Am Erker 63

Oliver Uschmann: 'Überleben auf Festivals'

'Landpartie 12'

Jens Dittmar: 'Als wär's ein Stück Papier'

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Oliver Uschmann
Heyne
Zentrum für Kreatives Schreiben
Pächterhaus
Jens Dittmar
Bucher

 
Fritz Müller-Zech 63
Die Kolumne
 

Mehr als drei Jahrzehnte ist es her, da war ich zum letzten Mal auf einem Festival. Es nannte sich "Umsonst & Draußen" und fand in einem Steinbruch irgendwo im Ostwestfälischen statt. Und weil der Eintritt, wie der Name schon sagt, frei war, bekamen die Bands wahrscheinlich kein Geld. Das fanden alle in Ordnung, schließlich fühlte man sich als Teil einer großen gegenkulturellen Bewegung. Verdient haben an dem Festival nur die vielen Kleinhändler, an deren Ständen ungenießbare "Energiebällchen", selbstgebastelter Schmuck und Raubdrucke feilgeboten wurden. Auch ich erwarb ein Bändchen mit illegal reproduzierten Texten von Patti Smith, das ich übrigens erst vor kurzem an einen netten Herrn aus Kalifornien, der in Berkeley eine der Musikerin und Künstlerin gewidmete Sammlung betreut, verkaufen konnte.
Weil es vor dem Festival heftig geregnet hatte, befand sich auf dem Gelände ein Schlammloch, in dem sich einige nackte Besucher begeistert tummelten. Man wollte nicht nur zurück zur so genannten Natur, sondern hatte auch den "Woodstock"-Film gesehen. Um richtig dazuzugehören, hätte auch ich alle Hemmungen abwerfen und mich in die Matsche stürzen müssen, doch erwies sich meine kleinbürgerliche Sozialisation als nachhaltig erfolgreich. Deshalb gruselt es mich auch heute noch, wenn ich in Oliver Uschmanns Ratgeber Überleben auf Festivals von den rauen Sitten lese, die heute dort herrschen, wo sich junge Menschen gegen die Zahlung gelegentlich exorbitanter Summen versammeln, um ab und an einen Blick auf ihre Lieblingsband werfen zu können. Manches erinnert an die erst neulich erfundene Tradition des Junggesellenabschieds, muntere Trinkspiele inklusive. Da ist man ziemlich froh, nicht mehr jung zu sein. Oder, was schlimmer wäre, als so genannter Veteran mit dem Wohnmobil von Festival zu Festival zu reisen. Uschmann beschreibt diesen Typus mit ebenso liebevollem Spott wie all die anderen Spezies, denen man im "Rockreich" begegnet. Dabei demonstriert er nicht nur ein enzyklopädisches popkulturelles Wissen, sondern lässt auch durchblicken, dass es sich bei all seinen nützlichen Verhaltenstipps um die Früchte langjähriger Feldforschung handelt. Während Uschmanns Ratgeber in strapazierfähigem Plastikeinband daherkommt, scheint mir ein anderes Buch, das gerade meine Aufmerksamkeit beansprucht, eher für drinnen gemacht, obwohl seine Gestaltung an die bekannten Moleskine-Notizbücher, welche man ja gerne mit sich herumträgt, erinnert. 37 junge Talente, die in Hildesheim das kreative Schreiben erlernen, präsentiert die zwölfte Ausgabe der jährlich erscheinenden Anthologie Landpartie. Als Gegenwartsliteratur wolle man die Beiträge wahrgenommen wissen, betont Lew Weisz, einer der Herausgeber des Bandes. Und um die Gegenwart scheint es nicht gut bestellt zu sein. "Luft wie heißes Fett verschmiert die Skyline", heißt es in einem der Texte. Die Rede ist von Frankfurt, einer Stadt "aus Blech, Stahl, Fleisch und Dreck, in der sich die Hitze aus 1001 Nacht zusammenballt". Mit Kraftprosa dieser Art muss bei Autorinnen Mitte zwanzig gerechnet werden. Aber natürlich auch mit Familiengeschichten. Da geht es gerne skurril zu. Seltener sind Beziehungsstorys. Vielleicht weil hier die Enttäuschung vorprogrammiert ist. Marten beispielsweise, der auf ursprüngliche Methoden der Nahrungszubereitung schwört und Weißkohl selbst zu Sauerkraut verarbeitet, riecht "wie jedermann". Trefflich dokumentiert findet sich in dieser Landpartie ebenfalls das Faible österreichischer Erzähler für die Abgründe des Katholizismus.
Auch Erzähl- und Sprachexperimente erfreuen sich ungebrochener Popularität. Ein Begriff wie "Pralinenhohlkörper" lädt zur Meditation ein. Und wenn eine Erzählerin von sich behauptet, sie könne alles in Worte fassen, wissen wir, dass ihr nicht zu trauen ist. Glaubwürdiger erscheint uns jemand, der zugibt, dass es auf die großen Fragen keine zufriedenstellenden Antworten gibt. Am Ende weiß man nichts "außer Himmel und Erde und Haus". Das ist zwar nicht neu, aber schön formuliert. Schließlich ist es das Privileg junger Menschen, gewisse Erfahrungen für sich zu reklamieren. Unsereins hingegen entdeckt mit Vergnügen alte Hüte in zeitgemäßem Design und lobt das Traditionsbewusstsein einer 1988 geborenen Autorin, die einiges vom alten Peter Bichsel gelernt hat.
Vergeblich sucht man im Autorenverzeichnis übrigens einen Ruben Zumstrull, der für den abschließenden Text "Ein kurzer Blick auf drei Passanten in 051" verantwortlich zeichnet. Offenbar handelt es sich hier um eine in selbstironischer Absicht verfasste institutsinterne Alberei. Das nehme ich als ein gutes Zeichen. Und empfehle Landpartie 12 nachdrücklich zur Anschaffung.
Längst da angelangt, wo manche der Schreibeleven aus Hildesheim vielleicht noch hinwollen, ist der 1950 geborene Autor Jens Dittmar. In seinem Erzählband Als wär's ein Stück Papier plädiert er vehement für die Emanzipation der Sprache von der empirischen Realität. "Um zu verstehen, was alles der Fall ist, müsste man den kompletten Vorgang kennen", lässt er einen Herrn von 33 Jahren sinnieren, der nicht mit der Vorbereitung seines Umzugs vorankommt, weil er über einen unter seinem Namen veröffentlichten Leserbrief nachdenken muss. In diesem Brief, dem die Redaktion die Überschrift "Hausverbot für kritische Existenzen" verpasst hat, taucht ein hübsches Zitat auf, das angeblich von Karl Marx stammt. Mir ist das schnuppe. Wer auch immer den "Wohlfahrtsbürger" dem "Schlummer staatlich geförderter Trägheit" hat verfallen sehen, bekommt hier und heute meine volle Zustimmung. Bin ich nicht selbst das beste Beispiel. Mein Lebensmut, meine Urteilskraft, ja meine ganze Persönlichkeit befinden sich in Auflösung. Und irgendwann werden die Grenzen von Oer-Erkenschwick auch die Grenzen meiner Sprache sein. Wäre ich doch damals in die Schlammgrube gesprungen.

 

Oliver Uschmann: Überleben auf Festivals: Expeditionen ins Rockreich. 368 Seiten. Heyne. München 2012. € 12,99.

Anna Fastabend u. a. (Hrsg.): Landpartie 12. Jahresanthologie des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. 240 Seiten. Edition Pächterhaus. Hildesheim 2012. € 12,90.

Jens Dittmar: Als wär's ein Stück Papier. Erzählungen. 168 Seiten. Bucher. Hohenems 2011. € 18,50.