Am Erker 70

 

 
Texte
Am Erker 70, Münster, Dezember 2015
 

Karsten Redmann
Das Foto

Nach Stunden beschwerlichen Aufstiegs, über Geröllfelder und steile Pfade hinweg, hatten Alina und Zoe endlich den Gipfel erreicht. Unter ihnen lagen, halb im Nebel, rot und braun gefärbte Buchen- und Eichenwälder, darunter das Tal mit den verstreuten Bauernhöfen, den Weiden mit dem Fleckvieh und den abgezirkelten Feldern. Über den Feldern, weit über den hohen Tannen mit ihren geraden Stämmen und ausladenden Ästen, segelten Schwalben, glitten geräuschlos über Himmelblau, während Trecker lärmend über Kieswege fuhren und kleine spitze Steine durch die Luft stoben. Wanderer traten schnell zur Seite, machten Platz, murmelten leise vor sich hin, ihre Spazierstöcke in den weichen Kiesboden gedrückt. Etwas abseits gelegen: der Ortskern mit den vielen Gästehäusern, den rauchenden Schornsteinen, parkenden Autos. Und zwischen all dem: diese ungewöhnlich stille Betriebsamkeit, die dem Ort eine Richtung gab, ihn sich ausbreiten ließ, über umliegende Felder hinweg und Kieswege, raumgreifend, zivilisatorisch.
Zufrieden blinzelten sie in die Frühherbstsonne, die ihre Gesichter wärmte, und lachten, ja lachten beide ausgelassen in die Kamera, Alina, den Kopf etwas zur Seite geneigt, und Zoe, die sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht strich. 
Das kleine Licht der Kamera blinkte in immer kürzeren Abständen, bis die Automatik schließlich auslöste, Zoe aufsprang, die Kamera griff, das gespeicherte Bild begutachtete und es Alina zeigte. Im Hintergrund der Fotografie war das Gipfelkreuz zu sehen, das sich über ihren kapuzenbedeckten Köpfen aufbäumte und im orangenen Licht der Sonne metallisch glänzte. Alina betrachtete den Bildausschnitt und sah sich dann die vorhergehenden Motive an. Sie ließ sich Zeit dabei.
Eng nebeneinander kauernd, sahen sie sich alle gespeicherten Fotos an, folgten den Momentaufnahmen bis in den Ort hinunter und damit bis zum Anfang ihrer Wanderung. Das letzte Motiv zeigte beide auf einem Parkplatz vor ihrem gelben Kleinwagen mit offen stehender Fahrertür, hinter ihnen ein weiß verputztes Gästehaus mit immer noch blühenden Geranien. Sie hatten den Wirt des Gästehauses gefragt, ob er sie fotografieren könnte, und er hatte sich Zeit dafür genommen. "Warum zeigst du denn mit dem Finger so stolz auf deinen Rucksack?", fragte Alina und sah Zoe mit großen Augen an.
"Tja, warum wohl?"
"Weil du mich neugierig machen willst?"
"Ja, vielleicht."
"Spann mich nicht auf die Folter. Sag schon, was drin ist!"
"Wirst du noch sehen - musst dich halt gedulden", sagte Zoe.
"Und wie lange? Bis wir wieder zu Hause sind? Bis Weihnachten? Bis Neujahr?"
"Abwarten." Zoe schulterte den Rucksack und folgte Alina, die sich jetzt, eng an einen Felsen gelehnt, über eine langgezogene Bodenspalte beugte, ein, zwei Sekunden hinuntersah, zum Sprung ansetzte und einen Satz machte.
"Ich kann das nicht", rief Zoe von der anderen Seite.
"Du bist doch vorhin auch rübergesprungen!"
"Aber das war vorhin." Zoe zog sich die Kapuze vom Kopf, um freie Sicht nach links und rechts zu haben. Man konnte sehen, dass sie sich Mut zusprach. Die Hände hatte sie zu Fäusten geballt.
"Komm, reich mir die Hand!", rief Alina über die Spalte hinweg und hielt ihr den langgestreckten Arm entgegen. Zoe zögerte und sah aus, als würde sie nur den richtigen Moment abpassen wollen, obwohl sie wusste, dass es diesen Moment nicht gab und es daher Unsinn war, auf ihn zu warten.
"Nicht nach unten schauen, schau mich an!" Zoe beugte sich etwas vor, griff Alinas Hand, begann laut zu zählen, schloss bei drei die Augen, zählte bis fünf und sprang. Ihre schweren Bergschuhe rutschten über den nassen Boden; kleine Steine fielen durch die Spalte und klackerten gegen Felswände.
"He, du hast es geschafft!", rief Alina stolz und zog Zoe an sich. Beide lachten erleichtert, und Alina strich Zoe die verklebten Haarsträhnen aus dem Gesicht.
"Komm, wir müssen los. Es wird bald dunkel." Zoe stülpte die Kapuze über ihre Haare, blickte sich kurz um und ging weiter.
Die Berghütte, in der sie übernachten wollten, war nicht schwer zu finden; schon von weitem war sie am Rand einer Waldschonung gut zu sehen. Vor der Hütte, auf einer buckligen Wiese mit halb vertrockneten Kräutern und schäbigen Blumenbeeten, gluckste ein Brunnen in Form eines ausgeschabten Baumstamms. Aus dem kleinen gemauerten Schornstein auf dem Dach stieg Rauch auf.
"Sieht genauso aus wie auf der Website." Alina kühlte mit dem Brunnenwasser ihr Gesicht. Es lief am Hals hinunter in ihren roten Fleece-Pullover.
"Du auch?", fragte sie. Zoe wehrte ab und meinte, sie würde lieber drinnen duschen, eine heiße Dusche sei jetzt genau das Richtige.
"Nichts gegen Quellwasser, aber es hat die unangenehme Eigenschaft, kalt zu sein."
"Lustig."
"Was?"
"Na ja, das ist lustig."
"Wie?"
"Dass du dich vom Gedanken an eine warme Dusche verabschieden musst", sagte Alina. 
"Du machst Scherze?"
"Das ist mein Ernst. Schau dich um. Siehst du Stromleitungen? Kabel? Willkommen im 19. Jahrhundert!"
In der Hütte war wenig los. An zwei Holztischen saßen einige Leute zusammen, einzig damit beschäftigt, Abendbrot zu essen. Die Stimmung war gelöst, hin und wieder sprangen Kinder von ihren Stühlen und liefen durch den Raum, ihre Schuhe donnerten auf dem Holzboden. Die Männer, ihre Bierkrüge vor sich stehen, laut palavernd, ermahnten die Kinder zur Ruhe, lachten dann aber schallend auf. Sie trugen Schnurrbärte und kurze Hosen. Ihre Sprache war von starkem Dialekt gefärbt. Alina und Zoe verstanden nur einzelne Wörter. In einer gemauerten Ecke brannte ein Kaminfeuer. Der Platz direkt vor dem Kamin war noch frei. Alina sprach mit dem Wirt, der hinter dem Tresen stand und Bierkrüge trocknete. Umgehend bekam sie den Zimmerschlüssel, hielt ihn in die Höhe und sah zu Zoe, die sich jedoch mehr für das Feuer interessierte als für den Schlüssel.
"Zwei Flaschen Bier, bitte", sagte Alina. Der Wirt stellte zwei Flaschen auf den Tresen und machte auf einem Zettel zwei Striche.
"Kann man bei Ihnen etwas zu essen bekommen?" Der Wirt nickte und zeigte ihr auf einer Speisekarte die Gerichte. Er müsse sie nur aufwärmen, das gehe ruck, zuck. "Okay, dann nehmen wir zwei Portionen Nudeln mit Speck."
Alina stapfte, die Flaschen an sich gedrückt, zum Tisch nahe der Feuerstelle. "Hier", sagte sie und hielt Zoe eine Flasche hin. Sie prosteten sich zu, stießen an und nahmen einen kräftigen Schluck.
"Ich hab uns Pasta bestellt. Müsste gleich kommen."
"Sehr schön", sagte Zoe, "ich hab einen Riesenappetit!" Ihre Blicke wanderten in Richtung Feuerstelle, und auf ihren Gesichtern begannen die Flammen zu tanzen. Langsam wärmten sich ihre Körper auf. Ein angenehmes Gefühl.
"Wisch dir mal den Bart weg", meinte Zoe, und Alina leckte mit der Zunge über ihre Oberlippe.
"Lecker. Wenn du auch mal ...?"
"Spinnst du? Nicht hier", flüsterte Zoe, die schon bemerkt hatte, dass der Wirt ständig zu ihnen rübersah. "Der ist ganz schön neugierig."
"Wer denn?"
"Na, der Wirt."
"Wärst du auch, wenn du den ganzen Tag in dieser Hütte eingeschlossen wärst. Und ich wette ...", sie hielt kurz inne und trank einen weiteren Schluck, "... dass er gleich zu uns an den Tisch kommt und reden will. Der sieht genauso aus." Kurz darauf kam der Wirt mit zwei Tellern aus der Küche, trocknete sich die Hände an einem Handtuch ab und schob seinen fetten Bauch am Tresen vorbei. "Siehst du!" Alina stieß Zoe den Ellbogen in die Seite. "Da kommt er schon."
"Ja, aber der bringt uns doch nur das Essen!" Der Wirt stellte die Teller auf den Tisch und wünschte guten Appetit, ging um den Tresen herum und sah ihnen beim Essen zu.
"Lecker." Zoe stopfte sich die langen Spaghetti eifrig in den Mund. Als der letzte Speckwürfel in Alinas Mund verschwand, kam der Wirt zum zweiten Mal an ihren Tisch, fragte, ob er sich zu ihnen setzen könne, und wischte, wohl aus Gewohnheit, mit der flachen Hand über die weißblau karierte Tischdecke und glättete so die Falten. Die Teller ließ er stehen.
"Ich kenne Sie doch!", sagte er zu Alina. "Sie moderieren diese Sendung im Radio, also im Fernsehen, also die, die nachts im Dritten kommt und wo die Leute anrufen und so verrückte Geschichten erzählen. Das sind Sie doch. Oder nicht? Sie sehen so aus wie die Frau da im Fernsehen, vielleicht etwas jünger."
"Bin ich auch, äh, ich meine ... ja - ich bin diese Psychotante aus dem Fernsehen, die mit den guten Ratschlägen für Gott und die Welt." Sie prostete ihm zu und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
"Warum denn Psychotante? Ich finde, Sie machen das richtig gut, wie Sie den Leuten da zuhören und schlaue Sachen sagen. Ich habe bisher jede Ihrer Sendungen gesehen, wirklich jede!"
"Ist doch toll!", sagte Zoe. "Das ist genau das, was ich dir auch immer sage: Du machst das echt klasse! Die Menschen vertrauen dir. Aber auf mich hörst du ja nicht." Der Wirt nickte, wischte mit seiner großen Hand über die Tischdecke und stand auf, weil jemand am anderen Tisch nach ihm rief. Beim Aufstehen entschuldigte er sich bei Alina für die Störung und wischte sich mit der Hand über den Mund.
"Alles gut", sagte sie beiläufig, denn sie war gerade damit beschäftigt, mit dem Fingernagel das Etikett von ihrer Bierflasche zu lösen. Bald hatte sie den Schriftzug mit der stilisierten Krone abgezogen und klebte das glänzende Papier auf Zoes rechte Wange.
"Du bist die Krönung", sagte sie und dass sie kurz mal für kleine Mädchen müsse. Zoe lehnte sich zurück und ließ die orangenen Flammen des Kaminfeuers auf der aufgeklebten Krone tanzen, gähnte und musste wieder an die kalte Dusche denken, die ihr noch bevorstand. Beim Wirt bestellte sie zwei Korn und rückte den Tisch samt Stuhl näher ans Feuer. Auf dem Kaminsims standen gerahmte Bilder - Familienfotos. Auf einem Bild erkannte sie den Wirt. Er sah jung aus, stand mit einer Frau vor der Berghütte und blickte direkt in die Kamera. Seine Frau blickte an der Kamera vorbei. Vielleicht hatte ja neben dem Fotografen eine Person gestanden, die sie kannte. Als Alina von der Toilette zurückkam und sich setzen wollte, kam der Wirt mit einem Tablett und stellte drei bis zum Rand gefüllte Schnapsgläser auf den Tisch.
"Auf Kosten des Hauses. Zum Wohl, ihr beiden!" Er wartete, bis Zoe und Alina ihre Gläser genommen hatten, und stieß sein Glas gegen die anderen. Ein Klirren - und kurz darauf waren die drei Gläser leer. Der Wirt trank den Alkohol wie Wasser. Alina verschluckte sich.
"Setzen Sie sich doch", sagte Zoe zum Wirt, der wie ein kleines Kind vor ihnen stand, unschlüssig, wie er sich verhalten sollte, das leere Glas verschwindend klein in der großen Hand. Er setzte sich und kam schnell ins Erzählen, offenbarte, dass ihn seine Frau vor drei Jahren, oder waren es schon vier, verlassen hatte und diese Berghütte wohl das Einzige sei, was ihm in dieser beschissenen Welt noch geblieben war.
"Sylvia hat mir von heute auf morgen gesagt, dass sie es mit mir nicht mehr aushält und nur noch weg will. Sie hat mich angeschrien, wie sehr ich sie anwidere. Dabei hatte ich all die Jahre versucht, ihr alles recht zu machen, war mit ihr in Urlaub gefahren, mit dem Auto an die Costa Brava, mit dem Schiff die Donau hinab und im Winter sogar mit dem Flugzeug in die Türkei, obwohl ich nie woanders sein wollte als hier in den Bergen. Und dann noch die Flugangst. Ich kann euch sagen. Übel war das." Er machte eine Pause. "Die Hütte hat übrigens mein Onkel gebaut. Ach, alles schon lange her. Und wisst ihr: Ich kann mich noch erinnern, wie ich als Kind hier in der Stube gespielt habe." Unvermittelt stand er auf und ging zum Tresen, wischte sich über die Stirn, nahm die Flasche mit Korn, kam an den Tisch zurück, schraubte sie auf und füllte erneut die Gläser bis zum Rand.
"Geht aufs Haus." Er hielt sein Glas in die Höhe. Wieder dieses Klirren, dann das Trinken und Alina, wie sie sich schüttelte und sagte, sie sei Korn nicht gewohnt, sondern trinke normalerweise nur Bier und manchmal auch Wein. Sie sah, wie der Wirt den Kindern beim Spielen zusah, und fragte nach einer Weile: "Und Kinder? Haben Sie Kinder?" Der Wirt schüttelte den Kopf und gab zu verstehen, dass er nie Kinder haben wollte, seine Frau schon, aber er hätte ihr immer gesagt, mit Kindern könne er nichts anfangen und sei auch so mit ihr glücklich.
"Und jetzt", er machte wieder eine Pause, "ist sie weg." Wieder wollte er die Gläser füllen.
"Ich hab genug", sagte Zoe, und auch Alina hielt die Hand über das kleine Glas mit der roten, kreisrunden Markierung.
"Wir sind auch schon sehr müde." Wie zur Demonstration ihrer Müdigkeit begann Zoe laut zu gähnen.
"Was ist denn das?" Der Wirt zeigte auf Zoes Wange.
"Ach, nur ein kleiner Spaß", sagte sie.
"Ein Geschenk!", sagte Alina, und beide lächelten. Am Nachbartisch rückten die Gäste ihre Stühle zurecht und verabschiedeten sich. Der Wirt sah auf die Uhr und räumte die Gläser und Flaschen von den Tischen.
"Danke fürs Zuhören", sagte er in Richtung von Alina und Zoe, die ebenfalls  aufgestanden waren und ihre Teller und Gläser auf dem Tresen abstellten. Sie wünschten dem Wirt eine gute Nacht und verließen den Gastraum. Der Wirt setzte sich an den Tresen, schenkte sich einen Korn ein, betrachtete lange das gefüllte Glas in seinen Händen und setzte es an seine Lippen.

"Ganz schön kalt!", rief Zoe. Sie stand zitternd unter dem rauschenden Duschkopf und hielt die Hände vor der Brust verschränkt. Alina stand daneben und seifte sich ein. Im Duschraum mit den blauen Fliesen roch es nach süßer Kokosmilch und Orangenschalen.
"Versuch, an was anderes zu denken - das hilft. Ich stelle mir gerade vor, im Schatten einer riesigen Kokospalme zu stehen, Sand zwischen den Zehen." Zoe machte einen Schritt zur Seite und ließ Duschgel in ihre Hand tropfen.
"He, stimmt ... ach, das ist ja toll. Mir ist ja auch ganz heiß, und das hier ist Kokosmilch und kühlt so herrlich meine sonnengebräunte Haut." Allmählich gingen sie dazu über, sich gegenseitig einzuseifen, und lachten dabei wie Teenager.
"Das Erste, was ich morgen früh mache: mich wieder so erfrischen wie jetzt", stichelte Zoe, nahm eines der großen blauen Handtücher und rieb sich die Haut, bis sie rot war. "Bis gleich", sagte sie grinsend, nahm ihre Kleider vom Haken und lief barfuß über den Fliesenboden, den Flur entlang und in das gemütliche kleine Zimmer mit Doppelbett. Am holzvertäfelten Kopfende hing ein Hirschgeweih, ein riesiger Schädel mit Glasaugen, die fast echt aussahen. Zoe warf ihr Handtuch über den Hirschkopf, sprang aufs Bett und zog sich die Decke über die nassen Haare. Langsam strömte Wärme durch ihren Körper, eine wohltuende, müde machende Wärme. Sie lag unter der Decke und atmete flach. Schön war es hier, dunkel, wie in einer Höhle, wie in einem großen Bauch. Kurz dachte sie an das Innere eines Walfischs. Der Umschlag fiel ihr ein. Sie warf die Decke zur Seite und kramte ihn aus dem Rucksack. Er war immer noch verschlossen. Sie steckte den Umschlag unter Alinas Kopfkissen, zog die Bettdecke über sich und wartete, dachte nach. Mehr als tausend Euro waren ihr die Informationen unter Alinas Kopfkissen wert gewesen. Und hätte das Institut das Doppelte verlangt, Zoe hätte die Summe bezahlt, anstandslos. Ein Foto, ein Brief, zwei Gutachten über körperliche und geistige Qualitäten - "Potenziale bzw. Ressourcen" hatte der Institutsleiter dazu gesagt. "Wenn Sie mehr über den Mann erfahren wollen, steht es Ihnen selbstverständlich frei, weitere Unterlagen einzusehen. Leider, das muss ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen, sind diese Informationen mit weiteren Kosten verbunden. Aber was in den Gutachten steht, sagt einiges über die Persönlichkeit des Mannes und seine körperliche Verfassung aus."
Zoe war an jenem Tag allein im Institut gewesen; es hatte den ganzen Morgen geregnet, und sie war auf dem Weg vom Auto klatschnass geworden. Ohne Rücksprache mit Alina hatte sie den Mediziner in der Hoffnung konsultiert, Alina mit den neuen Informationen über den künftigen Zeuger ihres Kindes zu überraschen. Wobei es im Grunde doch ihre Neugier gewesen war, die sie zu diesem Schritt getrieben hatte und sie jetzt auf diesem Bett und auf diesem Berg und neben diesem Umschlag unter Alinas Kissen plötzlich sehr unruhig werden ließ. Nun öffnete Alina die Zimmertür, bemerkte das Handtuch über dem Hirschkopf und stellte sich den Kopf darunter vor. Als sie sich aufs Bett warf, machte die Matratze ein lautes Geräusch. Während der folgenden Umarmung flüsterte Zoe Alina ein paar Worte ins Ohr. Alina sah sie an, schüttelte vehement den Kopf, zog eilig das Kissen unter ihrem nackten Körper weg und legte den Umschlag vor sich hin.
"Okay", sagte sie. "Darauf hast du also auf dem Parkplatz mit dem Finger gezeigt. Hm. Ein Umschlag. Dann schieß los! Was ist drin?"
"Ein Foto."
"Was? Da ist doch mehr drin als nur ein Foto!" Alina hob und senkte den Umschlag und versuchte, das Gewicht einzuschätzen.
"Okay, du hast recht. Da ist noch mehr drin."
"Dann lass uns reinschauen. Du hast mich lange genug auf die Folter gespannt."
"Warte!" Zoe legte die Hand auf den Umschlag. "Du erinnerst dich sicher noch an die vielen Bögen Papier, auf denen wir unsere Kreuzchen machen mussten?"
"Du meinst den Fragebogen der Samenbank?"
"Genau. Wir mussten ankreuzen, aus welchem Land der Spender kommen soll ..."
"Ja ... und welche Sprache er spricht, ob er schwarz oder weiß ist, blaue oder grüne Augen hat, Akademiker oder Nichtakademiker ..." Alina verdrehte die Augen.
"Ja", sagte Zoe. "Und gleich wissen wir, wie er aussieht!"
Alina betrachtete den Umschlag. Sie strich über das Papier und berührte Zoes Hand, hielt sich an ihr fest und spürte in der Stille des Zimmers ihr Herz schlagen.
"Du überraschst mich ..." Sie strich mit dem Ringfinger über das marmorierte Papier.
"Freust du dich?" Zoe suchte in Alinas Miene nach einem Ausdruck der Freude. Doch Alinas Gesicht kam ihr sehr fremd vor.
"Was ist denn?", fragte sie.
"Ich will das hier nicht, und ich will auch das Foto nicht sehen", sagte Alina. "Das ist ..." Sie rollte sich vom Bett, nahm ihre Klamotten vom Stuhl, zog sich im Gehen an, lief durch den Flur, an einer Reihe von Bildern mit Bergpanoramen vorbei, spürte ihr Herz fester schlagen, öffnete die Tür nach draußen und trat in die dunkle Nacht. Sie blieb stehen, atmete tief ein und ging die wenigen Schritte zum Brunnen. Unter ihren nackten Füßen spürte sie weiche Erde, Grashalme. Den Oberkörper über das Wasser gebeugt, hielt sie inne und tauchte dann ihren Kopf in das kalte und sprudelnde Quellwasser. Sekunden vergingen, ihre Kopfhaut schmerzte, ihr Herz schlug bis zum Hals. Plötzlich war um sie herum etwas wie Weite, ein Raum aus Eis und Schnee und inmitten dieser schier endlos scheinenden Wüste: ein Punkt, ein schwarzer Punkt, der sich von allen anderen Dingen der Umgebung unterschied und jetzt näher und näher kam. Alina erschrak, schluckte Wasser, tauchte auf. Sie atmete schnell, hustete, rang nach Luft. Von der sie umgebenden Dunkelheit und den Bergen, die in dieser Dunkelheit steckten, fühlte sie sich mit einem Mal wie eingeschlossen. Dann sah sie Licht, eine offen stehende Tür - Zoe stand im Türrahmen und machte einen Schritt auf sie zu, einen weiteren, einen dritten, vierten. Als Zoe direkt vor ihr stand, fuhr ihr Alina mit nasser Hand über die Wange und strich ihr dabei auch eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Sie sahen sich an und sagten kein Wort - doch in ihren Köpfen lärmte es.

 

Karsten Redmann, *1973 in Neunkirchen (Saar), studierte Politologie mit Nebenfach Psychologie in Duisburg, Bremen und Tampere (Finnland), absolvierte die Deutsche Fachjournalistenschule in Berlin und arbeitete als freier Journalist für überregionale Print- und Onlinemedien (u.a. ZEIT online, FR). 2007-09 PR-Manager der Agentur Scholz & Friends, Hamburg. European Newspaper Award für seine Arbeit als Chefredakteur des Reemtsma Mitarbeitermagazins. 2010-14 freier Autor, Journalist, Online-Mentor, Texter. Seit 2015 Schriftsteller in Bremen. Viele Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Magazinen wie entwürfe, Lichtungen, Konzepte, erostepost. Bremer Romanwerkstatt 2010. Bremer Prosawerkstatt 2012. Text des Monats beim Schreibwettbewerb des Literaturhauses Zürich, Juli 2015.