| Die Krise als BehauptungFrank Schmitter
 Die Welt wird härter. "Abzittern" möchte 
                Gerald Beck, ein mäßig erfolgreicher Schriftsteller 
                und Ghostwriter in der Midlife-Crisis. Früher hätte 
                man Aussteigen gesagt, einen Neuanfang wagen, zur Ruhe kommen. 
                In der Welt von heute, in einem Käfig von Ängsten, Stress 
                und Leistungsdruck, ist "Abzittern" angesagt. Für 
                den Ich-Erzähler entsteht unverhofft die Chance, als ihn 
                ein tyrannischer Fernheiler und Feind der Schulmedizin namens 
                Pentland als Ghostwriter engagiert und mit einem komfortablen 
                Vorschuss versorgt. Beck reist zwar nach Spanien, wo er sich mit 
                Pentland zu intensiven Arbeitssitzungen treffen soll, aber er 
                möchte mit dem Geld fliehen, vor seiner Vergangenheit, seinen 
                bescheidenen literarischen Erfolgen, seiner festgefahrenen Beziehung 
                mit Lebensgefährtin Marion. Parallel zu seiner realen Flucht 
                entdeckt Beck die Erotik-Chatrooms im Internet und in ihnen die 
                Möglichkeit, die komplizierte Welt der Bedürfnisse gegen 
                die virtuell unbegrenzten Phantasien einzutauschen. Beck erfährt, 
                dass sich viele User nur virtuell ihrer Lust hingeben wollen, 
                andere hingegen die Internet-Foren als Pforte zu realen Kontakten 
                besuchen. Dies will auch ein tolerantes Pärchen namens Monika 
                und Jo, auf das sich Beck immer tiefer einlässt.Mit dem diktatorischen Pentland - der Beck übrigens glauben 
                machen will, bald sterben zu müssen, wenn er nicht auf Pentlands 
                Radikaltherapie umsteigt - und der Internet-Sexualität hat 
                der 1952 geborene Herbert Genzmer gleich zwei parallele Spannungsebenen 
                in das Road-Movie eingearbeitet, das Gerald Beck auf seiner Autofahrt 
                nach Spanien und Portugal zeigt. Interessanterweise glücken 
                Genzmer die Reiseszenen weit besser als die Erotik-Flirts im Internet, 
                die in ihrem trivialpornographischen Ficken-Lecken-Blasen-Vokabular 
                bald ermüden. Die Auseinandersetzung mit dem diabolischen 
                Scharlatan Pentland ist zwar vital geschildert, bleibt aber auf 
                der individualpsychologischen Ebene eines Machtspiels.
 Nein, das eigentliche Problem dieses konzentriert erzählten 
                Romans ist ein anderes: Becks Vergangenheit, die Genese seiner 
                Krise, wird als Arbeitshypothese aufgestellt, aber nicht erzählerisch 
                entwickelt. Beck ist ein Mann ohne Herkunft und ohne Geschichte. 
                Auch die sporadischen Erinnerungen an seine Freundin Marion verraten 
                zwar den üblichen Alltagsfrust einer Beziehung, aber kein 
                Motiv, ihren Wagen zu stehlen und abzutauchen. Vielleicht rückt 
                er deshalb dem Leser nicht wirklich nahe, es fehlt die Wahrhaftigkeit 
                der Verzweiflung. Der Leser wird Becks Beobachter, aber nicht 
                sein Freund und Komplize.
 Abzittern ist das zweite Buch von Herbert Genzmer im Mitteldeutschen 
                Verlag. Der Autor hat interessanterweise 1986 bei Suhrkamp debütiert 
                und seitdem im Verlagswesen und im realen Leben als Literaturwissenschaftler, 
                Dozent, Sachbuchautor und Biograph eine lange Odyssee über 
                mehrere Kontinente hingelegt. Abzittern beweist beeindruckende 
                sprachliche und kompositorische Fähigkeiten, die sich hoffentlich 
                bald zu einem wirklich geglückten Roman vereinigen werden.
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