| Der karge Schein einer Taschenlampe beleuchtet 
                die Seiten einer mehrere Wochen alten Spiegel-Ausgabe, während 
                draußen ein ausdauernder Regen fällt. Glücklicherweise 
                hat sich der Graben, den ich um mein Ein-Mann-Zelt Marke "Hundehütte" 
                gezogen habe, bislang bewährt und die Wassermassen davon 
                abgehalten, meine spärlichen Reiseutensilien und vor allem 
                den kleinen Stapel an Neuerscheinungen neben der Luftmatratze 
                nachhaltig in Mitleidenschaft zu ziehen. Seit zehn Tagen harre ich nun schon auf dem kleinen Campingplatz 
                irgendwo in Europa aus. Ein Vorschuß der Erker-Redaktion 
                machte es möglich, daß ich bereits Mitte Juli mit gepacktem 
                Rucksack und einem Schild "Nach Süden" an der Autobahnauffahrt 
                Haltern-Lavesum stehen konnte. Leider verfolgten mich atlantische 
                Tiefausläufer mit einer maliziösen Beharrlichkeit, daß 
                ich beinahe glauben möchte, mindestens einer der von mir 
                immer wieder gerne beschimpften Verfasser unsäglicher Romane 
                und grauenvoller Gedichte habe zum Wettergott einen erheblich 
                besseren Kontakt als zu den Musen. Und nun rächt sich die 
                Leichtfertigkeit, mit der ich Begriffe wie "Stammelprosa", 
                "poetische Bankrotterklärung" oder "narrativer 
                Super-GAU" benutzt habe, um meinen Kolumnen den richtigen 
                Pfiff zu verleihen. Deshalb lese ich auch seit Tagen nichts anderes 
                als die alten Spiegel, die die anderen Camper in der Kantine, 
                wo ich mir ab und an ein heißes Würstchen und ein Glas 
                Bier gönne, liegen lassen. Von den Neuerscheinungen habe 
                ich bisher nur die Klappentexte zur Kenntnis genommen. Zu groß 
                ist die Furcht, daß beim ersten kritischen Gedanken mein 
                Drainage-System kollabieren würde und ich den Rest des Urlaubs 
                in einem feuchten Schlafsack verbringen müßte. Andererseits 
                darf ich nicht mit leeren Händen heimkehren. Wochenlange 
                Fronarbeit im Lager von Paul Kaczmareks An- und Verkaufladen wäre 
                nötig, um den Vertrauensverlust der Erker-Redaktion 
                wenigstens finanziell zu kompensieren. Diese Vorstellung schreckt 
                so sehr, daß ich flugs den Spiegel beiseite lege 
                und zum ersten Buch greife. Und ich habe gut daran getan. Pablo 
                de Santis' Roman Die Fakultät entwirft die 
                Welt als Bibliothek. Das ist nicht unbedingt neu, aber immer wieder 
                vergnüglich zu lesen. Auf Vermittlung seiner Mutter tritt 
                der dreißigjährige Doktorand der Literaturwissenschaft 
                Esteban Mir� seine erste Stelle an; er wird Assistent des skurrilen 
                Professors Conde, der in einem alten Fakultätsgebäude 
                der Universität Buenos Aires seinen Forschungen über 
                das verschollene Schriftstellergenie Homero Brocca nachgeht. Nun 
                ist gar nicht sicher, ob es diesen Dichter überhaupt gegeben 
                hat, da keine Zeile seines Werkes im Original nachzuweisen ist. 
                Dennoch ist Conde nicht der einzige Wissenschaftler, der an Brocca 
                interessiert ist. Und weder er noch seine Konkurrenten sind zimperlich 
                in der Wahl ihrer Mittel. In dem langsam verfallenden, mit beschriebenem 
                Papier vollgestopften Universitätsgebäude wird Mir� 
                Zeuge bizarrer Vorgänge und kommt, so glaubt er zumindest, 
                einem groß angelegten Wissenschaftsschwindel auf die Spur. 
                Doch was ist in der Welt der Fiktionen eindeutig als Lüge 
                zu identifizieren? De Santis hat eine wunderbar selbstreferentielle 
                Satire auf den Wissenschaftsbetrieb und das Interpretationsgeschäft 
                verfaßt, deren traditionelle Erzähloberfläche 
                der Lektüre im Liegen, zu der ich momentan gezwungen bin, 
                entgegenkommt. Die Beschreibung der ständig von Wasserrohrbrüchen 
                und anderen Katastrophen bedrohten Bibliotheksräume erscheint 
                dabei übrigens ziemlich realistisch, ein Eindruck, den der 
                Autor in einem als Anhang abgedruckten Interview bestätigt. 
                Er habe in diesem Punkte nämlich nichts erfunden, sondern 
                einfach den tatsächlichen Zustand der geisteswissenschaftlichen 
                Fakultät der Universität Buenos Aires geschildert.
 Ganz so rätselhaft wie in Die Fakultät geht es 
                in Susan Colls Roman karlmarx.com 
                nicht zu, obwohl auch hier an absonderlichen Begebenheiten kein 
                Mangel herrscht. Diesmal ist es Ella, Tochter aus reichem Hause 
                und Doktorandin der Politologie, die ihr erster Job an einem obskuren 
                Institut für Ideenforschung in Washington in Verwirrung stürzt. 
                Eine Website mit Karl-Marx-Geschenkartikeln soll sie aufbauen, 
                um der Philosophie des schwer in Verruf geratenen Denkers zu neuem 
                Aufschwung zu verhelfen. Gleichzeitig arbeitet sie an einer Biographie 
                der Marx-Tochter Eleanor. Beide Vorhaben kommen schon deshalb 
                nicht voran, weil sich die Protagonistin in einen britischen Ornithologen 
                mit dem sprechenden Namen Nigel Lark verliebt. Und dies ist nur 
                die Ausgangskonstellation einer immer verwickelter werdenden Romanhandlung, 
                deren Wiedergabe durch Ella immer wieder von teils erfundenen, 
                teils authentischen Anekdoten aus dem Leben von Eleanor Marx unterbrochen 
                wird. Das ist streckenweise sehr amüsant zu lesen und manchmal 
                auch hübsch bissig, aber kaum geeignet, einen tieferen Eindruck 
                zu hinterlassen. Vielleicht ist dies die Art von Literatur, der 
                Kritiker gerne das Attribut "intelligente Unterhaltung" 
                anheften. Doch, ich bin mir ziemlich sicher, daß karlmarx.com 
                in diese Kategorie paßt. Und muß tatsächlich 
                entdecken, daß der Klappentext den Roman ähnlich, nämlich 
                als "intelligentes Buch" einordnet.
 Nun möchte ich eigentlich am liebsten ein richtig dummes 
                Buch lesen, einen Roman, dem ich mich überlegen fühlen 
                kann, um mich für meine mißliche Lage ein wenig zu 
                entschädigen. Denn mittlerweile hat es zwar zu regnen aufgehört, 
                doch dafür muß ich feststellen, daß meine Barschaft 
                zur Neige geht. Die Platzgebühr habe ich zwar für den 
                Rest der Woche bezahlt, so daß ich zumindest ein textiles 
                Dach über dem Kopf habe, doch für Würstchen und 
                Bier ist nicht mehr genug in meinem Brustbeutel. Von meinen Lebensmittelvorräten 
                sind nur noch eine Dose Ravioli und eine Dose Texaseintopf übrig. 
                Nun tut strengste Rationierung not. Mit knurrendem Magen durchforsche 
                ich die restlichen Rezensionsexemplare, als mein Blick auf ein 
                Manesse-Bändchen fällt, das beinahe unter den Spiegel-Heften 
                begraben worden wäre. Glück gehabt! Vielleicht kann 
                mich Dieses obskure Objekt der Begierde, ein Roman des 
                Belle-Epoque-Autors Pierre Louÿs 
                aus dem Jahre 1898, für einige Zeit ablenken. Es handelt 
                sich hier zwar keinesfalls um ein dummes Buch, aber es genügt 
                seinem Zweck aus anderen Gründen, schildert es doch die Qualen 
                unerfüllter Leidenschaft. Um ihn zu warnen, erzählt 
                der Spanier Don Mateo dem französischen Lebemann Andr� St�venol 
                von seiner Liebe zu der blutjungen andalusischen Schönheit 
                Conchita. Denn Conchita ist dieses "obskure Objekt der Begierde", 
                das um so begehrenswerter wird, je mehr es sich seinem Verehrer 
                entzieht. Don Mateo jedenfalls ruiniert sich beinahe seelisch 
                wie auch finanziell, ohne daß Heilung in Sicht wäre. 
                Bemerkenswert scheint mir mehr noch als der Liebeswahn des ständig 
                genasführten Don Mateo die schwerer zu durchschauende Conchita, 
                deren Motive offenkundig nicht allein darin bestehen, ihren Anbeter 
                gehörig zu schröpfen. Doch meine Strategie, als Zeuge 
                des Leidens anderer die eigene Situation erträglicher zu 
                empfinden, schlägt fehl. Schon nach wenigen Kapiteln beginne 
                ich, mich mit dem armen Don Mateo zu identifizieren und fühle 
                Höllenqualen der Eifersucht, als Conchita, nur mit schwarzen 
                Strümpfen bekleidet, vor zahlendem Publikum einen wilden 
                Tanz aufführt. Die Wirkung von Literatur ist eben unberechenbar.
 Am nächsten Morgen verzehre ich zum Frühstück kalte 
                Ravioli und lese das biographische Nachwort der Manesse-Ausgabe. 
                Aufgrund einer Fehldiagnose im festen Glauben, nur noch wenige 
                Jahre zu leben zu haben, gibt der junge Pierre Louÿs innerhalb 
                kürzester Zeit ein Vermögen aus, wird durch seine Romanerfolge 
                wieder wohlhabend und ruiniert sich ab seinem dreißigsten 
                Lebensjahr durch den Kauf teurer und seltener Bücher, die 
                er achtzehn Jahre später teilweise wieder abstoßen 
                muß, um Gläubiger zu besänftigen. "Seine 
                Armut ist bedrückend geworden, aber er trägt sie mit 
                Würde", heißt es im Nachwort, und ich schiebe 
                mir beschämt eine weitere Teigtasche in den Mund.
 Die Sonne scheint, das Zelt ist trocken, der Redaktionsschluß 
                naht. Ich schenke die Dose Texaseintopf den beiden Teenagern im 
                Nachbarzelt und packe meine Sachen zusammen. Bis zur Autobahn 
                ist es nicht weit, und wenn rasch ein Wagen hält, kann ich 
                bereits in einer Stunde zuhause vor dem Fernseher sitzen.
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