Am Erker 72

John Le Carré: Der Taubentunnel

 
Rezensionen
John Le Carré: Der Taubentunnel
 

Decknamen
Hanns Küster

Es geht in dieser Autobiographie um einen, der den unauffälligen Namen David Cornwell trägt. Menschen, die so heißen, begegnen einem im Vereinigten Königreich beim Bäcker, sind Zahnärzte oder Anwälte und übernehmen verantwortungsvolle Jobs als Beamte in den Behörden Ihrer Majestät. Flüchtige Begegnungen mit solchen Leuten können schnell in Vergessenheit geraten, ihre Namen ermöglichen die Anonymität des Unbedeutenden.
Und es geht um einen, der John Le Carré heißt. Der englische Rufname in Kombination mit dem französischen Zunamen verheißt Exotisch-Weltläufiges mit Akzent. Dieser Name steht auf unzähligen Bestsellern, aus denen unzählige Verfilmungen mit Weltstars entstanden sind, und er steht auch auf dem Cover der vorliegenden Autobiographie mit dem Titel Der Taubentunnel.
David Cornwell schreibt seit jeher unter dem Pseudonym John Le Carré. Noch in den Anfängen seiner literarischen Tätigkeit war er bei den legendären britischen Geheimdiensten MI5 und MI6 in schillernden Positionen tätig, und die Verwendung von Decknamen war sozusagen Teil der Profession. Auch die Hinwendung zur Literatur geschieht nicht willkürlich. John Le Carré jedenfalls konstatiert im Kapitel "Seien Sie nett zu Ihrem Geheimdienst": "Spionagetätigkeit und Schriftstellerei sind wie füreinander geschaffen. Beide erfordern sie ein waches Auge für menschliche Verfehlungen und die vielen Wege hin zum Verrat." An prominenten Vorläufern und Nachfolgern mangelt es nicht: William Somerset Maugham, Ian Fleming und Graham Greene waren Spione und Dichter, Len Deighton arbeitete immerhin für die Militärpolizei.
Der Taubentunnel ist eine Sammlung autobiographischer Splitter, die collageartig angelegt ein Bild des Autors entwerfen: "Ich bin zum Lügen geboren, dazu erzogen worden, von einer Industrie dazu ausgebildet worden, die das Lügen als Lebensunterhalt betreibt, habe das Lügen als Schriftsteller praktiziert. Als Schöpfer von Fiktionen erfinde ich Versionen meiner selbst, aber niemals die Wahrheit, wenn es denn überhaupt eine gibt." Einige der Geschichten sind schon einmal veröffentlicht worden, aber es findet sich auch viel Neues in diesem Buch. Nur grob wird dabei eine chronologische Schiene verfolgt; vielmehr werden die Lebensereignisse des Autors zu Themenblöcken arrangiert, die sich aber natürlich aufeinander beziehen.
Was dabei herauskommt, ist mehr als nur eine beeindruckende Anekdotensammlung, die zumeist von Begegnungen mit prominenten Menschen handelt. Oder eben mit Menschen, die qua Amt nicht prominent sein dürfen. Der Protagonist, der ja auch Autor und Erzähler ist, scheint manchmal einem seiner Romane entliehen zu sein. Vielfach findet er sich in der Rolle des beobachtenden Gesprächspartners wieder. Unauffällig - wie der Agent - ist er die Randfigur im Zentrum des Geschehens.
Tief und geheimnisvoll ist der Brunnen des Kalten Krieges, und John Le Carré fördert eine sehr persönliche Sicht auf die junge Bundesrepublik Deutschland daraus hervor. In den frühen Sechzigern war er als zweiter Sekretär bei der Britischen Botschaft in seiner Kleinen Stadt in Deutschland - in Bonn - am bilateralen Geschehen zwischen der BRD und dem Vereinigten Königreich beteiligt. Die ganze Bandbreite, welche der internationale Spionage-Zirkus an Agentenfiguren bereithält, ist ihm schon hier begegnet.
Deutschland und die Deutschen haben David Cornwell geprägt, und John Le Carré hat die literarische Verarbeitung geliefert. Der Blick, den der mittlerweile fünfundachtzigjährige Autor auf das einst geteilte Land hat, bleibt dabei nicht auf die Zeit des Kalten Krieges beschränkt: "Wir haben es schon vor langem aufgegeben, uns mit Deutschland zu vergleichen. Der Aufstieg des modernen Deutschlands als selbstsichere, nichtaggressive demokratische Macht - ganz zu schweigen von dem humanitären Vorbild - ist eine für viele von uns Briten zu bittere Pille, als dass man sie einfach schlucken könnte. Eine traurige Tatsache, die ich schon viel zu lange bedauere." Der Patriot Le Carré fällt sein Urteil über Deutschland, während er am Schreibtisch sitzt, irgendwo an Cornwalls Küsten oder in seinem Schweizer Chalet, neunzig Zugminuten von Bern entfernt. Diese Distanz verklärt vielleicht etwas den Blick, aber in dem Zitat offenbart sich auch die Sicht eines Zeitzeugen, der das Leid der Welt gesehen hat und Kriegsgefahr kennt.
Ein großer Teil der Autobiographie beschäftigt sich mit den Reisen Le Carrés. Der Autor Julian Barnes hat kürzlich in einem Interview mit der Zeit gesagt: "Natürlich müsste ein Schriftsteller sich dem Grauen stellen, er müsste dorthin gehen, wo all das geschieht. Und doch: Ich will diese Szenen nicht in meinem Kopf haben." Wenn man den Ausführungen in Der Taubentunnel glaubt, dann hat John Le Carré das zumindest versucht. Während des Kalten Kriegs ist er in Moskau gewesen, zu Beginn der achtziger Jahre ist er im Südlibanon Jassir Arafat begegnet, und vor gar nicht allzu langer Zeit hat er im Kongo Warlords aufgespürt - das alles zu Recherchezwecken für seine Romane.
Die Welt des John Le Carré ist keine von Schwarz und Weiß oder gar von Gut und Böse. Besondere Erwähnung muss sein Einsatz für den Deutschtürken Murat Kurnaz finden, der schuldlos im Gefängnis von Guantánamo Haft und Folter ertragen hat. Das Kapitel "Murat Kurnaz ist unschuldig" zeugt von Humanität und Gerechtigkeitssinn.
Erst am Ende des Buches beschäftigt sich der Autor mit der eigenen Familie, insbesondere mit seinem Vater Ronnie Cornwell, einem windigen Geschäftsmann und notorischen Hochstapler. Das Kapitel sei so weit nach hinten gerutscht, um ihm nicht zu viel Gewicht zu geben, meint Le Carré - außerdem sei die Geschichte schon einmal erschienen. Das kann man natürlich auch anders sehen, als großer Block am Ende des Buches nimmt die altersmilde Auseinandersetzung mit dem "blendenden Spion" Ronnie Cornwell eine exponierte Stellung in der Komposition der autobiographischen Versatzstücke ein.
Ironie spielt mit dem Uneigentlichen und Nichtgesagten. Wenn man sich einen Decknamen zulegt, dann kann das auch von Ironie zeugen. An keiner Stelle der Autobiographie vermisst man eine ironische Nuance, eine perfekte minimale Distanzierung vom Gesagten durch ein sanftes Understatement. Das Buch endet mit einer Anekdote über die Hose von Rudolf Heß, die sich in den Sechzigern beim Umzug des Secret Service hinter irgendeinem Tresor wiederfindet.

 

John Le Carré: Der Taubentunnel: Geschichten aus meinem Leben. Aus dem Englischen von Peter Torberg. 384 Seiten. Ullstein. Berlin 2016. € 22,00.