Am Erker 85

Carl Nixon: Kerbholz

Nicola Lagioia: Die Stadt der Lebenden

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde

Jochen Brunow: Verdeckte Spuren

James Lee Burke: Verschwinden ist keine Lösung

 
Mord & Totschlag 85
Die Krimi-Kolumne von Joachim Feldmann
 

Die Ermittlungen scheitern, und das Verbrechen bleibt ungesühnt. Dass Carl Nixon seinen Roman Kerbholz mit einem Kinderlachen beendet, wirkt dennoch nicht zynisch. Aber halt. Wir befinden uns erst im vorletzten Kapitel des Buches. Für das tatsächliche Finale springt die Handlung noch einmal acht Jahre zurück. Ein Junge stirbt. Und er schreit "in höchsten Tönen". Ein "letzter zorniger Protest" gegen ein grausames Schicksal, das ihn als Dreizehnjährigen gemeinsam mit seinen Geschwistern in die Hände skrupelloser Hinterwäldler geraten ließ. So könnte man die Geschichte lesen. Wären da nicht seine Schwester und das Lachen ihres Kindes.
Carl Nixon ist einer der besten Erzähler (nicht nur) seiner neuseeländischen Heimat. Seine Bücher werden gerne dem Spannungsgenre zugerechnet, aber das ist nur ein literaturkritischer Notbehelf. Kerbholz, die brutale Geschichte vom Zerfall einer Familie, stellt existenzielle Fragen. Der Roman beginnt mit einem Autounfall im wilden Westen Neuseelands. Drei Tote, drei Überlebende. Doch auch deren Schicksal scheint besiegelt. Wären da nicht Martha und Peters, ein obskures Farmerpaar, das sich der Kinder annimmt. Allerdings nicht aus Barmherzigkeit. Sie hätten Schulden für Unterkunft und Verpflegung, heißt es bald, und die gelte es abzuarbeiten, erst dann seien sie frei. Ein ebenso archaischer wie betrügerischer Handel, auf den die Geschwister sehr unterschiedlich reagieren. Symbolisiert durch ein Kerbholz, das dem Roman seinen Titel gibt. Währenddessen versucht ihre Tante in England den Verbleib der Familie zu ermitteln und reist sogar mehrmals nach Neuseeland. Dass sie dabei ihrem Ziel sehr nahe kommt, gehört zur bitteren Ironie des Romans.
Carl Nixon verzichtet auf eine durchgängige Chronologie. Anhand von ungefähren Zeitangaben über den jeweiligen Kapiteln lässt sich ein Handlungsablauf rekonstruieren. Das zwingt zu aufmerksamer Lektüre. Und die lohnt sich sehr.

Das lässt sich, mit Einschränkungen, auch von Nicola Lagioias literarisch ambitionierter Großreportage Die Stadt der Lebenden sagen. In deren Mittelpunkt steht ein aufsehenerregender Mordfall im Jahr 2016. Zwei junge Männer quälen und töten einen ihnen kaum bekannten Dreiundzwanzigjährigen. Ein Motiv ist nicht erkennbar, die vor und während der Tat konsumierten Drogen bieten eine ebenso notdürftige Erklärung wie die sexuelle Orientierung der Täter. Mehr darf man in dieser Hinsicht auch nicht von den mehr als fünfhundert Seiten des Buches erwarten. Lagioia konzentriert sich auf die Umstände und Folgen der Tat und porträtiert die beteiligten Personen in all ihrer Widersprüchlichkeit. Das Ergebnis ist ein streckenweise zynisches, von vergeblicher Zuneigung geprägtes Porträt der Metropole Rom, dessen Effekt so überwältigend ist, dass man das Buch nach der Lektüre erschöpft aus der Hand legt.

Von der Großstadt in die Provinz, wo mürrische Hinterwäldler nach archaischen Sitten leben und der Aberglaube regiert. Das Berry, zweihundert Kilometer südlich von Paris, ist so eine Gegend. Zumindest in dem 1972 erschienenen Thriller Die Nacht der kranken Hunde des unter dem Pseudonym A.D.G. schreibenden Autors Alain Fournier (1947-2004). Schon ein Jahr später lag eine deutsche Übersetzung vor, die der Elsinor Verlag nun, wie es sich für einen Klassiker gehört, als schickes Paperback samt ausführlichem Nachwort des Genrekenners Martin Compart leicht überarbeitet wieder aufgelegt hat. Ein Roman voll roher Gewalt, erzählt wie eine ländliche Posse. Und zwar von einem der Dorfbewohner, dessen Identität erst am Ende des Buchs in einem unerhörten Plot-Twist geklärt wird. Denn der Autor versteht sich auf das Spiel mit unseren Leseerwartungen. Deshalb erweist sich die Ankunft einer Gruppe nomadisierender Hippies im Dorf auch nicht als Zündfunke für den Gewaltausbruch. Das Böse kommt von innen, und es trägt ein Lächeln auf dem Gesicht. Dass der Roman erfrischend zynisch endet, passt zu diesem Menschenbild. Der "rechte Anarchist" A.D.G. ist wegen seiner politischen Ansichten bis heute, vorsichtig formuliert, umstritten, sein literarisches Werk allerdings nicht. Es lohnt sich, selbst herauszufinden, dass dieses ästhetische Urteil gerechtfertigt ist.

Verdeckte Spuren, das literarische Debüt des erfahrenen Drehbuchautors Jochen Brunow, ist kein "Sardinien-Krimi". Obwohl der Roman zur Hälfte auf der Mittelmeerinsel spielt, entzieht sich der Autor populären Vermarktungsstrategien. Zum Glück. Denn das Buch ist zu gut für kurzlebige Marketingtrends. Im Mittelpunkt der Handlung steht der verwitwete Kriminalrat a. D. Beckmann, 61 Jahre alt, trockener Alkoholiker und vorzeitig aus dem Amt gedrängt. Dass sein Suchtproblem nur ein Vorwand war, den hartnäckigen Ermittler loszuwerden, ist nicht unwahrscheinlich. Denn Beckmann, zuständig für die Organisierte Kriminalität, war einem großen Korruptionsskandal am neuen Berliner Flughafen auf der Spur, der sich offenbar bis in die Polizeibehörde erstreckte. Nun lebt er zurückgezogen in einem Ferienhaus auf Sardinien, während sein früherer Mitarbeiter Schäfer, unterstützt von einem investigativen Journalisten, auf eigene Faust weiter an dem Fall arbeitet. Und das ist brandgefährlich, wie das Trio bald erfährt. Brunow lässt sich viel Zeit für seine Figuren und deren Umgebung, während die konkrete Ermittlungstätigkeit, die zu nicht geringem Teil aus der Digitalisierung von Akten besteht, im Hintergrund verläuft. Das macht den Roman nicht minder spannend. Aufgeklärt ist der Fall am Ende nur zum Teil. Das muss auch so sein, nicht nur, weil es sich bei Verdeckte Spuren um den ersten Band einer Trilogie handelt. Schließlich ist dem Bösen in der Welt auch literarisch nur noch bedingt beizukommen.

Wer wüsste das besser als James Lee Burke, der seinen Ermittler Dave Robicheaux seit 1987 mit inneren und äußeren Dämonen ringen lässt. Nun ist die Reihe mit Band 23, im Original bereits vor drei Jahren erschienen, an ihr vorläufiges Ende gelangt. Vorläufig deshalb, weil in Burkes literarischem Universum Figuren nie ganz verschwinden und die Chronologie der geschilderten Ereignisse nur eine bedingte Rolle spielt. Auch die traditionelle Handlungslogik des Genres wird mit System ausgehebelt. Angesichts schuldbeladener Übeltäter, die seit Jahrhunderten durch die Zeit reisen, gerät herkömmliche Detektivarbeit an ihre Grenzen, zumal Burkes mäandernder Erzählstil einen realistischen Zugriff auf seinen Stoff nur simuliert. Wie viele seiner Vorgängerbände ist auch Verschwinden ist keine Lösung mehr spannungsliterarisch befeuertes Exerzitium als Kriminalroman und damit eine herausfordernde Lektüre. Wer dabei Orientierung braucht, findet sie im sehr informativen Nachwort von Jochen König. Dass der Pendragon Verlag diese epische Großtat in einer nun vollständig vorliegenden Gesamtausgabe auf Deutsch zugänglich macht, ist ein kaum zu überschätzender kultureller Verdienst.

 

Carl Nixon: Kerbholz. Roman. Aus dem Englischen von Jan Karsten. 304 Seiten. Culturbooks. Hamburg 2023. € 24,00.

Nicola Lagioia: Die Stadt der Lebenden. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. 505 Seiten. btb. München 2023. € 25,00.

A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde. Ein Klassiker des Noir-Thrillers. Aus dem Französischen von Kurt Müller. 194 Seiten. Elsinor. Coesfeld 2023. € 19,00.

Jochen Brunow: Verdeckte Spuren. Roman. 327 Seiten. BoD. Norderstedt 2023. € 15,90.

James Lee Burke: Verschwinden ist keine Lösung. Ein Dave-Robicheaux-Krimi. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger. 464 Seiten. Pendragon. Bielefeld 2023. € 24,00.