Texte
Am Erker 46, Münster, Dezember 2003
 

Gerald Funk
Der Füller

Einer der wenigen Gegenstände, die mir mein Großvater hinterlassen hat, ist ein alter nachfüllbarer Füller. Kein Markenfüller von Parker oder Pelikan, daher besitzt er auch keinen großen Sammlerwert, sondern ein namenloses Produkt der zwanziger oder dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ich habe ihm eine neue Goldfeder einsetzen und das Gummisäckchen in dem altertümlichen Ansaugmechanismus austauschen lassen. So war er wieder funktionsfähig. Allerdings nicht lange. Ich habe ihn zu selten benutzt. Die Tinte trocknete ein, das Gummi wurde spröde und riß. Jetzt liegt er wieder dekorativ und leicht erhöht auf einem Wandbrett vor meinen Augen, wenn ich am Schreibtisch sitze.
Schwarz und perlmutt schimmert er. Mal etwas mehr, mal etwas weniger, je nach Lichteinfall. In etwa millimeterdicken Schichten sind die beiden Materialien - der industriell hergestellte Kunststoff und die gewachsene innere Schicht der Muschelschale - aufeinander geleimt. Das ergibt einen ganz speziellen Effekt: der Füller bindet Helligkeit und zieht damit auch den Blick auf sich, scheint optisch zu vibrieren, als ginge von ihm eine Energie aus, die Licht in jedes Dunkel bringen könnte. Zudem besitzt er noch eine weitere Besonderheit, der aber habe ich lange Jahre keine größere Aufmerksamkeit geschenkt. Er hat einen Namen. Ja, in winzigen Buchstaben, kaum erkennbar, weil von der Zeit bereits teilweise abgeschliffen, ist unterhalb der Rillenfräsung, mit der die Kappe aufgeschraubt werden kann, ein Name eingraviert. Es ist nicht der Name meines Großvaters, es ist überhaupt kein deutscher Name, sondern ein englischer oder amerikanischer: F. Henderson steht dort. Mehr nicht.
Da mein Großvater den Füller aus dem Zweiten Weltkrieg mit nach Hause brachte, muß er wohl irgendeinem englischen oder amerikanischen Soldaten gehört haben. Wie ist er in den Besitz meines Großvaters gelangt? Welche Geschichte steckt dahinter? Daß mein Großvater im Krieg war, wußte ich. Ich wußte auch, daß er das Angebot der Übernahme eines Bauernhofes irgendwo im Osten im Dienst der großdeutschen Expansionsbemühungen ausgeschlagen hatte. Er war Sanitäter geworden und im südlichen Griechenland stationiert, dort, wo auf manchen Landkarten bis heute das Wort Arkadien zu lesen ist. Die Namen Patras und Peloponnes aber, die noch in meinen Ohren klingen, weil er sie wie ein Stück bitterer Schokolade auf der Zunge zergehen ließ, bevor er sie aussprach, verbinden sich in meiner Erinnerung nicht mit Milch und Honig, nicht mit kaum bekleideten Nymphen und Satyren an glucksenden Quellen, sie verbinden sich mit ausgetrockneten Hügeln unter gleißender Sonne, mit Staub, der sich wie eine weiße Schimmelschicht auf die Kleidung legt und alle Farbe nimmt.
Bruchstücke einer Geschichte werden sichtbar: verwundete Soldaten, Schmerzenslaute aus zerschundenen Körpern, dazwischen eine junge Griechin, die im Lager der Deutschen kleinere Arbeiten verrichtete. Sie taucht immer wieder auf, spielt eine wichtige Rolle. Sie hatte wohl Kontakt zu Einheimischen, die den Deutschen nicht wohlgesonnen waren, die irgendetwas im Schilde führten. Aber man konnte ihr nichts nachweisen. So wurde sie ausspioniert. Sie war jedoch bei den einfachen Soldaten sehr beliebt, und es kam zu einer geheimen Aktion, in der man das Mädchen aus dem Lager schaffte und vor dem Zugriff irgendwo in den Bergen versteckte. Mein Großvater war wohl daran beteiligt und war seitdem von jeder Beförderung ausgeschlossen. Ich besitze ein kleines Schwarzweißbild, da steht er vor der Akropolis, die sich im Hintergrund vor dem etwas dunkleren Himmel abzeichnet. Immer wieder schaue ich auf das Bild. Er steht dort eingehakt mit zwei Freunden und lacht. Es ist ein Lachen, wie ich es mir - wenn ich daran denke, daß zu gleicher Zeit ein nicht geringer Teil der Welt verbrannte - bis heute nicht erklären kann. Ein Lachen, das weltlos ist und frei. Zuweilen verschwimmen die Gesichter vor meinen Augen, und ich sehe dann nicht mehr das Gesicht meines Großvaters, sondern das einer jungen, schönen Griechin mit schwarzen, im Wind wehenden Haaren. Sie lehnt ihren Kopf an die Schulter eines der beiden Männer. Aber nur kurz sehe ich das, dann ist das Bild verschwunden.
Andere Teile der Geschichte, die mein Großvater erzählte, bestehen in meiner Erinnerung nur noch aus völlig unzusammenhängenden kurzen Szenen - eine mattgelb im Wind klatschende Zeltleinwand, vor der ein grau-uniformierter deutscher Hordenführer eine Strafaktion ankündigt, Blut, im Sandboden versickernd - kaum mehr. An eine, in der ein amerikanischer oder englischer Soldat eine Rolle spielte, kann ich mich trotz intensiven Nachdenkens nicht erinnern. Auch die wenigen anderen Bilder, die noch verfügbar sind, werden zunehmend konturlos, verlieren ihre Schärfe und Farbe, so als hätten sie zu lange in der Schaufensterauslage eines längst aufgegebenen Geschäftes gelegen.
Ich habe nicht oder nur mit halbem Ohr zugehört damals, als mein Großvater meist nach dem Abendbrot anfing zu erzählen. Anderes, Eigenes war wichtiger. Nachdem er vor wenigen Jahren starb, kann ich ihn nicht mehr fragen. So wie er im Sarg lag, mit schlecht durch Wachs geschlossenen Lidern und  einem bitteren Zug um seine Lippen, als schmecke er noch immer die Worte Patras und Peloponnes, konnte und kann er nichts mehr erzählen. Seine Geschichten sind sprachlos.
Es bleiben die Dinge, die wenigen Dinge, die er hinterließ. Zu ihnen gehört mein Füller. Sie binden auf irgendeine kaum nachvollziehbare magische Weise das vergangene Erleben, sie scheinen saugfähig zu sein, ihre Formen und Materialien sind offensichtlich permeabel, sie filtern Partikel aus dem großen Strom. Manchmal jedoch können wir die darin geborgenen Geschichten nicht mehr herauslösen. Sie sind da, wir aber verstehen ihre Sprache nicht mehr. Die Dinge entziehen sich uns, sie werden spröde und mißtrauisch. Vielleicht ist der Schmerz darüber unsere einzige Entschuldigung.