Ror Wolf
Am Erker 19, Münster 1988 - auch als Download im doc-Format zu lesen.
"Das ist eigentlich alles."
: In einem
Essay für die Literaturzeitschrift Akzente haben
Sie Ihre Schreibvoraussetzungen wie folgt beschrieben: "Keine
raunenden Botschaften, keine Ideologien, denen man zunicken könnte,
keine dampfenden Bedeutungen, ... aber: Spiel. Heckmeck, Hokuspokus,
Burleske, Wortakrobatik, Spaß. Spaß, der freilich
an jeder Stelle umschlagen kann in Entsetzen." Dieses Umschlagen
trifft sicher für Pilzer und Pelzer zu, wo komische
Begebenheiten plötzlich von grausamen Vorstellungen abgelöst
werden. Für Ihre neueren Texte Mehrere Männer
passt diese Charakterisierung nicht mehr so gut. Diese Geschichten
sind ja eher melancholisch und oft gar nicht so spaßig.
: Bedenken Sie, dass der Essay 1967 geschrieben wurde.
Inzwischen hat sich nicht nur der Autor, sondern auch die Literatur
und die Art zu schreiben weiterentwickelt. Im Prinzip bin ich
mit dem Aufsatz noch einverstanden, und ich würde vieles
heute nicht anders sagen. Aber gerade diese eine Stelle würde
ich umformulieren. Ich weiß ungefähr, wie sie zustandegekommen
ist. 1967 gab es diese Bedeutungshuberei in der Literatur. Es
wurde spaßlos und tiefernst, Robert Gernhardt würde
sagen: ernstelnd, geschrieben. Und die Ernstler waren nicht nur
in der Überzahl, sie hatten auch die Macht. Gegen diese sakrale
Literaturauffassung richtet sich die Textstelle. Inzwischen hat
sich alles zweimal gedreht, wir sind schon fast wieder da, beinahe
an der gleichen Stelle. Aber gerade deswegen würde ich es
anders formulieren, viel bösartiger.
: Ihre Texte wirken sehr collagenhaft: Haben Sie die einzelnen
Partikel im Kopf, oder arbeiten Sie direkt mit fremden Texten?
: Es kommt beides vor. Es gibt
Fälle, da kann ich eine Geschichte aus dem Kopf heraus schreiben,
sozusagen in einem Zug. Aber das geschieht selten. In der Regel
arbeite ich sehr lange an einem Text. Es kommt vor, dass ich ihn
eine Weile liegen lasse; wenn ich ihn später überprüfe,
sehe ich, dass es Unfertigkeiten gibt und dünne Stellen.
- Mir geht es ja auch um Sprachbeobachtung und Sprachbearbeitung.
Und das sind Abläufe, die nicht nur beim Schreiben stattfinden,
sondern eigentlich ununterbrochen. Der Text ist sozusagen das
Endergebnis eines sehr langen Prozesses. Mit fremden Texten arbeite
ich überhaupt nicht. Ich arbeite oft mit vorgefundenem Material,
aber das ist alles durch meinen Kopf gegangen und verändert
worden, es ist kein fremder Text mehr.
: Einige Männergeschichten habe ich schon in älteren
Zeitschriften entdeckt. Haben sich diese Texte so im Laufe der
Zeit zusammengruppiert?
: Ja. Diese Männergeschichten sind in Schüben entstanden,
seit den sechziger Jahren. Und zwar neben meinen romanartigen Büchern.
- Ein Roman braucht bis zur Fertigstellung schließlich mehrere
Jahre. Und da taucht gelegentlich so etwas wie Resignation auf,
so ein Gefühl: Ich kann nicht mehr, Schluss jetzt. -
Also muss man die Taktik wechseln. Ich mache dann eben Bildcollagen
oder ganz kleine, ganz kurze Prosastücke. Da kommt man dann
endlich mal an den Punkt, wo man sich sagen kann: Das ist ein
fertiges Produkt. Das kann so bleiben. Das kann an die Öffentlichkeit.
- Auf diese Weise sind bis heute etwa hundertfünfzig Männergeschichten
entstanden. - Natürlich besteht die Gefahr, dass man
sich wiederholt, dass eine Form ausleiert oder leerdreht.
Also: Man sollte nicht zu viele auf einmal davon machen. Und,
an die Leser gerichtet: Man sollte nicht zu viele davon zu rasch
hintereinander lesen. Ich meine, jede dieser kleinen Geschichten
braucht etwas Platz für sich selbst. Der Leser sollte ihnen
diesen Platz geben. Es wäre unklug, alles auf einmal in sich
hineinzulöffeln, es handelt sich schließlich nicht
um Kriminalromane, wo man so schnell wie möglich erfahren
will, wer der Mörder ist. - Um Missverständnissen vorzubeugen:
Ich mag Kriminalromane.
: Was die Sprachbeobachtung angeht, mir ist aufgefallen,
dass die Sprachhülsen, mit denen die Männergeschichten
oft beginnen, wie "Ein Mann, der schon bessere Tage gesehen
hatte", sowohl aus dem alltäglichen Sprachgebrauch wie
aus der Literatur stammen. Teilweise erinnern solche Sätze
an Zeitungsmeldungen.
: Das ist richtig. Vorgefundenes Material spielt oft eine
Rolle bei mir. Fundstücke, die man überall entdecken
kann. An Zeitungskiosken, in Bahnhöfen, in Caféhäusern:
überall. Es kommt nur darauf an, wie man mit diesen Fundstücken
umgeht, wie man sie verarbeitet. Am Ende sind sie dann etwas anderes als Fundstücke. Sie sind
durch den Kopf des Autors hindurchgewandert, und der Autor hat
sie verwandelt. Das gehört übrigens zu dem von mir behaupteten
Prinzip "Sprachbeobachtung", ich könnte es erweitern:
"Menschenbeobachtung" - oder "Umweltbeobachtung".
Ich mache also, wie jeder andere auch, unablässig Entdeckungen.
Aber ich versuche, diese Entdeckungen, das ist oft nur ein einziger
Satz, der mir einfällt oder auffällt, eine einzige Bewegung,
eine Geste, ein winziges Detail festzuhalten. Dazu sind Hilfsmittel
nötig, die einfachsten Hilfsmittel sind Zettel und Bleistift.
Also: Ich notiere mir den Fall. Wenn einer aber nun unablässig
Entdeckungen macht und sich diese Entdeckungen notiert, hat er
bald einen fürchterlichen Haufen Material um sich, völlig
unübersichtlich, praktisch unverwendbar. Es ist ausgeschlossen,
damit zu arbeiten. - Also muss er sich ein Prinzip ausdenken,
mit dessen Hilfe er arbeiten kann. Ein guter Satz nützt nur
dann etwas, wenn man ihn im richtigen Augenblick zur Verfügung
hat. Man muss wissen, wo er steckt. Nachdem mir sehr viele
gute Satze verloren gegangen sind, habe ich mir methodisch einiges
einfallen lassen müssen. Das Gesuchte muss während
des Arbeitsprozesses so schnell wie möglich auffindbar sein.
Eine Kartei ist da nicht übel. - Es passiert übrigens
oft, dass man am Ende einen viel besseren Satz findet, einen
viel besseren Anfang, einen viel besseren Schluss. Aber das
ist eben das Spielerische, das in dieser Methode steckt. Man kommt
oft an einem ganz anderen Punkt an.
: Noch mal zu den Männergeschichten. Verblüffend
fand ich, dass die Geschichten nicht zu Ende erzählt werden.
: Zu Ende erzählt werden sie schon. Es ist eben nur nicht
das erwartete Ende, das gewohnte Ende. Solche trockenen Schlüsse
reizen mich, solche fast abgehackten Entwicklungen. Das ist alles
wie im Leben auch: so eine Art von plötzlicher Bodenlosigkeit.
Man tritt auf einmal ins Leere. Ich halte das für ein Stück
Realität. Also für Realismus! - Die hübsch zu Ende
erzählten Familien-Geschichten haben mich nie sonderlich
interessiert. Als Leser nicht und als Autor erst recht nicht.
: Ähnliche Texte gibt es bei Helmut Heißenbüttel
und Daniil Charms.
: Das ist sicher kein Zufall. Es
gibt eben wunderliche Autorenverwandtschaften. Ich liebe diese
kleinen Geschichten von Charms sehr, aber ich habe sie erst kennen gelernt,
als ich schon eine ganze Reihe Männergeschichten geschrieben
hatte. Heißenbüttels Arbeit verfolge ich seit den fünfziger
Jahren. Heißenbüttel kennt meine Arbeiten auch, das
behaupte ich einfach mal so. Auch hier gibt es sicherlich Ähnlichkeiten.
Aber da hat keiner vom anderen abgeschrieben. Eine gegenseitige
Beeinflussung ist etwas ganz Natürliches, die findet nicht
nur in der Literatur statt. Es gibt einfach eine gemeinsame Tradition
und eine ziemlich schwer erklärbare Zuneigung zu etwas. Diese
kurzen Geschichten, von denen wir reden, haben Robert Walser und
Franz Kafka auch geschrieben, und vor ihnen Hebel, und bei Kleist
gibt es ein paar Anekdoten, die ich wunderbar komisch finde. -
Kafka, Robert Walser, das sind Autoren, die ich verehre, ich fühle
mich in dieser Tradition übrigens recht wohl. - Und auf der
anderen Seite gibt es Autoren, über deren Bedeutung ich mir
zwar im Klaren bin, die aber keine Leidenschaft ausgelöst
haben bei mir, ich habe in ihren Büchern herumgelesen und
bin ganz kalt geblieben. Wenn ich Robert Walser lese, kommt regelmäßig
so ein Augenblick des Entzückens, des Staunens über
diese Vollkommenheit, diese scheinbare Mühelosigkeit und
Schwerelosigkeit.
: Was lesen Sie denn so an neuerer Literatur?
: Wenn sich einer den ganzen Tag
über mit der Herstellung von Literatur beschäftigt,
bleibt nicht mehr viel Zeit zum Lesen. Ich habe früher sehr
viel gelesen. Also, ich bin nicht gerade unbelesen. Aber heute:
Was soll ich machen, es gibt so viele Beschäftigungen. Gut,
ich lese Henscheid, Gernhardt, Widmer, Bernhard, Piwitt, Jürgen
Becker, Ludwig Harig, ich halte sehr viel von Brigitte Kronauer;
diese Reihe könnte ich leicht erweitern. Aber von den ganz
Jungen kenne ich eigentlich nur die Namen. Das tut mir zwar leid,
aber der Fall ist nicht zu lösen. - Ein schlechtes Gewissen
muss ich da, glaube ich, gar nicht haben. Es gibt Literaturkritiker,
die in der Öffentlichkeit herumdonnern - die lesen so gut
wie nichts. Die verachten lediglich die Literatur.
: Während Ihrer Studienzeit waren Sie Kulturredakteur
bei der Frankfurter Studentenzeitschrift Diskus ...
: Das war eine wichtige Zeit, und
sie war sogar amüsant. Die Studentenzeitungen waren damals,
in den fünfziger und frühen sechziger Jahren, etwa das,
was die Stadtzeitungen heute sind.
: Mich interessiert in diesem Zusammenhang vor allem die
Frage Ihres Debüts als Autor.
: Ich habe in Frankfurt studiert
und bin 1957 zum Diskus gekommen. Ich hatte ein paar
Geschichten geschrieben, sie der Redaktion geschickt, wie das
so ist, und man hat sie gedruckt. Und honoriert! Dann bin ich
Diskus-Redakteur geworden, Feuilleton-Redakteur, sogar
mit einem hübschen kleinen monatlichen Honorar von ich glaube
hundertzwanzig Mark, das war eine ganze Menge. Ich muss dazu sagen:
Ich war damals ganz mittellos, aus der DDR gekommen, keine Verwandten
in der Bundesrepublik, und bis zu diesem Punkt hatte ich meinen
sogenannten Lebensunterhalt mit den üblichen Studenten-Jobs
verdient. Und hier fielen nun plötzlich literarisches Interesse
und Geldverdienen zusammen. Spaß kam auch noch dazu. Und
schließlich das Interesse von höherer Stelle. Walter
Höllerer beispielsweise, bei dem ich damals studierte; er
war nicht nur der Herausgeber der Literaturzeitschrift Akzente,
er war auch Diskus-Leser. Was lag näher, als
ihm eine Geschichte anzubieten. Ich habe das getan, es war eine
Vorarbeit zu meinem ersten Roman, er hat sie veröffentlicht.
Immerhin schrieben mir nach dieser Veröffentlichung drei
ziemlich renommierte Verlage und fragten an, ob ich etwas Größeres
hätte. Das war der zweite Schritt. 1962 kam ich dann zu Suhrkamp,
mit einer etwas längeren Vorarbeit zu meinem ersten Roman.
Und schließlich erschien dieser erste Roman tatsächlich
1964 bei Suhrkamp. Das war der dritte Schritt. Der Roman ist schlecht
verkauft worden, wie das halt so ist bei Erstlingsbüchern,
aber es gab eine ganz erfreuliche Resonanz in der Presse: Also
jedenfalls habe ich das Schreiben nicht sofort wieder aufgegeben.
: Ein Forum wie die damaligen Akzente gibt
es ja heute leider nicht mehr.
: Ich habe da keinen Überblick mehr. Jedenfalls waren
die Akzente damals sehr wichtig für die Literaturliebhaber.
Dort war sozusagen der Kern der zeitgenössischen Literatur.
Wenn man da etwas veröffentlicht hatte, bildete man sich
ein, ein bisschen dazuzugehören. Dass die Schwierigkeiten,
dass die eigentlichen Schwierigkeiten erst danach anfingen,
das wusste ich natürlich noch nicht.
: Sie sind inzwischen bei zwei Verlagen, Haffmans und
Luchterhand. Wie ist es dazu gekommen?
: Im Moment bin ich sogar bei vier Verlagen. Aber das wird
sich ändern: Luchterhand und Haffmans sind Verlage, die sich
in meinem Fall ausgezeichnet ergänzen. Ich war bis 1980 Suhrkamp-Autor
und bin - ohne Kontakt zu einem anderen Verlag zu haben - eines
Tages weggegangen. Es gab eine Reihe von Gründen, etwas Übermut
war auch dabei. Es ist mir dann ein paar Jahre ziemlich schlecht
gegangen. Mein nächster Verlag ging, kurz nachdem mein erstes
Buch dort erschienen war, in Konkurs. Es war nicht sehr spaßig.
Zumal ich ja ein Autor bin, der versucht, vom Schreiben zu leben.
- Immerhin blieb das Hörspiel. Das Hörspielmachen ist
ja im Gegensatz zum Bücherschreiben eine recht gut bezahlte
Tätigkeit.
: Der Rundfunk ist für viele Autoren eine Art Existenzsicherung.
Schließlich gibt es nach vorsichtigen Schätzungen nur
etwa zweitausend Leute in der Bundesrepublik, die sich für moderne
Literatur interessieren, das heißt entsprechend Bücher kaufen.
: Es sind ungefähr dreitausend, davon kann man ausgehen. Bei
meinen Fußballbüchern waren es allerdings erheblich mehr. Als Folge des populären Themas: Ich habe damit auch
andere Leserschichten erreicht.
: Interessieren Sie sich denn wirklich für Fußball?
: Ich habe zwar nie Fußball
gespielt. Aber ich habe mich jahrelang wie ein regelrechter Fan
verhalten. Und ich war ein sehr kundiger Fan. Man muss ja,
wenn man auf dem Gelände ernst genommen werden will, Daten,
Fakten, Namen und so weiter abrufbereit im Kopf haben. Und ich war,
ehrlich gesagt, damals auch ein leidenschaftlicher Fan. Die Voraussetzungen
waren allerdings auch günstiger als heute. Ich hatte eine
Art künstlichen Entzündungsprozess hergestellt,
ich bin mit Aufnahmegeräten in Fan-Bussen mitgefahren, hab
mich in den Stehkurven herumgetrieben; es ging mir ja nicht nur
um dieses Spiel, es ging mir wesentlich um - jetzt sind wir wieder
bei der "Sprachbeobachtung" und der "Menschenbeobachtung".
Die Sache ging weiter: Am Ende war ich mit einigen Fußballspielern
beinahe befreundet: Jürgen Grabowski, Thomas Rohrbach. Diese
alten Zeiten sind allerdings vorbei.
: Und Ihre zweite Leidenschaft, der Jazz?
: Der Jazz hat mich viel früher
gepackt. Und ich bin bis heute Jazzfan geblieben. Angefangen hat
das 1947 in der DDR. Damals war ich fünfzehn, und es gab kaum Schallplatten.
Man konnte ausschließlich zu abenteuerlichen Sendezeiten,
mitternachts, Jazz im Radio hören. So eine Mangelsituation
verstärkt natürlich die Leidenschaft. Dazu kam der Reiz
des Verbotenen. Die Musik war in der damaligen Ostzone nicht erwünscht.
- Ich bin der Überzeugung, dass die verschiedenen Spielweisen
des Jazz meine Art zu schreiben mitgeprägt haben. Ich behaupte,
dass meine Texte zum Teil auch von ihrem Rhythmus leben;
es gefällt mir sehr, wenn Kritiker mich "Wortmusiker"
nennen. Das nehme ich als Kompliment. Übertragen auf meine
Arbeit heißt das: Wenn eine Seite, ein Stück Prosa,
inhaltlich feststeht, arbeite ich noch sehr lange an der Rhythmisierung
des Textes. Sie sollten meine Arbeiten wirklich laut lesen, ich
glaube, das verstärkt ihre Wirkung. Nicht nur, weil mir das
inzwischen viele Kritiker eingeredet haben.
: Sie haben ja ein ganzes Hörspiel Bix Beiderbecke
gewidmet, was fanden Sie so faszinierend an diesem Jazzpionier?
: Mindestens zweierlei. Beiderbecke war ja nicht nur einer
der fabelhaftesten Kornettisten, die es je gegeben hat, er hatte
auch das, was man ein "schweres Schicksal" nennt: Er
war Alkoholiker - und das zur Zeit der Prohibition, wo der Schnaps
gepanscht war, schwarz gebrannt und doppelt giftig. Er ist mit
achtundzwanzig Jahren gestorben, er war eine kurze Zeit wirklich strahlend
berühmt und ist dann rasch abgestürzt und verschwunden.
Ich hatte das Thema gut zwanzig Jahre im Kopf. Bis ich es endlich aufgeschrieben
habe. Sehr wichtig war in diesem Falle auch, dass seine Soli
auf Platten erhalten sind. Aber das Hörspiel muss auch
standhalten, wenn einer kein Jazzfan ist, wenn er von dieser Musik
nichts weiß und nichts wissen will. Es ist ein sehr wichtiger
Stoff für mich gewesen, ganz sicher.
: Ihre Bücher sind zum
Teil mit Ihren eigenen Collagen illustriert. Mich würde interessieren,
wo Sie das Material dafür herbekommen.
: Es ist hauptsächlich Material
aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, illustrierte
Zeitschriften der damals üblichen Holzschnitt- oder Stahlstich-Technik,
illustrierte populärwissenschaftliche Bücher. Illustrationen
aus Trivialromanen. Ich habe diese Sachen in den fünfziger
Jahren, als das noch billig zu haben war, in großen Mengen
zusammengekauft. Heute zahlt man für solche Zeitschriftenbände
bis zu achthundert Mark. Ich habe niemals mehr als zehn Mark ausgegeben.
Mehr hatte ich gar nicht. Damals fing das also an, in der Tradition
von Max Ernst, das ist natürlich augenfällig. Ich bin
ja kein bildender Künstler. Ich mache Illustrationen zu meinen
Texten. Außerdem ist es eine schöne Entspannungsübung.
Das Schneiden und Kleben bringt Ruhe. Beim Schreiben fängt
man oft furchtbar an zu flattern, die Endprozesse sind fürchterlich
hektisch, man hat da so viele Sätze im Kopf und so viele
Worte, die man noch verwenden könnte. Das Collagenmachen
ist eine gute Beruhigungsübung.
: Die Collagen sind als Illustration zu den Geschichten
gedacht?
: Ich habe sie einfach gemacht, um mich hin und wieder ein
bisschen vom Schreiben zu erholen. "Eine Zeit ohne Worte"
heißt ein Fotoband von Jürgen Becker. Seine Fotos sind
sehr schön. Jürgen Becker ist aber kein Fotograf, er
ist nach wie vor Dichter. Hier ist es ganz ähnlich: Ich mache
Collagen, ohne gleich als bildender Künstler gelten zu wollen.
Das Prinzip meiner Collagen ist - im Gegensatz zum Dadaismus -,
dass man die Schnittstellen nicht sehen soll. Künstler
wie Hannah Höch oder Kurt Schwitters haben ja gerade mit
den Schnittstellen gearbeitet, ich will, dass sie verschwinden.
: Eine letzte Frage: Was hat Sie eigentlich nach Wiesbaden
verschlagen?
: Der reine Zufall. Wiesbaden ist nicht nur eine der teuersten,
sondern womöglich auch eine der langweiligsten Städte
der BRD. Eigentlich ist es nicht zu ertragen, andererseits habe
ich hier so etwas wie meine Ruhe. Ich glaube, ich fange gerade
an, die Stadt zu mögen. Ich habe es überall versucht.
Ich bin fünfunddreißig Jahre in der BRD und ungefähr dreißigmal
umgezogen. Das reicht mir jetzt.
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