Manchmal erreichen bedrohliche Schreiben die
Erker-Redaktion. "Sie haben in den letzten zwei Jahren zehn
Bücher unseres Verlages erhalten", wird da geklagt,
"aber uns ist bislang kein Beleg einer Besprechung in Ihrer
Zeitschrift zugegangen". Die zuständigen Redakteure
halten sich mit solchen Briefen meist nicht lange auf, sondern
leiten sie umgehend an mich weiter. Leider muss ich nicht selten
feststellen, dass die Mahnungen ihre Berechtigung haben. Unbesprochen
und von Sägespänen fast verdeckt verharrt ein gutes
Dutzend Bücher in einem Regal rechts von meiner Werkbank.
Und mich packt ein schlechtes Gewissen. Schuldbewusst lege ich
die Feile zur Seite, greife eins der vernachlässigten Druckwerke,
blase den Staub vom Einband und beginne zu lesen.
Privat lautet der schlichte Titel des Buches, das verspricht,
über den "Alltag der Dichter und Denker" zu informieren,
ein Thema, das mich seit langem interessiert. Geldnot und Nikotinsucht,
Impotenz und Verdauungsbeschwerden, Alkoholismus und Onanie -
es ist schon verwunderlich, unter welch bemerkenswerten und oft
auch erbarmungswürdigen Umständen manch großes
Werk das Licht der Welt erblickte. Robert Musil mied öffentliche
Bibliotheken, weil er dort nicht rauchen durfte. Gottfried Benn
fand sich "moralisch gehoben", wenn er vier Tage lang
auf Bier verzichtet hatte. Novalis verbrachte ganze Tage in einsamer
Lüsternheit. Und Franz Kafka, der überzeugte Reformköstler,
quälte sich gerne mit der Vorstellung, deftige Würste,
fettes Rippenfleisch und saure Gurken zu verschlingen. Ein junger
Mann namens Günther Eisenhuber,
der sich selbst als "Knecht des Alltags" bezeichnet,
hat die entsprechenden Tagebucheintragungen und Briefauszüge
thematisch geordnet und zu einem sehr kurzweiligen Bändchen
zusammengestellt. Ich habe es direkt von der Werkstatt auf meinen
Nachttisch verfrachtet, um gelegentlich vor dem Einschlafen darin
zu lesen.
Dort liegt es neben einer Sammlung von Briefen, die der Dichter
H. C. Artmann in den sechziger Jahren
an seinen Freund, den Theatermann Herbert Wochinz, geschickt hat.
Oft geht es um die Theaterstücke, die Artmann für Wochinz
übersetzte, noch öfter aber um die Honorare, die er
für diese Arbeit bekommen sollte. Denn der literarische Tausendsassa
war ständig in pekuniären Nöten, zumal wenn er
sich gerade auf der Flucht vor der österreichischen Justiz
befand, die versuchte, ausstehende Alimente einzutreiben. "Bitte
schreib mir doch sofort, was mit dem geld los ist", fordert
in charakteristischer Kleinschreibung eine Epistel vom 25. Juli
1962. Ein Jahr später untermalt der arme Autor sein Anliegen
mit dem Hinweis, er gehe "auf einem paar löchrigen socken"
und habe bereits "ganze 6 kilo abgenommen", während
es im September 1965 wieder schlicht heißt: "UND: krieg
ich das geld?" Eine Formulierung, die ich mir für meine
nächste Mail an die Betreiber dieser Zeitschrift bereits
notiert habe.
Erfolg werde ich damit wohl nicht haben, denn bekanntermaßen
ist Am Erker arm wie die sprichwörtliche Kirchenmaus.
Wie viel besser hatten es da die Mitarbeiter des legendären
New Yorker, der in diesen Tagen achtzig Jahre alt wird.
Bereits 1960 erhielt der Schriftsteller Ved
Mehta, damals Mitte 20, für einen Reisebericht die
stolze Summe von $ 1800. Und das war erst der Anfang. Viel beeindruckender
als die Honorare ist allerdings der Umgang, den William Shawn,
der langjährige Chefredakteur des Wochenmagazins, mit Manuskripten
pflegte. Mehta erinnert sich an zweistündige Telefonate,
in denen es ausschließlich um die korrekte Interpunktion
ging. Ein ganzer Stab von Mitarbeitern war ausschließlich
damit befasst, Beiträge immer wieder gegenzulesen. Viermal
erhielt Mehta Korrekturfahnen seines jeweils neu gesetzten Textes.
Nicht immer waren die Änderungsvorschläge rein stilistisch
motiviert. So wurde aus dem Griff an die Hoden, mit dem sich ein
wütender indischer Taxler eines unerwünschten Fahrgastes
entledigt, ein Griff an die Hüfte.
Heute würde niemand mehr an einem solchen "klinischen
Ausdruck", wie ihn Shawn bezeichnete, Anstoß nehmen,
aber leider ist mit der Prüderie offenbar auch die Sorgfalt
im Umgang mit Texten verschwunden. Wenn ein Autor nicht weiß,
dass es "der" und nicht "die Abscheu" heißt,
wäre es Sache des Lektorats, diesen Fehler zu korrigieren.
Wenn ein Literaturredakteur behauptet, jemand habe "Schuld
dafür" und ein Kolumnist vom "Respekt für"
jemanden spricht, sollte ein Korrektor eingreifen. Leider geschieht
das nicht. Kein Geld, keine Zeit. Selbst nur halbjährlich
erscheinende Literaturzeitschriften leisten sich, sogar auf dem
Umschlag, Druckfehler. Und den Konjunktiv gebraucht auch niemand
mehr korrekt. Man möchte krank werden, sich ins Bett legen
und mit Arthur Schnitzler ausrufen: "Überflüssigkeit,
Magenschmerzen und Verblödung". Dummerweise ist das
Pflichtgefühl stärker, die Hand greift beinahe automatisch
nach einem dicken Buch, das seit Wochen unbeachtet neben einem
Stapel Handtücher gelegen hat, und befördert es aufs
Beistelltischchen. Schon bald finde ich heraus, dass es sich um
eins jener schönen Werke handelt, bei dem man an beliebigen
Stellen zu lesen beginnen kann, da es sich um eine dem Assoziationsprinzip
gehorchende Kompilation von Geschichten handelt, die durch ebenso
assoziativ gesetzte Fußnoten ergänzt werden. Von einem
tatsächlichen Hühnerstall ist es eben nur ein kurzer
Weg bis zur englischen Bluesgruppe "Chicken Shack",
und wer vom englischen Bergarbeiterstreik Mitte der achtziger
Jahre spricht, muss auch den Protestsänger Billy Bragg erwähnen.
Endlich habe ich ein Buch gefunden, das sich noch besser als Einschlafhilfe
eignet als die Tagebucheintragungen kranker Dichter, zumal man
bei jedem Lektüreversuch etwas Interessantes erfahren kann.
Also kommt auch Erwin Einzingers Aus
der Geschichte der Unterhaltungsmusik griffbereit auf den
Nachttisch. Später in der Werkstatt träume ich mit offenen
Augen von Tausenddollarschecks und einem Redakteur, der mit mir
die Kommasetzung in dieser Kolumne diskutiert.
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