Am Erker 70

 

 
Texte
Am Erker 70, Münster, Dezember 2015
 

Friedrich Bastian
Eine letzte Runde

Wir legen das Trinkgeld auf die Rechnung im kleinen Holztablett, stehen auf und verabschieden uns voneinander. Sie geht zu ihrem Auto, ich schaue auf die kurzen, schwarz gefärbten Haare ihres Hinterkopfs, bis sie um die Ecke biegt, dann mache ich mich auf den Weg zur U-Bahnstation. Es ist ein kurzer Weg, nur rechts die Straße runter über die Brücke.
Eine warme Sommernacht treibt durch die Stadt, ohne Lust, sich niederzulassen, ohne Müdigkeit. Sie mischt sich unter die Leute, schiebt sich zwischen sie wie eine gute Freundin, die nicht fragen muss, ob sie gelegen kommt, sondern einem einfach den Arm auf die Schulter legt oder um die Hüfte. Sie hält Händchen mit den Liebespaaren, wärmt das Flaschenbier der Jugendlichen, streicht über die glatten Wangen der ungeschickt lachenden Männer in Anzügen, die aus dem Büro, aber noch nicht frei, sondern unter Kollegen sind. Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen, versuche, schlendernd diese herrliche Nacht zu genießen, auch wenn ich mich dabei unwohl fühle. Meine Beine wollen schneller. Wie zwei ungehörige Kinder schaue ich sie streng an und zwinge sie, sich zu benehmen. Wozu die Eile? Ich habe heute Abend nichts weiter vor, keine Verpflichtungen, keine Verabredung, habe mich schon verabschiedet, für morgen ist auch alles vorbereitet. Das Abendessen war kurz, damit hatte ich nicht gerechnet, nun liegt die junge Nacht vor mir. Ich dachte, wir würden noch etwas trinken gehen und dann noch ein bisschen mehr, so dass ich müde und beruhigt in der U-Bahnstation verschwinden könnte, ohne all die Menschen zu sehen, die sich an der nächtlichen Wärme erfreuen. Aber sie war müde von der Arbeit, muss morgen wieder früh raus, deshalb nur so kurz, aber schön, dass wir uns noch gesehen haben, bevor du gehst, sagte sie, nächstes Mal habe ich mehr Zeit, versprochen.
Die Tische der Restaurants sind voll, im Laufen nehmen die Kellner Bestellungen auf, nicken bei jedem Hello oder Please, ohne sich umzudrehen. Mit Fotoapparaten in der Hand kommen Touristen über die Brücke auf mich zu, sie gehen langsam und schauen sich um. Ein Mann mit Anglerhut und Brusttasche zeigt mit ausgestrecktem Arm in meine Richtung, die Frau an seiner Seite folgt ihm kurz, schweift aber augenblicklich ab auf die Spree, als er etwas zu ihr sagt. Ich verlangsame meinen Schritt, da ich ihnen näher komme, und schaue ebenfalls auf die Spree. Ihr Wasser ist groß und ruhig, ebenso die Menschentrauben an den Ufern, die fröhlich sind, aber nicht zu hören, da die Nacht ihre Freude teilt und fortträgt. Ein junger Mann spricht fortlaufend in ein Mikrofon in seiner Hand, die mit den Fotoapparaten tragen Kopfhörer und folgen ihm mit Augen und Beinen. Kurz bleibe ich zwischen ihnen stehen und überlege - es scheint mich niemand zu bemerken -, mit ihnen weiterzugehen, auch dem Mann mit dem Mikrofon zu folgen, dorthin zu gucken, wohin die anderen gucken. Die Zeit habe ich, sage ich mir und drehe den Kopf in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Es ist der Friedrichstadt-Palast, ihn schauen sie an, über ihn hören sie aus ihren Kopfhörern das Wichtigste seiner Geschichte und welchen Zweck er erfüllt. Nur die Frau an der Seite des Mannes mit dem Anglerhut schaut nicht hin, aber niemand bemerkt es, da ich ihren Platz eingenommen habe und die Summe der Augenpaare wieder stimmt. Die Türen des Friedrichstadt-Palasts sind verschlossen, auf den Treppen wartet niemand mit einer Karte in der Hand auf Einlass oder das Ende der Pause. Verlassen steht das Gebäude im Schein seiner Lichter, die verlegen und still leuchten, um kein großes Aufheben zu machen, aber doch leuchten müssen, um nicht übersehen und vergessen zu werden. Bald werden sie wieder heller leuchten, die Türen werden sich öffnen, Männer in Hemden und Frauen in Abendkleidern werden sich unterhalten, noch schnell eine Zigarette rauchen und ein Glas Sekt trinken. Die Leere vor den Türen des vermeintlichen Palasts füllt der Mann mit dem Mikrofon durch seinen Redefluss, der, so scheint es mir, keiner Pausen bedarf. Er redet ohne Unterbrechung. Angenehm ist seine Stimme, gleichmäßig in der Lautstärke und locker in der Betonung. Er macht seine Arbeit gut, das kann ich sagen, ohne ein Wort seiner Sprache zu verstehen. Die Leute in seiner Gruppe sind gut unterhalten. Die Frau, die soeben noch auf die Spree geschaut hat, dreht sich nach dem Mann mit dem Anglerhut um, will etwas sagen - und ich setze meinen Weg über die Brücke fort. Sie hat mich gesehen inmitten ihrer Reisegruppe, da bin ich mir sicher, will ihnen aber keine weitere Beachtung schenken und schreite meinem Ziel zu.
Der Eingang der U-Bahnstation leuchtet gelb, Menschen verschwinden darin oder tauchen hervor, das Rauschen der Züge drängt auf die Straße zum Brummen der Automotoren. Fünf Stationen, umsteigen, nochmal fünf Stationen, dann bin ich da. Ich muss nur hinuntergehen. Aber ich kann es nicht, kann nicht hineinkriechen in diese gekachelten Gänge mit niedrigen Decken, grellem Licht, den Freunden und Pärchen auf dem Weg zur nächsten Party, zum gemütlichen Essen, zur Vernis- oder Finissage, zum Geburtstag eines guten Freundes, der nicht wie geplant nach ein paar Stunden in der Küche endet, sondern sich durch einen längeren Ausflug zur Kneipe an der Ecke bis in die Morgenstunden zieht, so dass man den nächsten Tag übermüdet, aber glücklich zubringt, am Nachmittag noch eine Nachricht schreibt, hat Spaß gemacht. Ich muss die Touristen suchen, muss mich entschuldigen für mein seltsames Auftreten, für die komische Situation, die sie vielleicht missverstehen. Was sollen sie sonst von mir denken?
Schnell werfe ich die Beine um, wieder über die Brücke, im Kopf bereite ich die Erklärung vor, auf Englisch und mit Handzeichen. Womöglich kann ich ihnen bei der nächtlichen Stadtführung behilflich sein? Mit ein paar ergänzenden Anekdoten? Ich kenne die Stadt recht gut, auch wenn ich sie nur noch als Gast besuche und seit vielen Jahren nicht mehr hier wohne.
Aber sie sind fort. Niemand zu sehen. An den Tischen der Restaurants sitzen sie nicht, dort gab es ohnehin keinen Platz für eine solche Gruppe. Sie sind weitergegangen. Wohin? Zur Oranienburger sicherlich nicht, dafür waren sie zu ruhig; und den Bundestag haben sie garantiert schon gesehen, ebenso das Brandenburger Tor. Welche Orte lohnen einen Besuch in der Nacht, wenn man sie auch am Tag sehen kann? Sie müssen zur nächsten Brücke und wieder über die Spree gegangen sein, zu den Prachtbauten Unter den Linden, dort ist die Beleuchtung gut, und die Gebäude stehen ohne die täglichen Menschenmassen zur Schau. Die Humboldt-Universität ist eindrucksvoll, der Bebelplatz gegenüber groß und leer, und dort steht, zu dieser Stunde vom lästigen Verkehr befreit, das Reiterstandbild Friedrich des Großen. Dort müssen sie sein und den Erklärungen aus den Kopfhörern lauschen.
Aber nein, auch hier niemand. Waren sie schon da, oder kommen sie noch? Wahrscheinlich gehen sie einen größeren Bogen - über den Hackeschen Markt und vielleicht den Alexanderplatz -, und der alte Fritz steht am Ende der Runde, als krönender Abschluss, wie man sagt, auch wenn er keine Krone trägt, sondern seinen Dreispitz, wie man diesen Hut nennt, der doch keine Spitzen hat, aber ordentlich verschlossen ist, damit es in ihn nicht hineinregnen kann wie in eine Krone.
Ich bleibe und warte auf die Gruppe. Wenn sie gekommen sind, kann ich die Erklärungen des Mannes mit dem Mikrofon ergänzen, indem ich eine ganz persönliche Geschichte erzähle, aus meiner Kindheit, da ich mir stets vorstellte, mit Friedrich II. verwandt zu sein, oder besser: Ich erzähle, meine Mutter hat mich nach dem besten Preußenkönig benannt, wodurch ich mit ihm und diesem Ort bis zum heutigen Tag verbunden bin.

 

Friedrich Bastian, *1981 im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Studium der Ethnologie und Philosophie in Deutschland und Lateinamerika. Arbeitet als Lehrer in einem Sprach- und Kulturinstitut in Mexiko.