Fritz Müller-Zech 39
Die Fritz-Müller-Zech-Kolumne
 

Während mich die letzten Ausläufer eines in toto miserablen Winters zwangen, viel Zeit in meiner Werkstatt statt auf dem Modellflugplatz zu verbringen, war in den deutschen Verlagshäusern längst das Frühjahr angebrochen. Seit Mitte Februar trug mir der Paketbote beinahe täglich kistenweise Neuerscheinungen ins Haus. Nun lagen sie, zumeist noch in Schutzfolie verschweißt, aufeinandergestapelt neben meiner Werkbank. Längst hätte ich mit dem Lesen beginnen sollen, doch die Vorstellung, anschließend schriftlich Rechenschaft über meine Lektüre abgeben zu müssen, hielt mich ab. Manchmal beneidete ich den Schriftsteller Wolfgang Koeppen, der die ihm regelmäßig zugesandten Neuerscheinungen aus dem Hause Suhrkamp ungeöffnet in einem Regal verstaute, um sich mit Taschenbuchkrimis von seiner Schreibblockade abzulenken.
So lungerte ich also in meiner Werkstatt herum, feilte und sägte vor mich hin und blätterte ab und an in den Feuilletons der Tageszeitungen, nur um entnervt festzustellen, daß andere Kritiker offenbar nicht im mindesten in einer meiner vergleichbaren Produktionskrise steckten. Mitte März hatte ich bereits so viele Rezensionen, der mittlerweile von Sägespänen verdeckten Bücher gelesen, daß mir eine eigene Lektüre fast überflüssig schien. Sollte ich einfach die ganzen Stapel in ein paar große Kisten packen und ins Antiquariat schaffen? Die Versuchung war groß, doch der Gedanke an den geizigen Gebrauchtbuchhändler, der auch für ungelesene Bücher selten mehr als fünf Mark herauszurücken bereit war, ließ mich zögern. Ich blies die Späne fort, griff nach einem schmalen, oben liegenden Bändchen und entfernte die Schutzfolie. Feuersalamander hieß das Büchlein, das trotz seiner 112 großzügig bedruckten Seiten behauptete, ein Roman zu sein. Das müßte doch schnell zu lesen sein, dachte ich etwas voreilig, und begann eine Lektüre, die mich mehrere Tage kosten sollte. Als das Buch nach einer Woche noch immer mit einem nur wenig vorgerückten Lesezeichen versehen auf der Werkbank lag, griff ich zu strengeren Maßnahmen. Ich nahm das Bändchen mit in die Küche, aus der ich zuvor allen Lesestoff inklusive des Quelle-Katalogs und der Supermarktprospekte entfernt hatte, setzte mich auf einen harten Stuhl und machte mich an die Arbeit. Nach knapp zwei Stunden konnte ich das Buch zuklappen, nun sollte es ans Schreiben gehen. Ich war mir nicht sicher, ob es klug wäre, dem Leser sofort mitzuteilen, daß es hier einem Autor gelungen war, auf sehr begrenztem Raum eine schier unendliche Langeweile zu erzeugen, und entschied mich deshalb dafür, mit einer knappen Wiedergabe des Inhalts zu beginnen.
Da erzählte also ein Schriftsteller davon, wie er in einem Café saß, vor sich einen Stapel Postkarten. Häufig erwähnt er, wie er den Stift zückt, um dann doch nicht mehr als die zwei Worte "Mein Freund ..." zu Papier zu bringen, eine offensichtliche Schreibhemmung, die mir den armen Kerl beinahe sympathisch machte. Doch war diese Blockade leider nur Teil der Fiktion. In Wirklichkeit, und dies mußte ich meinen Lesern mitteilen, lag hier wieder einmal ein als Erzählung getarntes Traktat über die Unmöglichkeit des Erzählens vor. Aber konnte man das Buch deswegen verurteilen. Sicher gab es Literaturfreunde, die an solchen Spielereien ihre Freude haben würden. Ich selbst hatte schon deswegen nicht das Gefühl, meine Zeit mit Jan Peter Bremers Text vertan zu haben, da ohne ihn ja mein eigener Text, von dem ich hoffte, daß er in Bälde vor mir liegen würde, gar nicht entstehen könnte. Ja, so dachte ich und irrte. Denn anstatt mich ohne Umwege an meinen Computer zu begeben, eilte ich zum Bücherregal, nahm einen Band mit Kafkas Erzählungen heraus, begann zu lesen und hatte schon nach dem kurzen Prosastück "Gespräch mit dem Betrunkenen" Jan Peter Bremer und seinen Feuersalamander vollkommen vergessen.
Am nächsten Tag griff ich voll des Tatendrangs wieder in meinen Bücherstapel und zog die Jahrhundertchronik, eine neue, von Walter Hinck zusammengestellte Anthologie mit deutschen Erzählungen des 20. Jahrhunderts heraus. Hier ließ sich wunderbar überprüfen, wie souverän die Erzählkunst mit ihrer, seit Beginn der Moderne immer wieder proklamierten Krise umgegangen war. Mir war es schon immer ein wenig komisch vorgekommen, wenn junge Schriftsteller zu Beginn des 21. Jahrhunderts die alten Slogans der historischen Avantgarde als allerneueste Erkenntnisse präsentierten. Ein schönes Beispiel hatte neulich das literarische Wunderkind Zoe Jenny geliefert, als sie in einem Interview erläuterte, daß "diese lineare Erzählweise" heute nicht mehr gehe, da "unsere Wahrnehmung" "mehr und mehr fragmenthaft" werde. Und so müsse man auch schreiben. Tullux, hätte meine jüngst verstorbene Tante Elsbeth, die eine passionierte Leserin dicker, chronologisch erzählter Schicksalsromane war, da gesagt. Aufregend sollten die Bücher nämlich sein, aber bitte nicht verwirrend. Ihr reichte es schließlich schon, wenn Onkel Alfred beim Fernsehen ständig mit der Fernbedienung spielte. So radikal wie Tante Elsbeth war ich natürlich nicht, doch mußte ich mir eingestehen, daß ich nicht selten flott erzählte Kolportage jenen Büchern vorzog, die mit jedem Satz ihren Kunstanspruch vorführten. Glücklicherweise war schon das nächste Buch, das ich blind vom Stapel nahm, ein wirklicher Reißer, den ich in kürzester Zeit beenden konnte. Allerdings setzte Martin Suters Roman Die dunkle Seite des Mondes ganz auf Handlung und erschwerte damit die obligatorische Zusammenfassung des Inhalts. Und sollte ich den Lesern erklären, daß der Titel des Buches auf die alte Pink-Floyd-Platte anspielt? Es reichte wahrscheinlich, wenn ich den Helden vorstellte, einen Wirtschaftsanwalt namens Urs Blank, der von einem beruflichen Erfolg zum nächsten eilt und sich doch zunehmend unzufrieden fühlt. Er beginnt eine Affäre mit der halb so alten Lucille, die an ihrem Flohmarktstand indischen Schnickschnack, ein besseres Wort fiel mir nicht ein, verkauft. Bei einem gemeinsamen Experiment mit halluzinogenen Pilzen gerät Blank auf einen Trip, der sein Leben verändert. Aus dem gewieften, immer kontrolliert agierenden Experten für Fusionsverhandlungen wird ein instinktgeleiteter Tatmensch, der jedem Gefühlsimpuls sofort nachgibt, mit schrecklichen Konsequenzen für seine Umgebung. Bank flieht in den Wald, wo er eine Art privates Survival-Training absolviert und nach einem Weg sucht, um seine hochgefährliche Persönlichkeitsveränderung rückgängig zu machen. Doch schon bald ist ihm jemand auf der Spur, der ebenfalls über einen ausgeprägten Killerinstinkt verfügt. So, das war genug, schließlich wollte ich nicht alles verraten. Aber warum hatte mir das Buch so großen Spaß gemacht. An der Handlung allein konnte es nicht gelegen haben, schließlich hatte ich reichlich Erfahrung mit Romanen, in denen ein guter Plot am mangelnden Erzählvermögen des Autors zerschellte. Und Martin Suters Roman war als moderne Variation der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die ihren Reiz aus der Gegenüberstellung von "Zivilisation" und "Natur" bezieht, auch nicht gerade originell. Es war dem Autor aber gelungen, seine Idee so überzeugend und hochspannend in Szene zu setzen, daß ich mich über die nicht seltenen auftauchenden Klischees eher gefreut als geärgert hatte.
Flugs notierte ich einige Sätze als Gedächtnisstütze auf dem Rand einer alten Zeitung und griff zu Matthias Polityckis Fortsetzung seines Weiberromans, der mir vor einiger Zeit aus vollkommen literaturfernen Gründen einigen Spaß gemacht hatte. Ein Mann von vierzig Jahren war ein Buch, das man Lesern empfehlen konnte, die sich der germanistischen Editionsphilologie in Haßliebe verbunden fühlen und gerne unter einer mutwillig zersplitterten Textoberfläche nach der Geschichte suchen. Wichtige Voraussetzungen für eine genußvolle Lektüre waren auch das Vergnügen an Wiedererkennungseffekten und eine gewisse Vertrautheit mit der Alltagsphänomenologie der späten neunziger Jahre. Mir ging es leider so, daß mich das Buch an viele Dinge erinnerte, die ich am liebsten längst vergessen hätte, ob Tamagotchi-Manie oder Guildo Horn, dessen Hit "Ich find' Schlager toll" übrigens keineswegs, wie in Fußnote 9 behauptet, eine Coverversion von Gary Glitters "Rock 'n' Roll" ist, sondern vielmehr die Mitgrölhymne "I love Rock 'n' Roll" von Joan Jett and the Blackhearts zur Vorlage hat. Aber gehörten solche "Richtigstellungen" überhaupt in eine Rezension? Würde ich nicht vor der Welt als kleinkarierter Besserwisser dastehen? Und warum ging mir nun dieser verfluchte Refrain nicht mehr aus dem Kopf?
Heute würde ich diese Fragen nicht mehr beantworten können. Ich ging in die Küche, schüttete mir ein Glas Buttermilch ein und nahm die Zeitschrift TV Spielfilm mit dem Fernsehprogramm der übernächsten Woche zur Hand.

 

Jan Peter Bremer: Feuersalamander. Roman. 112 Seiten. Berlin Verlag. Berlin 2000. 28,00 DM

Walter Hinck (Hrsg.): Jahrhundertchronik. Deutsche Erzählungen im 20 Jahrhundert. 635 Seiten. Reclam Verlag. Stuttgart 2000. 32,80 DM

Martin Suter: Die dunkle Seite des Mondes. Roman. 314 Seiten. Diogenes. Zürich 2000. 39,90 DM

Matthias Politycki: Ein Mann von vierzig Jahren. Roman. 382 Seiten. Luchterhand. München 2000. 44,00 DM