

Heide Ziegler: Im Grunde habe ich noch zwei weitere Fragen. Zum einen steht hinter der Kurzgeschichte "Daumier" der Gedanke, man könne die Wünsche des Egos im Zaum halten, wenn man sich bewusst wie eine fremde Person betrachte?

Donald Barthelme: Der Grundgedanke lautet, dass das Selbst unersättlich ist; ich glaube, es ist ein einziger Mund, ein riesiger Schlund. Das Selbst macht niemals Pause. Ihm kann gar nicht oft genug gesagt werden "Du bist ein artiges Kind, Sie sind ein guter Mensch, Sie sind eine bezaubernd schöne Frau, ein begehrenswerter Mann, etc." Es kann nie genug Lob bekommen. Der amerikanische Schriftsteller James Purdy hat einmal gesagt: "Es gibt zwei Dinge, die ich schätze - Lob und Bestätigung." Ich stimme da vollkommen zu. Das hungrige und unersättliche Selbst verlangt stets nach Lob und Aufmunterung.

Heide Ziegler: Und wo befindet sich der Künstler in diesem Kampf um Selbstverwirklichung, zumal er, so wie ich das sehe, nicht allein für sich selbst, sondern auch für sein Werk verantwortlich ist?

Donald Barthelme: In der Erzählung "Der Sandmann" heißt es an einer Steile, der Künstler könne nur scheitern. Er scheitert einmal und noch einmal und scheitert immer wieder. Doch er vergisst es, das zu tun, von dem er weiß, dass es zu schaffen ist. Auch großartige Leistungen sind letztendlich Niederlagen. Sogar Shakespeare war als Künstler ein Versager, denn der Definition nach steht über jedem Erfolg ein noch größerer Erfolg.

Heide Ziegler: Das mag dann zutreffen, wenn man die Leistung des Künstlers an hohen Idealen misst. Aber man könnte als Einwand vorbringen, dass der Künstler sich selbst sein Maß geben muss - und zwar eines, dem er gerecht werden kann - und dass die Richtschnur im Bereich des Dramas nicht so hoch liegen würde, wenn es einen Shakespeare nie gegeben hätte.

Donald Barthelme: Ich bin mir sicher, Shakespeare wusste, dass er seine Sache recht gut gemacht hatte - nicht schlecht jedenfalls, aber auch nicht das absolute Nonplusultra. Wir aber schauen auf Shakespeare und sagen: "Mein Gott, nie könnte ich etwas schaffen, das sich mit Shakespeare vergleichen ließe." Das ist natürlich richtig, wir können die Leistung Shakespeares nicht wiederholen. Wenn ich in der Lage wäre, das zu tun, was ich für das Höchste halte, dann würde ich Gedichte schreiben. Aber ich bringe es nun einmal nicht fertig, Lyrik zu schreiben. Ich kann mir zum Beispiel Blake vornehmen und sagen: "Oh je, ich wünschte, ich könnte so schreiben." Anstatt aber Blake nachzuahmen, könnte ich auch ein wenig von ihm stehlen. Wie hat Michelangelo doch so treffend gesagt: "Wo ich etwas stehle, lasse ich ein Messer zurück." Er wusste, wie man stiehlt. Mein Vater, der von Beruf Architekt war, gab mir den Rat: "Sieh dich in der Welt um und klau nur fleißig, aber verbessere das, was du stiehlst." Er erklärte seinen Studenten, was Stehlen aus der Perspektive des Architekten bedeutet: "Nehmt einzelne Details und reduziert sie auf ihren Kern - Corbu oder Mies oder Neutra - aber versucht stets, es noch besser als diese Herren zu machen." Anderenfalls hat Stehlen ganz einfach keinen Sinn.

Heide Ziegler: Ist damit nicht aber auch gesagt, dass einige Künstler zumindest nicht ganz so große Versager sind wie andere? Oder um es anders auszudrücken: dass subjektive Niederlagen nicht notwendigerweise auch ein objektives Scheitern des Künstlers bedeuten? Objektiv betrachtet mag er Großartiges leisten und ein hervorragender Künstler sein und sich dennoch als ein größerer Versager vorkommen, als weniger bedeutende Künstler es von sich sagen würden.

Donald Barthelme: Wie traurig dies auch ist, es ist ein Stück unseres Lebens. Harold Rosenberg hat zum Beispiel behauptet, das Interessanteste an Cézanne sei Cézannes Angst. Er sieht nichts als Angst in Cézanne. Auch ich kann mir Werke vorstellen, die jenseits meiner Möglichkeiten liegen. Gerade so wie in dem philosophischen Satz: "Ich träume von einer paradiesischen Insel, die schöner ist, als ich es mir vorstellen kann." Ich denke, das beschreibt die Situation sehr treffend.

Übersetzt aus dem Englischen von Georg Deggerich.