Ror Wolf: Mehrere Männer

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Ror Wolf

 
Ror Wolf

Im Gespräch mit Joachim Feldmann und Rudolf Gier

Am Erker 19, Münster 1988 - auch als Download im doc-Format zu lesen.

"Das ist eigentlich alles."

Am Erker: In einem Essay für die Literaturzeitschrift Akzente haben Sie Ihre Schreibvoraussetzungen wie folgt beschrieben: "Keine raunenden Botschaften, keine Ideologien, denen man zunicken könnte, keine dampfenden Bedeutungen, ... aber: Spiel. Heckmeck, Hokuspokus, Burleske, Wortakrobatik, Spaß. Spaß, der freilich an jeder Stelle umschlagen kann in Entsetzen." Dieses Umschlagen trifft sicher für Pilzer und Pelzer zu, wo komische Begebenheiten plötzlich von grausamen Vorstellungen abgelöst werden. Für Ihre neueren Texte Mehrere Männer passt diese Charakterisierung nicht mehr so gut. Diese Geschichten sind ja eher melancholisch und oft gar nicht so spaßig.

Wolf: Bedenken Sie, dass der Essay 1967 geschrieben wurde. Inzwischen hat sich nicht nur der Autor, sondern auch die Literatur und die Art zu schreiben weiterentwickelt. Im Prinzip bin ich mit dem Aufsatz noch einverstanden, und ich würde vieles heute nicht anders sagen. Aber gerade diese eine Stelle würde ich umformulieren. Ich weiß ungefähr, wie sie zustandegekommen ist. 1967 gab es diese Bedeutungshuberei in der Literatur. Es wurde spaßlos und tiefernst, Robert Gernhardt würde sagen: ernstelnd, geschrieben. Und die Ernstler waren nicht nur in der Überzahl, sie hatten auch die Macht. Gegen diese sakrale Literaturauffassung richtet sich die Textstelle. Inzwischen hat sich alles zweimal gedreht, wir sind schon fast wieder da, beinahe an der gleichen Stelle. Aber gerade deswegen würde ich es anders formulieren, viel bösartiger.

Am Erker: Ihre Texte wirken sehr collagenhaft: Haben Sie die einzelnen Partikel im Kopf, oder arbeiten Sie direkt mit fremden Texten?

Wolf: Es kommt beides vor. Es gibt Fälle, da kann ich eine Geschichte aus dem Kopf heraus schreiben, sozusagen in einem Zug. Aber das geschieht selten. In der Regel arbeite ich sehr lange an einem Text. Es kommt vor, dass ich ihn eine Weile liegen lasse; wenn ich ihn später überprüfe, sehe ich, dass es Unfertigkeiten gibt und dünne Stellen. - Mir geht es ja auch um Sprachbeobachtung und Sprachbearbeitung. Und das sind Abläufe, die nicht nur beim Schreiben stattfinden, sondern eigentlich ununterbrochen. Der Text ist sozusagen das Endergebnis eines sehr langen Prozesses. Mit fremden Texten arbeite ich überhaupt nicht. Ich arbeite oft mit vorgefundenem Material, aber das ist alles durch meinen Kopf gegangen und verändert worden, es ist kein fremder Text mehr.

Am Erker: Einige Männergeschichten habe ich schon in älteren Zeitschriften entdeckt. Haben sich diese Texte so im Laufe der Zeit zusammengruppiert?

Wolf: Ja. Diese Männergeschichten sind in Schüben entstanden, seit den sechziger Jahren. Und zwar neben meinen romanartigen Büchern. - Ein Roman braucht bis zur Fertigstellung schließlich mehrere Jahre. Und da taucht gelegentlich so etwas wie Resignation auf, so ein Gefühl: Ich kann nicht mehr, Schluss jetzt. - Also muss man die Taktik wechseln. Ich mache dann eben Bildcollagen oder ganz kleine, ganz kurze Prosastücke. Da kommt man dann endlich mal an den Punkt, wo man sich sagen kann: Das ist ein fertiges Produkt. Das kann so bleiben. Das kann an die Öffentlichkeit. - Auf diese Weise sind bis heute etwa hundertfünfzig Männergeschichten entstanden. - Natürlich besteht die Gefahr, dass man sich wiederholt, dass eine Form ausleiert oder leerdreht. Also: Man sollte nicht zu viele auf einmal davon machen. Und, an die Leser gerichtet: Man sollte nicht zu viele davon zu rasch hintereinander lesen. Ich meine, jede dieser kleinen Geschichten braucht etwas Platz für sich selbst. Der Leser sollte ihnen diesen Platz geben. Es wäre unklug, alles auf einmal in sich hineinzulöffeln, es handelt sich schließlich nicht um Kriminalromane, wo man so schnell wie möglich erfahren will, wer der Mörder ist. - Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich mag Kriminalromane.

Am Erker: Was die Sprachbeobachtung angeht, mir ist aufgefallen, dass die Sprachhülsen, mit denen die Männergeschichten oft beginnen, wie "Ein Mann, der schon bessere Tage gesehen hatte", sowohl aus dem alltäglichen Sprachgebrauch wie aus der Literatur stammen. Teilweise erinnern solche Sätze an Zeitungsmeldungen.

Wolf: Das ist richtig. Vorgefundenes Material spielt oft eine Rolle bei mir. Fundstücke, die man überall entdecken kann. An Zeitungskiosken, in Bahnhöfen, in Caféhäusern: überall. Es kommt nur darauf an, wie man mit diesen Fundstücken umgeht, wie man sie verarbeitet. Am Ende sind sie dann etwas anderes als Fundstücke. Sie sind durch den Kopf des Autors hindurchgewandert, und der Autor hat sie verwandelt. Das gehört übrigens zu dem von mir behaupteten Prinzip "Sprachbeobachtung", ich könnte es erweitern: "Menschenbeobachtung" - oder "Umweltbeobachtung".
Ich mache also, wie jeder andere auch, unablässig Entdeckungen. Aber ich versuche, diese Entdeckungen, das ist oft nur ein einziger Satz, der mir einfällt oder auffällt, eine einzige Bewegung, eine Geste, ein winziges Detail festzuhalten. Dazu sind Hilfsmittel nötig, die einfachsten Hilfsmittel sind Zettel und Bleistift. Also: Ich notiere mir den Fall. Wenn einer aber nun unablässig Entdeckungen macht und sich diese Entdeckungen notiert, hat er bald einen fürchterlichen Haufen Material um sich, völlig unübersichtlich, praktisch unverwendbar. Es ist ausgeschlossen, damit zu arbeiten. - Also muss er sich ein Prinzip ausdenken, mit dessen Hilfe er arbeiten kann. Ein guter Satz nützt nur dann etwas, wenn man ihn im richtigen Augenblick zur Verfügung hat. Man muss wissen, wo er steckt. Nachdem mir sehr viele gute Satze verloren gegangen sind, habe ich mir methodisch einiges einfallen lassen müssen. Das Gesuchte muss während des Arbeitsprozesses so schnell wie möglich auffindbar sein. Eine Kartei ist da nicht übel. - Es passiert übrigens oft, dass man am Ende einen viel besseren Satz findet, einen viel besseren Anfang, einen viel besseren Schluss. Aber das ist eben das Spielerische, das in dieser Methode steckt. Man kommt oft an einem ganz anderen Punkt an.

Am Erker: Noch mal zu den Männergeschichten. Verblüffend fand ich, dass die Geschichten nicht zu Ende erzählt werden.

Wolf: Zu Ende erzählt werden sie schon. Es ist eben nur nicht das erwartete Ende, das gewohnte Ende. Solche trockenen Schlüsse reizen mich, solche fast abgehackten Entwicklungen. Das ist alles wie im Leben auch: so eine Art von plötzlicher Bodenlosigkeit.
Man tritt auf einmal ins Leere. Ich halte das für ein Stück Realität. Also für Realismus! - Die hübsch zu Ende erzählten Familien-Geschichten haben mich nie sonderlich interessiert. Als Leser nicht und als Autor erst recht nicht.

Am Erker: Ähnliche Texte gibt es bei Helmut Heißenbüttel und Daniil Charms.

Wolf: Das ist sicher kein Zufall. Es gibt eben wunderliche Autorenverwandtschaften. Ich liebe diese kleinen Geschichten von Charms sehr, aber ich habe sie erst kennen gelernt, als ich schon eine ganze Reihe Männergeschichten geschrieben hatte. Heißenbüttels Arbeit verfolge ich seit den fünfziger Jahren. Heißenbüttel kennt meine Arbeiten auch, das behaupte ich einfach mal so. Auch hier gibt es sicherlich Ähnlichkeiten. Aber da hat keiner vom anderen abgeschrieben. Eine gegenseitige Beeinflussung ist etwas ganz Natürliches, die findet nicht nur in der Literatur statt. Es gibt einfach eine gemeinsame Tradition und eine ziemlich schwer erklärbare Zuneigung zu etwas. Diese kurzen Geschichten, von denen wir reden, haben Robert Walser und Franz Kafka auch geschrieben, und vor ihnen Hebel, und bei Kleist gibt es ein paar Anekdoten, die ich wunderbar komisch finde. - Kafka, Robert Walser, das sind Autoren, die ich verehre, ich fühle mich in dieser Tradition übrigens recht wohl. - Und auf der anderen Seite gibt es Autoren, über deren Bedeutung ich mir zwar im Klaren bin, die aber keine Leidenschaft ausgelöst haben bei mir, ich habe in ihren Büchern herumgelesen und bin ganz kalt geblieben. Wenn ich Robert Walser lese, kommt regelmäßig so ein Augenblick des Entzückens, des Staunens über diese Vollkommenheit, diese scheinbare Mühelosigkeit und Schwerelosigkeit.

Am Erker: Was lesen Sie denn so an neuerer Literatur?

Wolf: Wenn sich einer den ganzen Tag über mit der Herstellung von Literatur beschäftigt, bleibt nicht mehr viel Zeit zum Lesen. Ich habe früher sehr viel gelesen. Also, ich bin nicht gerade unbelesen. Aber heute: Was soll ich machen, es gibt so viele Beschäftigungen. Gut, ich lese Henscheid, Gernhardt, Widmer, Bernhard, Piwitt, Jürgen Becker, Ludwig Harig, ich halte sehr viel von Brigitte Kronauer; diese Reihe könnte ich leicht erweitern. Aber von den ganz Jungen kenne ich eigentlich nur die Namen. Das tut mir zwar leid, aber der Fall ist nicht zu lösen. - Ein schlechtes Gewissen muss ich da, glaube ich, gar nicht haben. Es gibt Literaturkritiker, die in der Öffentlichkeit herumdonnern - die lesen so gut wie nichts. Die verachten lediglich die Literatur.

Am Erker: Während Ihrer Studienzeit waren Sie Kulturredakteur bei der Frankfurter Studentenzeitschrift Diskus ...

Wolf: Das war eine wichtige Zeit, und sie war sogar amüsant. Die Studentenzeitungen waren damals, in den fünfziger und frühen sechziger Jahren, etwa das, was die Stadtzeitungen heute sind.

Am Erker: Mich interessiert in diesem Zusammenhang vor allem die Frage Ihres Debüts als Autor.

Wolf: Ich habe in Frankfurt studiert und bin 1957 zum Diskus gekommen. Ich hatte ein paar Geschichten geschrieben, sie der Redaktion geschickt, wie das so ist, und man hat sie gedruckt. Und honoriert! Dann bin ich Diskus-Redakteur geworden, Feuilleton-Redakteur, sogar mit einem hübschen kleinen monatlichen Honorar von ich glaube hundertzwanzig Mark, das war eine ganze Menge. Ich muss dazu sagen: Ich war damals ganz mittellos, aus der DDR gekommen, keine Verwandten in der Bundesrepublik, und bis zu diesem Punkt hatte ich meinen sogenannten Lebensunterhalt mit den üblichen Studenten-Jobs verdient. Und hier fielen nun plötzlich literarisches Interesse und Geldverdienen zusammen. Spaß kam auch noch dazu. Und schließlich das Interesse von höherer Stelle. Walter Höllerer beispielsweise, bei dem ich damals studierte; er war nicht nur der Herausgeber der Literaturzeitschrift Akzente, er war auch Diskus-Leser. Was lag näher, als ihm eine Geschichte anzubieten. Ich habe das getan, es war eine Vorarbeit zu meinem ersten Roman, er hat sie veröffentlicht. Immerhin schrieben mir nach dieser Veröffentlichung drei ziemlich renommierte Verlage und fragten an, ob ich etwas Größeres hätte. Das war der zweite Schritt. 1962 kam ich dann zu Suhrkamp, mit einer etwas längeren Vorarbeit zu meinem ersten Roman. Und schließlich erschien dieser erste Roman tatsächlich 1964 bei Suhrkamp. Das war der dritte Schritt. Der Roman ist schlecht verkauft worden, wie das halt so ist bei Erstlingsbüchern, aber es gab eine ganz erfreuliche Resonanz in der Presse: Also jedenfalls habe ich das Schreiben nicht sofort wieder aufgegeben.

Am Erker: Ein Forum wie die damaligen Akzente gibt es ja heute leider nicht mehr.

Wolf: Ich habe da keinen Überblick mehr. Jedenfalls waren die Akzente damals sehr wichtig für die Literaturliebhaber. Dort war sozusagen der Kern der zeitgenössischen Literatur. Wenn man da etwas veröffentlicht hatte, bildete man sich ein, ein bisschen dazuzugehören. Dass die Schwierigkeiten, dass die eigentlichen Schwierigkeiten erst danach anfingen, das wusste ich natürlich noch nicht.

Am Erker: Sie sind inzwischen bei zwei Verlagen, Haffmans und Luchterhand. Wie ist es dazu gekommen?

Wolf: Im Moment bin ich sogar bei vier Verlagen. Aber das wird sich ändern: Luchterhand und Haffmans sind Verlage, die sich in meinem Fall ausgezeichnet ergänzen. Ich war bis 1980 Suhrkamp-Autor und bin - ohne Kontakt zu einem anderen Verlag zu haben - eines Tages weggegangen. Es gab eine Reihe von Gründen, etwas Übermut war auch dabei. Es ist mir dann ein paar Jahre ziemlich schlecht gegangen. Mein nächster Verlag ging, kurz nachdem mein erstes Buch dort erschienen war, in Konkurs. Es war nicht sehr spaßig. Zumal ich ja ein Autor bin, der versucht, vom Schreiben zu leben. - Immerhin blieb das Hörspiel. Das Hörspielmachen ist ja im Gegensatz zum Bücherschreiben eine recht gut bezahlte Tätigkeit.

Am Erker: Der Rundfunk ist für viele Autoren eine Art Existenzsicherung. Schließlich gibt es nach vorsichtigen Schätzungen nur etwa zweitausend Leute in der Bundesrepublik, die sich für moderne Literatur interessieren, das heißt entsprechend Bücher kaufen.

Wolf: Es sind ungefähr dreitausend, davon kann man ausgehen. Bei meinen Fußballbüchern waren es allerdings erheblich mehr. Als Folge des populären Themas: Ich habe damit auch andere Leserschichten erreicht.

Am Erker: Interessieren Sie sich denn wirklich für Fußball?

Wolf: Ich habe zwar nie Fußball gespielt. Aber ich habe mich jahrelang wie ein regelrechter Fan verhalten. Und ich war ein sehr kundiger Fan. Man muss ja, wenn man auf dem Gelände ernst genommen werden will, Daten, Fakten, Namen und so weiter abrufbereit im Kopf haben. Und ich war, ehrlich gesagt, damals auch ein leidenschaftlicher Fan. Die Voraussetzungen waren allerdings auch günstiger als heute. Ich hatte eine Art künstlichen Entzündungsprozess hergestellt, ich bin mit Aufnahmegeräten in Fan-Bussen mitgefahren, hab mich in den Stehkurven herumgetrieben; es ging mir ja nicht nur um dieses Spiel, es ging mir wesentlich um - jetzt sind wir wieder bei der "Sprachbeobachtung" und der "Menschenbeobachtung". Die Sache ging weiter: Am Ende war ich mit einigen Fußballspielern beinahe befreundet: Jürgen Grabowski, Thomas Rohrbach. Diese alten Zeiten sind allerdings vorbei.

Am Erker: Und Ihre zweite Leidenschaft, der Jazz?

Wolf: Der Jazz hat mich viel früher gepackt. Und ich bin bis heute Jazzfan geblieben. Angefangen hat das 1947 in der DDR. Damals war ich fünfzehn, und es gab kaum Schallplatten. Man konnte ausschließlich zu abenteuerlichen Sendezeiten, mitternachts, Jazz im Radio hören. So eine Mangelsituation verstärkt natürlich die Leidenschaft. Dazu kam der Reiz des Verbotenen. Die Musik war in der damaligen Ostzone nicht erwünscht. - Ich bin der Überzeugung, dass die verschiedenen Spielweisen des Jazz meine Art zu schreiben mitgeprägt haben. Ich behaupte, dass meine Texte zum Teil auch von ihrem Rhythmus leben; es gefällt mir sehr, wenn Kritiker mich "Wortmusiker" nennen. Das nehme ich als Kompliment. Übertragen auf meine Arbeit heißt das: Wenn eine Seite, ein Stück Prosa, inhaltlich feststeht, arbeite ich noch sehr lange an der Rhythmisierung des Textes. Sie sollten meine Arbeiten wirklich laut lesen, ich glaube, das verstärkt ihre Wirkung. Nicht nur, weil mir das inzwischen viele Kritiker eingeredet haben.

Am Erker: Sie haben ja ein ganzes Hörspiel Bix Beiderbecke gewidmet, was fanden Sie so faszinierend an diesem Jazzpionier?

Wolf: Mindestens zweierlei. Beiderbecke war ja nicht nur einer der fabelhaftesten Kornettisten, die es je gegeben hat, er hatte auch das, was man ein "schweres Schicksal" nennt: Er war Alkoholiker - und das zur Zeit der Prohibition, wo der Schnaps gepanscht war, schwarz gebrannt und doppelt giftig. Er ist mit achtundzwanzig Jahren gestorben, er war eine kurze Zeit wirklich strahlend berühmt und ist dann rasch abgestürzt und verschwunden. Ich hatte das Thema gut zwanzig Jahre im Kopf. Bis ich es endlich aufgeschrieben habe. Sehr wichtig war in diesem Falle auch, dass seine Soli auf Platten erhalten sind. Aber das Hörspiel muss auch standhalten, wenn einer kein Jazzfan ist, wenn er von dieser Musik nichts weiß und nichts wissen will. Es ist ein sehr wichtiger Stoff für mich gewesen, ganz sicher.

Am Erker: Ihre Bücher sind zum Teil mit Ihren eigenen Collagen illustriert. Mich würde interessieren, wo Sie das Material dafür herbekommen.

Wolf: Es ist hauptsächlich Material aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, illustrierte Zeitschriften der damals üblichen Holzschnitt- oder Stahlstich-Technik, illustrierte populärwissenschaftliche Bücher. Illustrationen aus Trivialromanen. Ich habe diese Sachen in den fünfziger Jahren, als das noch billig zu haben war, in großen Mengen zusammengekauft. Heute zahlt man für solche Zeitschriftenbände bis zu achthundert Mark. Ich habe niemals mehr als zehn Mark ausgegeben. Mehr hatte ich gar nicht. Damals fing das also an, in der Tradition von Max Ernst, das ist natürlich augenfällig. Ich bin ja kein bildender Künstler. Ich mache Illustrationen zu meinen Texten. Außerdem ist es eine schöne Entspannungsübung. Das Schneiden und Kleben bringt Ruhe. Beim Schreiben fängt man oft furchtbar an zu flattern, die Endprozesse sind fürchterlich hektisch, man hat da so viele Sätze im Kopf und so viele Worte, die man noch verwenden könnte. Das Collagenmachen ist eine gute Beruhigungsübung.

Am Erker: Die Collagen sind als Illustration zu den Geschichten gedacht?

Wolf: Ich habe sie einfach gemacht, um mich hin und wieder ein bisschen vom Schreiben zu erholen. "Eine Zeit ohne Worte" heißt ein Fotoband von Jürgen Becker. Seine Fotos sind sehr schön. Jürgen Becker ist aber kein Fotograf, er ist nach wie vor Dichter. Hier ist es ganz ähnlich: Ich mache Collagen, ohne gleich als bildender Künstler gelten zu wollen. Das Prinzip meiner Collagen ist - im Gegensatz zum Dadaismus -, dass man die Schnittstellen nicht sehen soll. Künstler wie Hannah Höch oder Kurt Schwitters haben ja gerade mit den Schnittstellen gearbeitet, ich will, dass sie verschwinden.

Am Erker: Eine letzte Frage: Was hat Sie eigentlich nach Wiesbaden verschlagen?

Wolf: Der reine Zufall. Wiesbaden ist nicht nur eine der teuersten, sondern womöglich auch eine der langweiligsten Städte der BRD. Eigentlich ist es nicht zu ertragen, andererseits habe ich hier so etwas wie meine Ruhe. Ich glaube, ich fange gerade an, die Stadt zu mögen. Ich habe es überall versucht. Ich bin fünfunddreißig Jahre in der BRD und ungefähr dreißigmal umgezogen. Das reicht mir jetzt.