Am Erker 71

Jörg Heiser: Doppelleben. Kunst und Popmusik

Uwe Kolbe: Brecht. Rollenmodell eines Dichters

Mark-Stefan Tietze: Allein unter Veganern

Christian Maintz: Liebe in Lokalen

 
Fritz Müller-Zech 71
Die Kolumne
 

Als ich ein sehr junger Mann war, schien die Gegenwart großartig und die Zukunft fern. Künstler wollte ich sein, ob Maler, Musiker oder Dichter, war mir gleichgültig. Ich pinselte mit Wasserfarben, zupfte an Gitarrensaiten und hämmerte auf der Schreibmaschine herum. So entstanden frei rhythmisierende Gedichte obskuren Inhalts und wüste Aquarelle in Dunkelrot und Schwarz. Als Gitarrist allerdings kam ich nicht über die Anfangsakkorde von "House of the Rising Sun" hinaus. Hätte ich ein elektronisch verstärktes Instrument samt dem zugehörigen Lautsprecher besessen, wäre aus mir vielleicht eine Krautrock-Legende geworden, wer weiß. Doch leider konnte ich nur eine gebraucht erstandene Wandergitarre mein Eigen nennen, deren Nylonsaiten denkbar ungeeignet für musikalische Experimente waren. Also protestierte ich gegen meine kleinbürgerliche Umgebung, indem ich in hoher Lautstärke und bei geöffnetem Fenster Schallplatten von Deep Purple, Pink Floyd oder Black Sabbath abspielte, während ich auf meinem Bett saß und auf die mit Heftzwecken am Kleiderschrank befestigten Bilder aus eigener Produktion starrte. Selten habe ich mich seither so eins mit mir selbst gefühlt. In meinem Jugendzimmer verschmolzen Popmusik und Kunst zu einer ästhetischen Totalerfahrung.
Einige Jahre später lernte ich als Student, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe. Und heute lese ich in Jörg Heisers aufschlussreicher Studie Doppelleben, wie komplex es um das Verhältnis von Kunst und Popmusik bestellt ist. Andy Warhol hatte nicht nur künstlerische Motive, als er Mitte der sechziger Jahre die Band Velvet Underground präsentierte. Doch um wirklich vom kommerziellen Erfolg der populären Musik zu profitieren, hätte er vielleicht, statt ein Kollektiv ambitionierter Bohemiens anzuheuern, besser eine harmlose, aber fernsehtaugliche Gruppe wie die Monkees auf die Beine gestellt. Eine synthetische Band, deren Studioaufnahmen von anderen Musikern eingespielt werden, hätte auch den Kunstbetrieb in gleichem Maße provozieren können wie die Performance-Artistin Yoko Ono die Welt des Pop. Heiser widmet ihrer produktiven Verbindung mit John Lennon ein ganzes Kapitel und würdigt das exzentrische Paar für seine Verdienste bei der "Politisierung der Popstarrolle mit den Mitteln der Kunst". Was ja nicht falsch ist. Es kommt eben auch darauf an, dass zur richtigen Zeit die richtigen Leute am richtigen Ort zusammentreffen, wie Heiser nicht zu erzählen vergisst. In Düsseldorf beispielsweise, wo Pop- und Kunstszene personell wie konzeptionell verbandelt waren. Doch während im legendären Ratinger Hof Kulturgeschichte gemacht wurde, hockte unsereiner in Seminaren zur Kritischen Theorie oder hörte im trüben Licht eines WG-Zimmers Free Jazz.
Aus war der Künstlertraum, aber die Idee von der notwendigen Widerständigkeit des Ästhetischen lebte weiter. Kunst, vor allem die staatlich geförderte, war Opposition. Zumindest im kapitalistischen Westen. Dass es sich hier um ein "zäh fortbestehendes Rollenmodell des kritischen Dichters, Schriftstellers oder Künstlers, das die realen Verhältnisse weitgehend ignoriert" handle, wie der Lyriker und Romancier Uwe Kolbe in seinem polemischen Essay über die Rolle Bertolt Brechts als systemstabilisierendes Element in der frühen DDR formuliert, hätte ich brüsk zurückgewiesen. Damals hatte ich auch zu vielen Dingen eine klare Meinung, glaubte zu wissen, wo der Hase im Pfeffer lag und der Bartel den Most holte. Das war, bevor ich gegen Ende der achtziger Jahre die beruhigende Wirkung des Bastelns von Modellflugzeugen entdeckte. Auf kleinteiliges Werkeln folgen ferngesteuerte Höhenflüge - was will man mehr. Erst schaut man nach unten, dann in den Himmel. Konkreter kann eine Utopie kaum sein. Müller-Zech privatisiert, hieß es schon bald im Freundeskreis.
Wer heute radikal auf der richtigen Seite sein möchte, wird am besten Veganer. Der Ausbeutung des Tieres durch den Menschen ein Ende zu bereiten, ist ein ebenso hehres wie radikales Ziel und wahrscheinlich noch schwieriger zu bewerkstelligen als die Überwindung des Kapitalismus. Mark-Stefan Tietze, als ehemaliger Titanic-Redakteur ein routinierter Lieferant komischer Texte, hat sich für 100 Tage einem Selbstversuch unterzogen und dabei sorgsam Buch geführt. Allein unter Veganern ist ein ausgedehnter Praxistest, der mit Witz, aber ohne Häme erzählt, was geschieht, wenn ein passionierter Fleischesser vom einen auf den anderen Tag auf tierische Produkte verzichtet. Nachdenklich ist er dabei geworden, aber zur Konversion hat es nicht gereicht. Mir fehlt der Mut zu solchen Exerzitien. Vielleicht esse ich auch nur, wie ein von Tietze zitierter junger Mann mit grundsätzlichen Sympathien für eine vegane Lebensweise, "leider zu gerne Fleisch". Der Appetit auf die Geflügel-Minifrikadellen, die ich mir eben aus dem Supermarkt mitgebracht habe, ist mir allerdings gründlich vergangen. Stattdessen greife ich zu einer Handvoll Salzstangen und nehme knabbernd und erstaunt zur Kenntnis, dass es dieser Kolumne an thematischer Stringenz gebricht. Das ist aber leider nicht zu ändern. Und es hilft wahrscheinlich auch nichts, wenn ich nun eine Deep-Purple-Platte auflege, um bei dieser Gelegenheit gerne daran zu erinnern, dass diese langlebige Rock-Combo einst als cleveres Investitionsprojekt zweier Londoner Geschäftsleute begann. Also ende ich mit einem Gedichtzitat. Es stammt aus dem Lyrikbändchen Liebe in Lokalen des humoristischen Poeten Christian Maintz, der sich gleichermaßen auf clevere Reime, alberne Alliterationen und sinnfreie Kalauer versteht. Das Gedicht heißt "Kleines ABC des Allgemeinwissens", und hier folgt die Strophe zum Buchstaben "T": "Der Thunfisch rasch durchs Wasser gleitet, / Der Trinker torkelt und krakeelt, / Die Torheit ist recht weit verbreitet, / Das Thema wird zumeist verfehlt."

 

Jörg Heiser: Doppelleben. Kunst und Popmusik. 605 Seiten. Philo Fine Arts. Hamburg 2015. € 28,00.

Uwe Kolbe: Brecht. Rollenmodell eines Dichters. 174 Seiten. S. Fischer. Frankfurt am Main 2016. € 18,99.

Mark-Stefan Tietze: Allein unter Veganern. Expedition in eine neue Welt. 237 Seiten. Rowohlt Berlin. Berlin 2016. € 16,99.

Christian Maintz: Liebe in Lokalen. Gedichte. 143 Seiten. Kunstmann. München 2016. € 14,95.