Während mich die letzten Ausläufer
eines in toto miserablen Winters zwangen, viel Zeit in meiner
Werkstatt statt auf dem Modellflugplatz zu verbringen, war in
den deutschen Verlagshäusern längst das Frühjahr
angebrochen. Seit Mitte Februar trug mir der Paketbote beinahe
täglich kistenweise Neuerscheinungen ins Haus. Nun lagen
sie, zumeist noch in Schutzfolie verschweißt, aufeinandergestapelt
neben meiner Werkbank. Längst hätte ich mit dem Lesen
beginnen sollen, doch die Vorstellung, anschließend schriftlich
Rechenschaft über meine Lektüre abgeben zu müssen,
hielt mich ab. Manchmal beneidete ich den Schriftsteller Wolfgang
Koeppen, der die ihm regelmäßig zugesandten Neuerscheinungen
aus dem Hause Suhrkamp ungeöffnet in einem Regal verstaute,
um sich mit Taschenbuchkrimis von seiner Schreibblockade abzulenken.
So lungerte ich also in meiner Werkstatt herum, feilte und sägte
vor mich hin und blätterte ab und an in den Feuilletons der
Tageszeitungen, nur um entnervt festzustellen, daß andere
Kritiker offenbar nicht im mindesten in einer meiner vergleichbaren
Produktionskrise steckten. Mitte März hatte ich bereits so
viele Rezensionen, der mittlerweile von Sägespänen verdeckten
Bücher gelesen, daß mir eine eigene Lektüre fast
überflüssig schien. Sollte ich einfach die ganzen Stapel
in ein paar große Kisten packen und ins Antiquariat schaffen?
Die Versuchung war groß, doch der Gedanke an den geizigen
Gebrauchtbuchhändler, der auch für ungelesene Bücher
selten mehr als fünf Mark herauszurücken bereit war,
ließ mich zögern. Ich blies die Späne fort, griff
nach einem schmalen, oben liegenden Bändchen und entfernte
die Schutzfolie. Feuersalamander hieß das Büchlein,
das trotz seiner 112 großzügig bedruckten Seiten behauptete,
ein Roman zu sein. Das müßte doch schnell zu lesen
sein, dachte ich etwas voreilig, und begann eine Lektüre,
die mich mehrere Tage kosten sollte. Als das Buch nach einer Woche
noch immer mit einem nur wenig vorgerückten Lesezeichen versehen
auf der Werkbank lag, griff ich zu strengeren Maßnahmen.
Ich nahm das Bändchen mit in die Küche, aus der ich
zuvor allen Lesestoff inklusive des Quelle-Katalogs und der Supermarktprospekte
entfernt hatte, setzte mich auf einen harten Stuhl und machte
mich an die Arbeit. Nach knapp zwei Stunden konnte ich das Buch
zuklappen, nun sollte es ans Schreiben gehen. Ich war mir nicht
sicher, ob es klug wäre, dem Leser sofort mitzuteilen, daß
es hier einem Autor gelungen war, auf sehr begrenztem Raum eine
schier unendliche Langeweile zu erzeugen, und entschied mich deshalb
dafür, mit einer knappen Wiedergabe des Inhalts zu beginnen.
Da erzählte also ein Schriftsteller davon, wie er in einem
Café saß, vor sich einen Stapel Postkarten. Häufig
erwähnt er, wie er den Stift zückt, um dann doch nicht
mehr als die zwei Worte "Mein Freund ..." zu Papier
zu bringen, eine offensichtliche Schreibhemmung, die mir den armen
Kerl beinahe sympathisch machte. Doch war diese Blockade leider
nur Teil der Fiktion. In Wirklichkeit, und dies mußte ich
meinen Lesern mitteilen, lag hier wieder einmal ein als Erzählung
getarntes Traktat über die Unmöglichkeit des Erzählens
vor. Aber konnte man das Buch deswegen verurteilen. Sicher gab
es Literaturfreunde, die an solchen Spielereien ihre Freude haben
würden. Ich selbst hatte schon deswegen nicht das Gefühl,
meine Zeit mit Jan Peter Bremers Text
vertan zu haben, da ohne ihn ja mein eigener Text, von dem ich
hoffte, daß er in Bälde vor mir liegen würde,
gar nicht entstehen könnte. Ja, so dachte ich und irrte.
Denn anstatt mich ohne Umwege an meinen Computer zu begeben, eilte
ich zum Bücherregal, nahm einen Band mit Kafkas Erzählungen
heraus, begann zu lesen und hatte schon nach dem kurzen Prosastück
"Gespräch mit dem Betrunkenen" Jan Peter Bremer
und seinen Feuersalamander vollkommen vergessen.
Am nächsten Tag griff ich voll des Tatendrangs wieder in
meinen Bücherstapel und zog die Jahrhundertchronik,
eine neue, von Walter Hinck zusammengestellte
Anthologie mit deutschen Erzählungen des 20. Jahrhunderts
heraus. Hier ließ sich wunderbar überprüfen, wie
souverän die Erzählkunst mit ihrer, seit Beginn der
Moderne immer wieder proklamierten Krise umgegangen war. Mir war
es schon immer ein wenig komisch vorgekommen, wenn junge Schriftsteller
zu Beginn des 21. Jahrhunderts die alten Slogans der historischen
Avantgarde als allerneueste Erkenntnisse präsentierten. Ein
schönes Beispiel hatte neulich das literarische Wunderkind
Zoe Jenny geliefert, als sie in einem Interview erläuterte,
daß "diese lineare Erzählweise" heute nicht
mehr gehe, da "unsere Wahrnehmung" "mehr und mehr
fragmenthaft" werde. Und so müsse man auch schreiben.
Tullux, hätte meine jüngst verstorbene Tante Elsbeth,
die eine passionierte Leserin dicker, chronologisch erzählter
Schicksalsromane war, da gesagt. Aufregend sollten die Bücher
nämlich sein, aber bitte nicht verwirrend. Ihr reichte es
schließlich schon, wenn Onkel Alfred beim Fernsehen ständig
mit der Fernbedienung spielte. So radikal wie Tante Elsbeth war
ich natürlich nicht, doch mußte ich mir eingestehen,
daß ich nicht selten flott erzählte Kolportage jenen
Büchern vorzog, die mit jedem Satz ihren Kunstanspruch vorführten.
Glücklicherweise war schon das nächste Buch, das ich
blind vom Stapel nahm, ein wirklicher Reißer, den ich in
kürzester Zeit beenden konnte. Allerdings setzte Martin
Suters Roman Die dunkle Seite des Mondes ganz auf
Handlung und erschwerte damit die obligatorische Zusammenfassung
des Inhalts. Und sollte ich den Lesern erklären, daß
der Titel des Buches auf die alte Pink-Floyd-Platte anspielt?
Es reichte wahrscheinlich, wenn ich den Helden vorstellte, einen
Wirtschaftsanwalt namens Urs Blank, der von einem beruflichen
Erfolg zum nächsten eilt und sich doch zunehmend unzufrieden
fühlt. Er beginnt eine Affäre mit der halb so alten
Lucille, die an ihrem Flohmarktstand indischen Schnickschnack,
ein besseres Wort fiel mir nicht ein, verkauft. Bei einem gemeinsamen
Experiment mit halluzinogenen Pilzen gerät Blank auf einen
Trip, der sein Leben verändert. Aus dem gewieften, immer
kontrolliert agierenden Experten für Fusionsverhandlungen
wird ein instinktgeleiteter Tatmensch, der jedem Gefühlsimpuls
sofort nachgibt, mit schrecklichen Konsequenzen für seine
Umgebung. Bank flieht in den Wald, wo er eine Art privates Survival-Training
absolviert und nach einem Weg sucht, um seine hochgefährliche
Persönlichkeitsveränderung rückgängig zu machen.
Doch schon bald ist ihm jemand auf der Spur, der ebenfalls über
einen ausgeprägten Killerinstinkt verfügt. So, das war
genug, schließlich wollte ich nicht alles verraten. Aber
warum hatte mir das Buch so großen Spaß gemacht. An
der Handlung allein konnte es nicht gelegen haben, schließlich
hatte ich reichlich Erfahrung mit Romanen, in denen ein guter
Plot am mangelnden Erzählvermögen des Autors zerschellte.
Und Martin Suters Roman war als moderne Variation der Geschichte
von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die ihren Reiz aus der Gegenüberstellung
von "Zivilisation" und "Natur" bezieht, auch
nicht gerade originell. Es war dem Autor aber gelungen, seine
Idee so überzeugend und hochspannend in Szene zu setzen,
daß ich mich über die nicht seltenen auftauchenden
Klischees eher gefreut als geärgert hatte.
Flugs notierte ich einige Sätze als Gedächtnisstütze
auf dem Rand einer alten Zeitung und griff zu Matthias
Polityckis Fortsetzung seines Weiberromans, der
mir vor einiger Zeit aus vollkommen literaturfernen Gründen
einigen Spaß gemacht hatte. Ein Mann von vierzig Jahren
war ein Buch, das man Lesern empfehlen konnte, die sich der germanistischen
Editionsphilologie in Haßliebe verbunden fühlen und
gerne unter einer mutwillig zersplitterten Textoberfläche
nach der Geschichte suchen. Wichtige Voraussetzungen für
eine genußvolle Lektüre waren auch das Vergnügen
an Wiedererkennungseffekten und eine gewisse Vertrautheit mit
der Alltagsphänomenologie der späten neunziger Jahre.
Mir ging es leider so, daß mich das Buch an viele Dinge
erinnerte, die ich am liebsten längst vergessen hätte,
ob Tamagotchi-Manie oder Guildo Horn, dessen Hit "Ich find'
Schlager toll" übrigens keineswegs, wie in Fußnote
9 behauptet, eine Coverversion von Gary Glitters "Rock 'n'
Roll" ist, sondern vielmehr die Mitgrölhymne "I
love Rock 'n' Roll" von Joan Jett and the Blackhearts zur
Vorlage hat. Aber gehörten solche "Richtigstellungen"
überhaupt in eine Rezension? Würde ich nicht vor der
Welt als kleinkarierter Besserwisser dastehen? Und warum ging
mir nun dieser verfluchte Refrain nicht mehr aus dem Kopf?
Heute würde ich diese Fragen nicht mehr beantworten können.
Ich ging in die Küche, schüttete mir ein Glas Buttermilch
ein und nahm die Zeitschrift TV Spielfilm mit dem Fernsehprogramm
der übernächsten Woche zur Hand.
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