| Der Hörbuch-Hype ist ein seltsames Phänomen. 
                In den letzten zehn Jahren hat sich der Umsatz in diesem Marktsegment 
                verzwanzigfacht. Spezialisierte Verlage sind wie Pilze aus dem 
                Boden geschossen, und die Menge an Neuerscheinungen ist kaum mehr 
                überschaubar. Die Frage, was für den plötzlichen 
                Erfolg des Hörbuchs verantwortlich ist, drängt sich 
                auf, lässt sich aber kaum beantworten. Verschiedene Faktoren 
                dürften daran beteiligt sein. Einer aber kann von vornherein 
                ausgeschlossen werden: Der Erfolg des Hörbuchs ist nicht 
                Ausdruck zunehmender Leseunlust. Niemand, der einmal ein Hörbuch 
                gehört hat, kann ernsthaft glauben, die Hörversion eines 
                Romans - sei sie auch gekürzt - wäre schneller und einfacher 
                verdaulich als das Original. Und Klassiker-geplagte Schüler 
                rennen nicht in Massen in die Buchhandlungen, um sich augenschonende 
                Faust-Hörbücher zu kaufen.Vielmehr sind die Bestseller auf den Buch- und Hörbuchhitlisten 
                nahezu identisch. Was gehört wird, wird also auch gelesen. 
                Umgekehrt bedeutet das: Was gelesen wird, will auch gehört 
                werden. Gefällt ein Buch, so hat man es früher zweimal 
                gelesen. Nun aber ergreift man die Möglichkeit, das Erlebnis 
                in der Wiederholung mit etwas Neuem und zugleich Fremdem zu würzen: 
                der Stimme und Interpretation eines Vorlesers. So bleibt einem 
                jenes "das hatte ich mir ganz anders vorgestellt" erspart, 
                das jede Literaturverfilmung unweigerlich begleitet. Gleichwohl 
                werden die Bilder im Kopf durch den Vortrag angeregt, modifiziert 
                und intensiviert. Allerdings auf behutsame Art, ohne dass die 
                visuellen Vorstellungen, die man sich beim Lesen gemacht hat, 
                verdrängt würden.
 Dennoch: Ebenso lagen die Dinge vor dreißig Jahren. Hat 
                der Wandel vielleicht damit zu tun, dass aus der "Sprechplatte" 
                ein Hörbuch geworden ist, was gemeinhin heißt: eine 
                CD? Eher weniger. Ob gepresst oder gebrannt, das gesprochene Wort 
                ist nicht billiger geworden. Und auch die Verbreitung des CD-Spielers 
                bis ins Auto hinein dürfte kaum eine Rolle spielen. Es gab 
                ja früher ein Speichermedium, dass man MC nannte und das 
                in jedem guten Wagen im Dutzend unter den Bänken lag oder 
                als Bandsalat aus Mülleimern der Autobahnraststätten 
                spross.
 Tatsächlich scheint die Annahme durchaus plausibel, dass 
                ein paar findige Strategen des Buchmarkts ein Bedürfnis entdeckt 
                oder zumindest verstärkt oder überhaupt erst geweckt 
                haben, das lange Zeit keiner erkannte oder für ein solches 
                ansah. Nicht zufällig fällt die zunehmende Verbreitung 
                des Hörbuchs mit dem Entstehen der Lesebühnenkultur 
                in Deutschland zusammen. Die Zeit war also reif - für etwas 
                ganz Altes, etwas aus den Anfängen der Zivilisation, für 
                etwas, womit heute noch jede Bildung beginnt.
 Man braucht hier nicht auf die oralen Ursprünge der Dichtung 
                hinzuweisen, aber vergessen wird leicht, dass der erste Zugang 
                zur Literatur - im Vorschulalter - übers Ohr geschieht, über 
                das Vorlesen und durch Hörspiele und Hörbücher 
                pour les enfants. Vielleicht musste man den Leuten erst klarmachen, 
                dass sie auch als Erwachsene fähig sind, Freude dabei zu 
                empfinden, etwas vorgelesen zu bekommen. Und vielleicht ist bei 
                zunehmendem Radiogedudel und Fernsehgeplapper der Wunsch größer 
                geworden, sich auf das gesprochene, wohlgesetzte und wohlartikulierte 
                Wort wieder stärker zu konzentrieren.
 Wollte man die Geschichte des Hörbuchs schreiben, so eigneten 
                sich diese Fragen höchstens als Vorgeschichte für etwas, 
                das eigentlich eine Geschichte der Vorleser sein müsste. 
                Aber dafür ist nicht die Zeit, denn es gibt noch keine Ästhetiken 
                und Poetiken des Vorlesens, keine Schulen, Strömungen und 
                Epochen des gesprochenen Worts. Und ohne diese, ohne bündeln 
                und klassifizieren zu können, setzt sich kein Historiker 
                an den Schreibtisch.
 Der auf CD gebrannte Vortrag ist in höchstem Maße individualistisch, 
                er hat keine Tradition und kommt ohne Vorbilder aus. Ob sich dieser 
                Zustand einmal ändern wird, ist fraglich. In einer Hinsicht 
                aber wäre es durchaus wünschenswert: Gewisse Standardanforderungen 
                bräuchten nicht mehr diskutiert zu werden. So wie jeder Handwerker 
                eine Ausbildung erfolgreich absolviert haben muss und jeder Dichter 
                sich mit anderen Dichtern auseinandergesetzt haben sollte, könnte 
                man auch von jemandem, der als Vorleser tätig wird, verlangen, 
                dass er sich einer Sprecherziehung unterzogen oder sich zumindest 
                an einer Reihe "klassischer" Hörbücher autodidaktisch 
                gebildet hat. Das ist natürlich alles halbutopische Träumerei 
                und hat den unschönen Beigeschmack kanonisierender Normativität. 
                Doch gewisse Hörerlebnisse bringen einen auf solche Gedanken.
 Die Rede ist von Produkten, die allein auf die Zugkraft bekannter 
                Namen setzen, "bekannt aus Funk und Fernsehen" möchte 
                man hinzusetzen, denn gemeint sind nicht jene arrivierten, selbst 
                jedem Hörkostverächter geläufigen Obervorleser 
                wie Christian Brückner, Harry Rowohlt, Otto Sander oder Gert 
                Westphal selig, sondern diejenigen Stars, die doch nur Sternchen 
                sind und ihren Ruhm durch alle möglichen Attribute oder Defizite, 
                nur nicht durch die virtuose Beherrschung einer schönen Stimme 
                erworben haben.
 Der mit dem plötzlichen Erfolg des Mediums Hörbuch entstandene 
                enorme und kaum zu befriedigende Bedarf an Sprechern ist allerdings 
                weder Erklärung noch Entschuldigung für die Vergabepolitik 
                mancher Verlage. Dass Verkaufszahlen und Bekanntheitsgrad des 
                Vorlesers in engem Verhältnis stehen, scheint nahe liegend, 
                und man kann einem profitorientierten Unternehmen kaum einen Vorwurf 
                machen, verpflichtet es eine Viva-Moderatorin oder den Darsteller 
                einer Vorabendsoap, um dem neuen Buch Stimme zu verleihen. Solche 
                Produkte, die ihr Zielpublikum punktgenau im Auge haben, sind 
                meist wenig vergnüglich, denn die Herren und Damen Vorleser 
                erfüllen selten die gewünschten Mindeststandards. Ihnen 
                fehlt nicht nur der intellektuelle Zugriff auf ein Werk, ein tieferes 
                oder überhaupt "eigenes" Verstehen, das für 
                die Formung des Vortrags unerlässlich ist, ihnen geht auch 
                handwerkliches Basiswissen ab, jegliche Idee von den vielfältigen 
                Möglichkeiten menschlicher Artikulation. Die Fähigkeit 
                zur Feineinstellung der Phrasierung oder dynamischen Gestaltungswillen 
                lässt zum Beispiel Charlotte Roche in ihrer Lesung von Nick 
                McDonells Zwölf nicht erkennen, ja, sie lässt 
                nicht einmal durchscheinen, dass sie existieren.
 Doch nicht jeder Promi liest schlecht. Und gerade Schauspieler 
                machen sich oft ernsthaft Gedanken über das Wie des Sprechens 
                und den Schauspielschulen des Landes, oder zumindest den Sprecherziehern 
                dort, einige Ehre, Boris Aljinovic und Florian Lukas mit ihrem 
                lebendigen Vortrag von Jonathan Safran Foers Alles ist erleuchtet 
                etwa (es sei noch eine weibliche Sprecherin erwähnt, eine 
                Schauspielerin, die zu lesen versteht: Nina Hoss).
 Die Hörbuchkritik ist in der zugleich vorteilhaften und misslichen 
                Lage, dass es keine festen Begrifflichkeiten für die Beurteilung 
                von Hörbüchern gibt. So herrscht eine Freiheit vor, 
                die zu glücklichen und überraschenden Texten führen 
                kann, die aber auch, mangels diskursiver Orientierungspunkte, 
                ständig Gefahr läuft, am Leser vorbeizuschreiben. Darum 
                wäre es zumindest nicht verdammenswert, bildete sich etwas 
                aus, was als Referenzrahmen für die Produktion, Rezeption 
                und Kritik von Hörbüchern gelten könnte. Und dazu 
                gehörte eben auch, den Sprechern eine Gleichrangigkeit zu 
                den Autoren einzuräumen und sie nicht, wie man es immer noch 
                gerne mit den Übersetzern tut, zu Handlangern zu degradieren. 
                So ließen sich, redete man von Qualität, die Namen 
                Dieter Mann, Ulrich Matthes, Ulrich Mühe oder Helmut Vogel 
                einsetzen. Irgendwann wüssten dann nicht nur Kenner, woran 
                sie sind. Nennen wir es Vorlesekultur.
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