Am Erker 68

Michael Esders: Ware Geschichte

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Rezensionen
Michael Esders: Ware Geschichte
 

Erzählen und verkaufen
Joachim Feldmann

Als Herbert Marcuse sich in den 1930er Jahren den Kopf über die verzwickten Eigenschaften der Kultur in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zerbrach, konnte er nicht ahnen, welch bemerkenswerte Entwicklung die Literatur nach dem Ende der so genannten Moderne nehmen würde. Bescheinigte der Theoretiker der Revolte und - wie Günter Kunert zu berichten wusste - Liebhaber amerikanischer Krimiserien der bürgerlichen Kultur einen gesellschaftsstabilisierenden "affirmativen Charakter", dem aber gleichzeitig auch ein Glücksversprechen und damit die Hoffnung auf eine bessere Welt innewohne, so sind das Erzählen und die Poesie mittlerweile zu bevorzugten Instrumenten des Marketings geworden. Der studierte Literaturwissenschaftler Michael Esders, Lesern dieser Zeitschrift als Verfasser hintersinniger Kurzgeschichten bekannt, hat bereits in seiner Essaysammlung Die enteignete Poesie (siehe die Rezension in Am Erker 62) aufgezeigt, wie mit Hilfe der Literatur Waren und Personen markttauglich gemacht werden. Nun liegt mit Ware Geschichte ein weiterer Band mit aufschlussreichen Untersuchungen zur strategischen Verwendung fiktionaler Verfahren in der wirklichen Welt vor. Anders als Marcuse und seine Frankfurter Schulkameraden, deren kritische Überlegungen eben doch ziemlich theoretisch blieben, wartet Esders mit konkreten Beispielen auf. So untersucht er, inwieweit ein österreichischer Hersteller aufputschender Brause zur "Medien-, Mythen- und Heldenmaschine" geworden ist, deren Marketingstrategie sich des seit der Antike geläufigen Erzählmusters der "Heldenfahrt" bedient. Oder was die "Rahmenerzählung", wie wir sie aus dem Decamerone oder den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht kennen, mit der grafischen Gestaltung von Computer-Betriebssystemen zu tun hat. Entkommen lässt sich diesem perfiden Zusammenhang nur schwerlich, ist es doch gerade das "Versprechen der Unkorrumpierbarkeit des Erzählens, der Poesie insgesamt", die seine Instrumentalisierung "durch die Überredungsbranche" so reizvoll macht. Bleibt also nur die gute alte Dialektik, die auch schon Herbert Marcuse offenbar ganz lebenspraktisch verstand. Die "Anziehungskraft des Erzählens", schreibt Esders in seinem Schlusssatz, "ist von seiner Sprengkraft nicht zu trennen." Und das wollen wir ihm gerne glauben.

 

Michael Esders: Ware Geschichte. Die poetische Simulation einer bewohnbaren Welt. 137 Seiten. Aisthesis. Bielefeld 2014. € 14,50.