Zwei Anzeigen im Feuilleton der Zeit:
Ganz unten links auf der Seite eine vierzeilige Annonce, mit der
"Deutschlands 1. Eishockey-Schiedsrichterin" einen Verlag
für ihre "lyrischen Gedichte" sucht, und auf der
rechten Seite das Bild eines bebrillten Mannes im dunklen Pullover,
der - mahnend oder beschwichtigend - die Hand hebt. Es ist der
Schriftsteller Johannes Mario Simmel,
dessen neuer Roman Liebe ist die letzte Brücke hier
vom Droemer Verlag angepriesen wird. So ist die Welt: Während
Simmels nicht versiegender Mitteilungsdrang vom Spiegel
mit den in der Anzeige zitierten Worten "Hurra, er schreibt
noch!" kommentiert wird, werden sich bei der lyrischen Eishockey-Dame
wohl nur jene Verlage melden, deren Anzeigen man an anderer Stelle
der gleichen Zeitung in der Rubrik "Für Ihre Manuskripte"
findet.
Mir ist es eigentlich vollkommen egal, ob Simmel Romane oder Eishockeygedichte
schreibt. Daß er überhaupt an dieser Stelle auftaucht,
liegt an einem Interview, das der weltgewandte Autor vor einiger
Zeit dem Kulturblatt Bunte gegeben hat. Da Liebe ist
die letzte Brücke offenbar von der Welt der Computer
handelt, hatten die fixen Bunte-Journalisten Simmel mit
einem sogenannten Notebook konfrontiert und ihn gefragt, ob er
so ein Maschinchen bedienen könne. Nein, meinte Simmel, von
Computern habe er eigentlich keine Ahnung, er sei aber bei der
Recherche zu seinem Roman von den besten Experten beraten worden.
Und dann erklärte er das vielbeachtete "Jahr-2000-Problem".
Das habe nämlich damit zu tun, daß man die Computer
immer kleiner habe machen wollen und sich, um den daraus resultierenden
Platzmangel zu kompensieren, auf die letzten beiden Ziffern der
Jahreszahlen beschränkt habe. Aber vielleicht galt für
das Interview ja auch schon Simmels dem Roman, wenn man Rezensionen
glauben darf, vorangestellter Hinweis, er habe bewußt an
manchen Stellen die technischen Tatsachen verändert, um Computer-Terroristen
keine Informationen zu liefern.
Apropos Rezensionen: Tatsächlich werden die Romane Simmels
seit einigen Jahren, genauer gesagt, seit einige Kritiker ihn
zum Balzac unserer Tage küren wollten, tatsächlich im
Feuilleton seriöser Zeitungen besprochen. Und das finde ich
als alter Freund gewisser Schundliteratur schon wieder gut. Doch
warum man schwülstige Geschichten erfinden muß, um
auf Probleme dieser Welt aufmerksam zu machen, will mir nicht
so recht einleuchten. Vielleicht gerät ein Schriftsteller
nur auf diese Weise in den Ruf eines Mahners und Aufklärers,
indem er nämlich der schlechten Wirklichkeit noch die schlechte
Literatur zur Seite stellt.
Gar keine Geschichten mehr erfinden zu wollen, scheinen mir dagegen
manche Jungautoren, allen voran der hübsche Benjamin
von Stuckrad-Barre, dessen vorgebliche Erzählung livealbum
aus den aneinandergereihten, vielleicht ein wenig ausgeschmückten
Erlebnisberichten von seiner ersten Lesereise besteht. St.-B.
ist ein versierter Schreiber, so daß die Lektüre seines
Büchleins streckenweise durchaus unterhaltsam ist, wobei
mir ein liebevolles Porträt des Professorendarstellers Dietrich
Schwanitz am besten gefallen hat. Doch wie bei den Rock-Livealben
der siebziger Jahre gibt es auch in diesem literarischen Äquivalent,
vor allem gegen Ende, manch öde Passage. Aber die kann man
ja überblättern, schließlich hat das eine ganze
Plattenseite füllende Stück "Space Trucking"
auf Deep Purples Made in Japan auch nie jemand komplett
angehört.
Womit ich einmal mehr bei der Popmusik angelangt bin, für
jemanden meines Jahrgangs ein abendfüllendes Thema. So erinnere
ich mich gern an jenen Tag im Jahre 1974, als ich zum ersten Mal
ein Exemplar der Musikzeitschrift Sounds erwarb. Das Blatt
konnte weder mit Riesenpostern noch mit Autogrammadressen aufwarten,
benutzte aber in der Überschrift eines Artikels über
eine Rockgruppe gleich zwei Fremdworte. Da stand tatsächlich:
"Grateful Dead - Kontinuität als Konsequenz". Ich
habe längst vergessen, welchen Inhalts der folgende Aufsatz
war, erinnere mich aber noch immer an das Erstaunen darüber,
daß Popmusik tatsächlich Gegenstand eines intellekuellen
Diskurs sein konnte. Mit diesem Wissen, das war klar, war man
denjenigen, die zu Sweet, Mud und T. Rex die Köpfe schüttelten,
haushoch überlegen. Erst später bemerkte ich, daß
die intellektuelle Pop-Plauderei bereits in den Sechzigern begonnen
hatte und, dies gilt für die Zeitschrift Sounds im
besonderen, ihren Ursprung im schon immer eher ernsthaften Umgang
der Jazz-Fans mit ihrer Musik hatte. Denjenigen, die immer noch
am kritischen Nachdenken über ihre Leidenschaft interessiert
sind, empfehle ich die Halbjahresschrift testcard,
die den programmatischen Untertitel "Beiträge zur Popgeschichte"
trägt. In den letzten Ausgaben 6 und 7 geht es um das spannende
Verhältnis von Pop und Literatur. Im Editorial zu testcard
# 7 finden sich übrigens die ebenso wahren wie resigniert
klingenden Worte, daß es ein Irrtum sei, "heute noch
innerhalb des Mainstream-Pop auch nur einen Funken kritisches
Bewußtsein zu erwarten". Das war, wenn mir die Bemerkung
gestattet ist, auch schon vor 25 Jahren so. Noch heute bin ich
froh, daß meine Englischkenntnisse damals zu schlecht waren,
um den Text von "Highway Star" ("Ooo, it's a killing
machine ...", ebenfalls Deep Purple) zu verstehen.
Ein vornehmlich affirmatives Verhältnis zur Popgeschichte
pflegt eine Zeitschrift mit dem ebenfalls programmatischen Titel
Good Times. In diesem Zweimonatsmagazin schreiben
Enthusiastinnen und Experten für Expertinnen und Enthusiasten,
nicht immer stilistisch elegant, aber mit großem Engagement.
Die oben skizzierten Grabenkämpfe zwischen der "progressiven"
und der "kommerziellen" Fraktion scheinen endgültig
vorüber, Hauptsache alt ist die Devise. Ob Glamrock oder
Jethro Tull, Ten Years After oder The Lords, hier werden Fans
bedient, die sich auch gerne mal auf Oldie-Festivals vergewissern,
wie Suzie Quatro wohl heute aussehen mag.
Ich habe übrigens neulich größere Bestände
meiner Schallplattensammlung verkauft, unter anderem das Stones-Doppelalbum
Exile on Main Street, dem ich kurze Zeit später in Thomas
Brussigs köstlichem Roman über eine Jugend im Schatten
der Berliner Mauer, Am kürzeren Ende der Sonnenallee,
wiederbegegnen sollte. 50 Mark-West oder 300 Mark-Ost soll nämlich
der fanatische Stones-Fan Wuschel für die Schallplatten "in
astreiner Qualität von einer englischen Pressung" hinblättern,
womit das Ziel seiner Träume in unerreichbare Ferne gerückt
wird. Wie Wuschel doch noch in den Besitz des Albums gelangt und
wie es ihm sogar das Leben rettet, das und auch die anderen Geschichten
des Romans erzählt Brussig ebenso humorvoll wie lakonisch.
Daß die DDR dabei als ein in seinen bürokratischen Exzessen
eher lachhafter denn böser diktatorischer Staat erscheint,
ist dem Autor durchaus bewußt, wenn er seinen Ich-Erzähler
Micha zum Ende resümieren läßt: "Wer wirklich
bewahren will, was geschehen ist, der darf sich nicht den Erinnerungen
hingeben." |