Wie habe ich es geliebt, das Fernsehen! Wie habe
ich sie verehrt, die Bücher! Doch nun erwäge ich, nicht
nur weil die monatlichen Gebühren wieder einmal erhöht
werden, mein altersschwaches Saba-Gerät dem Sperrmüll
zu überantworten. Und die großformatigen Versandtaschen
gefüllt mit den Neuerscheinungen des Herbstes werde ich vielleicht
schon morgen meinem Freund Fritz Hannemann mitgeben, der sie über
das Internet losschlagen wird. Mit den Literaturbeilagen der Tageszeitungen,
deren Lektüre ich früher mit Spannung und Freude entgegensah,
habe ich die Biotonne ausgelegt, damit nicht immer hässliche
Reste des Küchenabfalls am Boden kleben bleiben. Schuld an
meinem Zustand ist die unziemliche Vermischung meiner bisherigen
Lieblingsmedien. Weder möchte ich Romane lesen, in denen
ständig ferngesehen wird, noch schaue ich mir gerne Sendungen
an, in denen mir eingehämmert wird, ich müsse nun endlich
zum Buch greifen. Hatte das "Literarische Quartett"
noch einen gewissen kabarettistischen Wert, so ist "Lesen!"
ein schier unerträgliches Spektakel. Innerhalb von dreißig
Minuten werden mindestens acht Bücher von der aufgekratzten
Moderatorin in die Kamera gehalten und zur Lektüre verordnet,
und manchmal darf auch der eingeladene Gast ein Wort sagen.
Schlimmer als "Lesen!" aber war die Steigerung "Das
große Lesen", eine Bücherschau im Zweiten Programm
mit dem unvermeidlichen Kerner und einer Auswahl der üblichen
Sofasitzer. Wenn Kerner Bücher empfiehlt, möchte man
am liebsten zum Analphabeten mutieren. Zitternd saß ich
vor dem Fernseher und empfand einen Lustschmerz wie sonst nur
beim Anschauen von Volksmusiksendungen. Weder konnte ich die Augen
abwenden, noch gelang es mir, den Ausschaltknopf der Fernbedienung
zu finden. In meinem Kopf begann es zu rotieren, bald schien es
mir, als würde Karasek seine Krawatte lösen, um damit
eine gewisse Frau "Moppel-Ich" zu strangulieren, dann
sah ich Alice Schwarzer unter dem Bullen von Tölz ächzen,
während Kerner immer wieder "Tolkien oder die Bibel"
rief. Als ich irgendwann,es liefen die Spätnachrichten, wieder
zu mir kam, war ich nass geschwitzt. Mühsam fand ich den
Weg ins Bett, aber wie üblich noch zwei Zeilen zu lesen,
wollte mir nicht mehr gelingen.
Am nächsten Morgen wagte ich einen neuen Versuch, doch selbst
die Lektüre eines dünnen Bändchens wie Niels
't Hoofts Toiletten musste ich abbrechen,
als ich über den Satz "Während du mit meinem Pimmel
gespielt hast, dachte ich an Videogames" stolperte. Bevor
ich auch nur einen Gedanken an diese profunde Beschreibung der
Freizeitgestaltung heutiger Jugendlicher verschwenden konnte,
ertönte die Stimme Kerners in meinem Kopf und spulte die
Liste der zehn beliebtesten Bücher der Deutschen ab.
Als in den Wochen darauf der Buchmessenrummel einsetzte und die
Literaturbeilagen ins Haus kamen, war mir nicht mehr zu helfen.
Jede Überschrift, die versprach, hier werde ein ganz großes
Buch vorgestellt, erregte meine Übelkeit, wusste ich doch,
dass von eben diesem Schmöker in weniger als zwei Monaten
niemand mehr sprechen würde. Zudem war mir klar, dass ich
selbst ein Teil dieses Wahnsinnssystems war. Und ich erinnerte
mich an ähnliche Symptome, die mich vor einigen Jahren für
einige Monate so paralysiert hatten, dass mir nur das Anschauen
aller Folgen der Westernserie Bonanza helfen konnten.
Leider reagierte ich auf das Fernsehen ähnlich wie auf Bücher.
Wenn ich wenigstens in der Lage wäre, meine Kerner-Allergie
in einem medien-und gesellschaftskritischen Taschenbuch zu verarbeiten,
wie es der schlaue Walter van Rossum
mit der schrecklichen Christiansen-Sendung getan hat, ja, dann
könnte ich noch ein paar Euro aus meiner misslichen Lage
schlagen. Doch es war mir unmöglich, länger als drei
Minuten auf den Bildschirm zu gucken, und bei Scobel, Scheck oder
Beckmann war mir schon nach zwanzig Sekunden schlecht.
Also räumte ich mal wieder meine Bastelwerkstatt auf, machte
lange Spaziergänge durch die Wälder der Umgebung und
ernährte mich von Vortagsbrötchen aus dem "Backtreff",die
gar nicht schlecht schmecken, wenn man sie in Pfefferminztee tunkt.
Aber vielleicht besteht doch Hoffnung. Während ich diese
Zeilen auf eine Brötchentüte kritzle, fällt mein
Blick auf ein schmales Reclamheft, das sich unbemerkt auf meinen
Küchentisch geschmuggelt zu haben scheint. Es ist von Brigitte
Kronauer und enthält Geschichten, von denen die erste
so anfängt: "Hornochse! Das böse, sehr böse
Wort." Das macht mich neugierig. Ich lese weiter und habe
in kürzester Zeit drei Geschichten verschlungen. Hier geht
es um die Natur und darum, wie blöd sich der Mensch manchmal
in ihr ausmacht. Vor allem, wenn er beginnt zu reden. Bei Brigitte
Kronauer jedoch verwandelt sich Geschwätz in reine und zudem
hochkomische Poesie. Dieses wunderbare Reclamheft macht Mut, es
vielleicht auch noch mit den ersten Seiten des neuen Romans der
Autorin zu versuchen. Verlangen nach Musik und Gebirge
heißt das Buch, und ich erinnere mich vage, bereits vor
einiger Zeit die ersten zwei Seiten gelesen zu haben. Ich muss
es nur in irgendwo in den Kartons und Versandtaschen wiederfinden.
Aber was ist denn das? Ein Buch mit dem Titel Das einsame Leben.
Das könnte etwas für mich sein, denke ich, schlage es
irgendwo auf und stoße auf folgende Worte, die ich Ihnen,
liebe Leserinnen und Leser, nicht vorenthalten will: "Doch
große Bildung wohnt nicht immer in einer bescheidenen Brust,
und oft liegen Zunge und Geist, Theorie und Leben in großem
Widerstreit. Damit meine ich diejenigen, für die Bildung
mehr eine Behinderung oder Belastung als eine Bereicherung ist
... Sie tragen ihre Dummheit in der ganzen Stadt umher, als wollten
sie gebrauchtes Geschirr verkaufen; sie sind die Gegner der Abgeschiedenheit,
aber auch die Feinde des eigenen Hauses, dessen Schwelle sie frühmorgens
verlassen und widerwillig erst abends wieder betreten; auf sie
passt das Sprichwort: Schön ist es Leute zu sehen und mit
Menschen zu verkehren. Besser wäre es, meine ich, Felsen
und Wälder zu sehen, mit Bären und Tigern zu verkehren."
Francesco Petrarca schrieb diese Worte,
deren heilende Wirkung ich jetzt schon spüre, vor mehr als
600 Jahren. Und wie gut, dass er mir an dieser Stelle erspart,
einen originellen letzten Satz zu formulieren.
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