Am Erker 78

Hans Georg Bulla: Landflüchter

 
Rezensionen

Hans Georg Bulla: Landflüchter
 

Wie Worte wortlos wirken
Rolf Birkholz

Um ein Gedichtzitat Hans Georg Bullas auf den Autor selbst anzuwenden: Er ist "der Dichter, der die Stille aufschreibt". Das leuchtet unmittelbar ein, und so lesen wir auch Bullas jüngsten Band Landflüchter gleichsam mit gespitzten Ohren. Die Stille passt zu den Sujets, die der in Dülmen geborene, in Münster aufgewachsene, seit langem in Niedersachsen beheimatete Autor unspektakulär vor Augen führt, bei Lesungen gleichwohl deutlich hörbar macht. Es sind meist kleine Begebenheiten, fast beiläufige Beobachtungen, die Bulla nicht aufpumpt, sondern zeichenhaft zum Sprechen bringt.
Da sind Erinnerungen an Kindertage, an einen Abend einst am Baggersee, da laufen die notorischen Katzen über den Weg, es folgen Wahrnehmungen im Altenheim oder auf dem Friedhof. Fast stummfilmgleich spielt der Dichter solche Szenen vor dem Leser ab, als ließe er Worte wortlos wirken.
"Im Zug" steht ein Unheilsprediger auf, "du hockst dich in den Gang / automatisch schiebt die Tür // sich auf und zu, nach Luft / schnappst du wie der Prediger / ein paar Köpfe weiter." Ganz knapp wird hier eine Psychologie des Unkenrufens entworfen, werden die Sorgen des Untergangsverkünders mit alltäglichen kleinen Beschwerden verbunden, relativiert, leiser gestellt.
Wie ein Gegengewicht dazu, ein Moment der Hoffnung auf Zusammenhalt, erscheint eines der Väter-Gedichte ("Sein letzter Geburtstag"). Hier wünscht sich der Vater einen medizinballgroßen, leuchtenden Globus, will seine Hände "einmal um die Kugel legen / und die Naht spüren, die / die Hälften zusammenhält."
Vorangestellt ist dieser durch die Radierung "Im blauen Schatten" des Grafikers und Büchermachers Peter Marggraf bereicherten, in limitierter Auflage erschienenen Sammlung eine Bemerkung Tomas Tranströmers über "eine vergessene Zeitung voller Ereignisse", die seit Monaten draußen der Witterung ausgesetzt ist und bald "mit dem Boden eins werden" wird. "So wie eine Erinnerung sich langsam zu dir selbst verwandelt." Oder mit Julien Green zu reden: "Aber wir bestehen nun einmal aus Erinnerungen." Das ist Hans Georg Bullas poetischer Pfad, auf dem man mit stillsanftem Sog mitgezogen wird.

 

Hans Georg Bulla: Landflüchter. Gedichte. 40 Seiten. Radierung von Peter Marggraf. San Marco Handpresse. Neustadt am Rübenberge 2019. € 72,00.