Am Erker 61

Jenny Erpenbeck 2018
Jenny Erpenbeck 2018, Foto: Heike Huslage-Koch
Jenny Erpenbeck 2018
Foto: Heike Huslage-Koch

Jenny Erpenbeck: Geschichte vom alten Kind

Der Spiegel 41/1999

Jenny Erpenbeck: Heimsuchung

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Jenny Erpenbeck

 
Jenny Erpenbeck

Im Gespräch mit Alfons Huckebrink und Frank Lingnau über Grenzen und Grenzüberschreitungen.

Am Erker Nr. 61, Münster, Juni 2011 - auch als Download im doc-Format zu lesen.

"Ich denke viel über Übergänge nach."

Die 1967 in Ostberlin geborene Autorin entstammt einer klassischen Schriftstellerfamilie: Ihre Großeltern waren Hedda Zinner und Fritz Erpenbeck, ihre Mutter Doris Kilias arbeitete als Übersetzerin aus dem Arabischen, und ihr Vater ist der Physiker, Psychologe und Autor John Erpenbeck. Nach einer Buchbinderlehre und Tätigkeiten als Requisiteuse und Ankleiderin an der Staatsoper in Berlin studierte Jenny Erpenbeck bei Peter Konwitschny, Ruth Berghaus, Werner Herzog und Heiner Müller Theaterwissenschaften und Musiktheaterregie. Seit 1991 arbeitete sie zunächst als Regieassistentin und inszenierte danach Aufführungen für Oper, Musik- und Sprechtheater in Berlin, Potsdam und Graz.
Mit ihrem ersten Roman Geschichte vom alten Kind gelang ihr 1999 der literarische Durchbruch. 2001 erschien Tand, eine Sammlung von Erzählungen, 2005 folgte Wörterbuch und 2008 ihr Roman Heimsuchung, für den sie den Heimito-von-Doderer-Literaturpreis, den Hertha-König-Literaturpreis und den Solothurner Literaturpreis erhielt.
Jenny Erpenbeck lebt mit ihrem achtjährigen Sohn in Berlin. Mit ihr sprachen Alfons Huckebrink und Frank Lingnau nach einer Lesung in Münster.

 

Am Erker: Ein größeres Publikum dürfte 1999 auf Sie aufmerksam geworden sein, als Sie - unter dem Titel "Die Enkel von Grass und Co." - neben Karen Duve, Benjamin Lebert und anderen auf dem Cover des Spiegel abgebildet waren. Kurz zuvor war Ihr erster Roman Geschichte vom alten Kind erschienen. Welche Folgen hatte dieses Spiegel-Cover für Sie?

Erpenbeck: Es hat mir sicher sehr dabei geholfen, als Debütantin im Literaturbetrieb wahrgenommen zu werden. Wenn jemand auf dem Titelbild des Spiegel erscheint, heißt das: Aha, die darf gelobt werden. Man wird sozusagen augenblicklich in den Kanon aufgenommen. Ein ganz konkreter Vorteil bestand für mich darin, dass dieser Spiegel zur Frankfurter Buchmesse erschien, bei der mein erstes Buch vorgestellt wurde. Als der Verlag dann dort über die Taschenbuchrechte verhandelte, hatte ich natürlich die besten Ausgangsbedingungen. Btb war bereit, ein bisschen mehr zu bezahlen. Und ich konnte das Geld gut gebrauchen.

Am Erker: Kannten Sie Günter Grass bereits persönlich?

Erpenbeck: Nein. Ich bin ihm erst später einmal bei den Lesungen um den Döblin-Preis, den er ja gestiftet hat, begegnet. Zu den anderen Autoren, die dafür nominiert waren, hat Grass nach der Lesung immer etwas gesagt, zu mir leider nicht. Ich dachte, na ja, vielleicht weiß er mit meinem Text nichts anzufangen. Er hat nur kryptisch geschaut - keine Ahnung, was er sich gedacht hat.

Am Erker: In der Geschichte vom alten Kind erzählen Sie von einem scheinbar verstörten Mädchen, das von der Polizei aufgegriffen wird, seinen Namen nicht kennt und über seine Herkunft keine Auskunft geben kann. In der Welt des Kinderheims, in dem es untergebracht wird, scheint es sich wie in einem selbst gewählten Exil einzurichten und mit dem untersten Platz in der Hierarchie zufrieden zu sein. Schließlich entpuppt sich das vermeintlich vierzehnjährige Mädchen als erwachsene Frau. Schaut man sich Rezensionen zu Ihrem ersten Roman an, fallen auch Stimmen auf, die den Text als Parabel interpretieren und das Kinderheim mit dem System der DDR vergleichen.

Erpenbeck: Das ist sicher nicht ganz verkehrt. Was mich damals interessierte und immer noch sehr interessiert, ist, die gängige Bewertung bestimmter Situationen noch einmal aufzuheben - etwas noch einmal von der anderen Seite anzuschauen. Ganz im Gegensatz zur Stimmung nach der Wende, die überall den "mündigen Bürger" einforderte, hat es mich gereizt, eine Figur zu beschreiben, der es gerade darauf ankommt, nicht mündig zu sein, sondern behütet, nicht zu lernen, sondern zu verlernen, nicht erfolgreich zu sein, sondern in der Hierarchie ganz nach unten zu rutschen. Ich wollte ein offenes System einem geschlossenen gegenüberstellen, und meine Fragen formulieren - denn im Schreiben denkt man ja nach und fragt, und das ist viel interessanter, als den gesellschaftlich vereinbarten Standard bestimmter Antworten zu übernehmen.

Am Erker: Glauben Sie an die Geborgenheit innerhalb eines geschlossenen Systems?

Erpenbeck: Die Menschen sind verschieden. Für manche ist es nicht in erster Linie wichtig, öffentlich ihre Meinung zu äußern - soziale Sicherheit und eine bezahlbare Wohnung dagegen finden sie sehr wichtig, vor allen Dingen im Rückblick. Viele DDR-Bürger empfanden es nach 1989 als fatal, dass auf einmal das eintrat, was sie in der Schule gelernt hatten: dass der Kapitalismus tatsächlich ein System ist, das über Geld organisiert wird, und in dem jeder allein dafür verantwortlich ist, wie er überlebt.

Am Erker: Zu der Geschichte vom alten Kind gibt es eine interessante Vorgeschichte: Sie haben als Siebenundzwanzigjährige noch einmal für vier Wochen die elfte Klasse eines Berliner Gymnasiums besucht. Welche Ihrer dortigen Erfahrungen sind in das Buch eingeflossen?

Erpenbeck: Zum Teil sehr konkrete Erfahrungen. Beispielsweise hatte ich zwar überlegt, was ich anziehe, darauf geachtet, mich nicht zu schminken und so weiter - hatte aber nicht über meine Handschrift nachgedacht. Als ich dann zum ersten Mal etwas mitschreiben musste, wurde mir klar, dass meine Handschrift 'erwachsen' ist. Einerseits war es ein Wagnis, in ein anderes Alter hineinzuschlüpfen und zu versuchen, eine falsche Existenz zu etablieren. Ich hatte Angst, mich durch irgendetwas zu verraten, war unsicher, wie ich mich unter den zehn Jahre Jüngeren bewegen sollte. Andererseits hatte dieses Experiment aber auch einen großen Reiz. Es war ein Privileg, gleichzeitig in der einen und in der anderen Zeit zu Hause zu sein, meine Position erlaubte mir den Blick von außen, der mehr sieht - ich konnte spielen.

Am Erker: Das Thema dieser Ausgabe von Am Erker lautet: "Über Grenzen". Sie haben die ersten zwanzig Jahre Ihres Lebens in der DDR verbracht, sind mit spezifischen kulturellen Traditionen groß geworden, zu denen etwa die Werke Brechts, Hermlins, Majakowskis und Eislers zählten. Was ist Ihnen heute von diesen linken Traditionen (wichtig) geblieben?

Erpenbeck: Vielen meiner alten Freunde ist diese Tradition noch sehr präsent, und sie verbindet uns. Kürzlich habe ich mit einem Freund, der gerade sechzig geworden ist, wieder einmal Schallplatten von Ernst Busch angehört. Mit großer Freude übrigens, die aber nicht ungetrübt ist, weil es gerade bei Personen wie Ernst Busch oder Majakowski einen starken Aufbruch, eine große Hoffnung gab und dann ein tragisches Ende. Diese unverbrauchte, im besten Sinne naive Art von linker Hoffnung ist auch in der DDR später nicht mehr geschätzt worden.

Am Erker: Gerade Ernst Busch verkörperte doch den kraftvollen proletarischen Künstler.

Erpenbeck: Dessen Tonaufnahmen aber bei den letzten Maidemonstrationen in der DDR schon nicht mehr gespielt wurden. Sehr schade, weil es die besten Traditionen waren, die man da aufgab.

Am Erker: Was, meinen Sie, war der Grund dafür?

Erpenbeck: Ich denke, dass die Zeit in der sowjetischen Emigration für viele deutsche Kommunisten sehr schwierig war. Im Zusammenhang mit meinem Roman Heimsuchung habe ich mich damit befasst. Unter Stalin ist eine unglaubliche Sprachkontrolle installiert worden. Die Leute hatten Angst, in Prozesse verwickelt zu werden, ins Lager zu kommen, umgebracht zu werden. Dennoch wollten sie die Loyalität ihrer Idee gegenüber nicht aufgeben. Sie sind mit einem sehr vorsichtigen Denken und einem noch viel vorsichtigeren Sprechen aus der SU zurückgekommen - und übernahmen dann in der sowjetischen Besatzungszone die leitenden Positionen. Wolfgang Leonhardt beschreibt ja sehr gut, wie die kommunistischen oder sozialistischen West-Emigranten, durchaus auch vernünftige und kluge Leute, systematisch beiseitegedrängt wurden. Und darin lag sicher der Anfangsfehler. Später gab es dann vielleicht auch eine Angst vor den Gespenstern aus der Vergangenheit, den eigenen Genossen, die ihre Unschuld über die Zeiten gerettet hatten. Da fiel der Gegensatz zum bürokratisierten Ton des Apparats womöglich zu deutlich auf. Mit dieser doppelten Sprechweise bin auch ich in der DDR aufgewachsen. Allerdings wurde die Ablösung der privaten von der offiziellen Meinung auch unter denen, die prinzipiell für ein sozialistisches System waren, mit der Zeit immer selbstverständlicher. Die Regierung war zwar präsent, wurde aber von niemandem in meiner Generation ernst genommen. In der Zeitung stand dies oder das, aber man las zwischen den Zeilen. Übrigens auch für heutige Zeitungslektüre ein gutes Training. Es ist immer gut, Dinge aus einer gewissen Distanz zu beurteilen, für Schriftsteller erst recht.

Am Erker: Spielte unter diesem Aspekt das Wort, und speziell das Wort der Schriftsteller, eine größere Rolle als im Westen?

Erpenbeck: Sicher. Es war nicht so viel egal. Heute kann man seine Meinung frei äußern, aber andererseits damit schwerer etwas in Bewegung bringen. Gleichzeitig habe ich manchmal das Gefühl, dass in Bezug auf manche Dinge auch heute das Vokabular sehr festgelegt ist. Beinahe mechanisch wird die DDR überall mit dem Zusatz "Unrechtsstaat" versehen. Dinge komplex zu bewerten, ist eben zu jeder Zeit schwer. Beispielsweise war es sicher eine ganz schlechte Idee der DDR-Führung, die Mauer zu bauen, und zwar - abgesehen von der moralischen Seite - auch überhaupt eine schlechte Idee, weil sie nämlich nicht funktioniert hat und nicht funktionieren konnte. Mit Mauern löst man eben keine Probleme. Aber für den Mauerbau hat es Gründe gegeben, die mit dem Faschismus und dem Kriegsende zusammenhängen, und darüber nachzudenken, wäre gerade heute interessant, wo die Mauer nun zwischen Afrika und Europa verläuft. Auch eine interessante Frage, ob es schlimmer ist, Leute einzusperren, als Leute auszusperren. Ich würde mir manchmal einfach wünschen, dass mehr Fragen gestellt würden, bevor be- oder verurteilt wird.

Am Erker: War die DDR auch und vor allem die Diktatur der Opfer, also derjenigen Menschen, die mit ihren spezifischen Erfahrungen aus dem Faschismus diesen Staat geprägt haben?

Erpenbeck: Nehmen wir meine Großmutter Hedda Zinner. Deren politisches Denken begann bereits vorher, etwa zum Ende der zwanziger Jahre. Deshalb ist sie für mich nicht in erster Linie ein Opfer, sondern jemand, der schon vor dem Faschismus eine gesellschaftliche Alternative angestrebt hat - also aktiv war und Position bezogen hat. Aber interessant ist natürlich die Frage: Was passiert eigentlich mit Leuten, die gegen viel Widerstand und unter großen persönlichen Opfern endlich erreichen, was sie wollen, und dann plötzlich an der Macht sind? Was machen sie mit der Macht - und was die Macht mit ihnen?

Am Erker: Sie sprachen bereits Ihre Familie an: Ihre Großeltern, beide Schriftsteller, Ihr Vater, Schriftsteller und Philosoph, Ihre kürzlich verstorbene Mutter eine anerkannte Übersetzerin ins Arabische. Wenn man in einer solch ausgeprägten Familientradition aufwächst, wird man doch mit Sicherheit nicht Schriftstellerin werden wollen. Wie ist es dann doch dazu gekommen, dass Sie heute sagen können: Ich bin Schriftstellerin?

Erpenbeck: Schreiben war für mich immer das Naheliegende, wenn ich mich äußern wollte. Schon als Kind, und vor allen Dingen später, als junge Frau, habe ich sehr viel Tagebuch geschrieben - und natürlich Briefe. Als ich mit dem Studium der Opernregie fertig war, keine Arbeit fand, von Sozialhilfe lebte und beim Bäcker aushalf, habe ich gedacht, so kann es nicht ewig weitergehen - und habe mir sozusagen selbst Arbeit gegeben. Ich habe mich an das erinnert, was meine Großmutter mir einmal erzählt hatte, von dieser Frau, die sich als Kind ausgab, und habe begonnen, das in eine Geschichte zu verwandeln. Der Text stieß bei meinem Vater und meinem damaligen Freund zunächst auf Kritik, so dass ich ihn erst einmal wieder in die Schublade legte. Drei Jahre später gelangte das Manuskript auf Umwegen dann doch zum Eichborn-Verlag. Der Lektor rief mich zwei Wochen später an und sagte, dass sie begeistert sind und es veröffentlichen wollen. Ich war sehr überrascht und glücklich, so nahm alles seinen Lauf.

Am Erker: Fiel es Ihnen schwer, sich angesichts einer so übermächtigen Familientradition auch zum Schreiben zu bekennen?

Erpenbeck: Was die Familientradition angeht, so macht jeder beim Schreiben doch immer sein Eigenes: Das Schreiben meiner Großeltern hat nichts mit dem meines Vaters zu tun, und das Schreiben meines Vaters nichts mit meinem. Aber durch meine Familie hatte ich wahrscheinlich eine bessere Ausgangsposition als viele andere Autoren, weil wir zu Hause natürlich immer viel über Literatur geredet haben. Außerdem hat mein Vater mich immer mit erstklassiger Lektüre versorgt.

Am Erker: Sie erwähnten gerade Ihre ersten Erfolge. War denn in den letzten zwölf Jahren Ihre materielle Existenz als freie Schriftstellerin nie gefährdet?

Erpenbeck: Zum Glück konnte ich mit der Opernregie die ersten Jahre überbrücken. Ich machte eine Inszenierung im Jahr und lebte dann den Rest des Jahres davon, während ich schrieb. Irgendwann kam ich dann auch mit dem aus, was ich durch die Lesungen, Tantiemen und Vorschüsse verdiente. Man muss lernen, sich zu konzentrieren, vor allem, wenn man ein Kind hat. Im Moment lebe ich vom Schreiben.

Am Erker: Wie halten Sie Ihre Konzentration aufrecht? Schreiben Sie ein so komplexes Werk wie Heimsuchung stringent durch, oder gibt es viele Pausen, in denen es liegen bleibt?

Erpenbeck: Etwas liegen zu lassen, kann ich mir nicht leisten, und das würde mich auch nicht weiterbringen. Die Heimsuchung ist ja in Kapiteln erzählt, die ich einzeln geschrieben habe. Ich habe mit den Kapiteln begonnen, die mir am leichtesten fielen, und währenddessen parallel für die anderen recherchiert. Man, oder ich jedenfalls, kann ja nicht sieben Stunden am Tag schreiben. Reine Schreibzeit sind bei mir ungefähr drei, vier Stunden. In der restlichen Zeit kann ich in Archive gehen, lesen, mit Leuten sprechen, Orte besuchen. In manchen Monaten verschob sich das Gewicht auch zugunsten der Recherche, es gab ein, zwei größere Reisen, und in Archiven kann man sich auch wirklich verlieren ... Das Interessante war aber, dass durch das parallele Arbeiten die einzelnen Kapitel ganz von selbst miteinander verwachsen sind, und zwar ohne dass sie damals schon in der Reihenfolge angeordnet gewesen wären, in der sie jetzt im Buch stehen.

Am Erker: Eine Maxime von Heiner Müller lautet: "Alles ist Material". Könnte das auch Ihre Maxime sein? Sie erwähnen die umfangreichen Recherchen zu Heimsuchung, in das sehr viel Autobiographisches eingeflossen ist. Wird all das von Ihnen als Material betrachtet?

Erpenbeck: Ich verstehe, dass die Leute bei Lesungen nach der Authentizität fragen. Sie wollen, dass mein Schreiben von eigener Erfahrung getragen ist, weil sie anhand von Literatur ja auch über ihr wirkliches Leben nachdenken wollen. Und wahrscheinlich finden sie, dass ich eher 'berechtigt' bin, über etwas zu schreiben, wenn ich es selbst erlebt habe. Ich aber habe oft festgestellt, dass beim Schreiben auch die eigene Erfahrung plötzlich zu Material wird. Manchmal fällt es mir selbst schwer, zwischen dem, was ich selbst erlebt habe, und dem, was ich erfunden habe, zu unterscheiden. Man trifft aus vielem möglichen Material eine Auswahl. Die Auswahl aber setzt einen bestimmten Blickwinkel voraus, sonst könnte man nicht entscheiden, was man verwendet und was nicht. Durch den Vorgang des Auswählens aber wird - auch das eigene Material - natürlich manipuliert. Authentisch ist letztendlich nur die Entscheidung, was man erzählen will und was nicht - also der Blick selbst, die Sichtweise.

Am Erker: Sie haben im Rahmen Ihres Studiums bei Heiner Müllers Tristan in Bayreuth assistiert. Wie haben Sie ihn wahrgenommen?

Erpenbeck: Heiner Müller war ein ganz wunderbarer Mensch. Mein Studium war bis dahin teilweise recht anstrengend gewesen, weil die anderen Regisseure, bei denen ich lernte, nicht unbedingt die leichtesten Charaktere waren. Heiner Müller aber war ein vom Stress des Theaterbetriebs unabhängiger Geist, dazu vollkommen uneitel. Er ließ sich nicht terrorisieren, und er hat auch andere nicht terrorisiert. Er ist in großer Unschuld daran gegangen, ausgerechnet mit dem Tristan in Bayreuth seine erste Oper zu inszenieren. Er konnte keine Noten lesen und hatte bis dahin keine Erfahrungen mit der Arbeitsweise von Sängern - aber er hatte ein Gefühl für die große Abstraktion, die der Oper von Grund auf innewohnt. Und das lag ihm. Er machte eher eine Choreografie als eine Inszenierung, alles hatte eine große Strenge, was ich sehr schön fand. Er war sehr behutsam und gleichzeitig radikal. Abgesehen davon war sein Schreiben außerordentlich, und alles, was er in Interviews sagte, so intelligent, dass sein Tod wirklich einen schweren Verlust für die ganze deutsche Geisteslandschaft darstellt. Müller ist unersetzlich.

Am Erker: Sie arbeiteten selbst als Regisseurin, unter anderem einige Jahre am Opernhaus in Graz. Momentan widmen Sie sich vorwiegend dem Schreiben. Welchen Stellenwert hat Theaterarbeit heute noch für Sie?

Erpenbeck: Theater ist für mich auch ein Art von Heimat, und ich werde sicher eines Tages wieder inszenieren. Bevor aber mein Mann, der momentan als Dirigent in Hannover arbeitet, wieder nach Berlin ziehen wird, kann ich nicht sechs Probenwochen anderswo verbringen. Ein Kind löst sich ja - Gott sei Dank - nicht einfach in Luft auf. Aber ich liebe meine Arbeit am Schreibtisch sehr, das Alleinsein hat zwar manchmal seine Tücken, aber ist für mich vor allem ein großes Privileg, eine große Freiheit.

Am Erker: Grenzen als Motiv oder Metapher finden sich in verschiedenen Ihrer Werke. In Ihrer Erzählung "Atropa belladonna" aus dem Prosaband Tand gehen Menschen über Grenzen, aber die Ich-Erzählerin meint, das "ganze Fleisch der Idee" sei dabei auf der Strecke geblieben. Was bedeutet die Metapher von "über die Grenze gehen" für Sie?

Erpenbeck: Ich denke viel über Übergänge nach und über den Zeitpunkt, wann etwas auf die andere Seite kippt. Das hat natürlich immer etwas mit Grenze und Grenzüberschreitung zu tun. Heiner Müller hat einmal gesagt: "Und das Wort fällt uneinholbar in das Getriebe der Welt". Das ist auch eine Art von Grenzüberschreitung, ein Übergang. In dem Moment, in dem etwas ausgesprochen wird, kann ein ganzes System umkippen. Das ist spannend.

Am Erker: In Heimsuchung erzählen Sie anhand der Geschichte eines Hauses an einem märkischen See und seiner wechselnden Bewohner und Besitzer von den politischen Umbrüchen im zwanzigsten Jahrhundert. Eine Figur, der zwischen den Kapiteln immer wiederkehrt, scheint außerhalb der Zeit zu leben: der Gärtner, der den Garten des Hauses pflegt. Wie ist diese Figur entstanden?

Erpenbeck: Es gab diesen Gärtner tatsächlich. Er starb, als ich vielleicht vier oder fünf Jahre alt war. Ich fand ihn immer etwas unheimlich, weil er so wenig sprach. Vielleicht wurde er deshalb für mich zu einer Art mythischer Figur. Durch die Ruhe und Regelmäßigkeit, mit der er seine Arbeit verrichtet, verbindet er die Natur mit den Menschen, den "Herren" des Gartens, die in aktuelle gesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden sind.

Am Erker: Der Gärtner scheint sich als Einziger uneigennützig um die Gärten und um die Natur zu kümmern, die man ihm anvertraut hat. Ist der Gärtner derjenige - auch im Sinne von Brechts Diktum "Der Boden soll denen gehören, die ihn bearbeiten", der ein Anrecht auf diese Orte erworben hat, und zwar jenseits aller juristischen und politischen Erwägungen?

Erpenbeck: In meinem Buch ist der Gärtner immer schon da, und am Ende stirbt er nicht, sondern verliert sich. In diesem Sinne ist er viel tiefer mit dem Ort verbunden, als irgendeiner der juristischen Besitzer, die sich plötzlich etwas aneignen, es einzäunen und später vielleicht wieder verkaufen wollen. Es ist eine erstaunliche Veränderung, dass Seegrundstücke zu Beginn des Jahrhunderts, als der Urlaub und die Eisenbahn erfunden waren, plötzlich einen ganz neuen Wert bekamen. Etwas Ähnliches wiederholte sich, nachdem Berlin wieder die Hauptstadt des vereinten Deutschland geworden war. Auch dabei wurden Grenzen überschritten.

Am Erker: Wenn sich Besitz- und Zugangsrechte verändern, bekommt Heimat eine andere Bedeutung. Lässt sich Heimat denn planen, wie es in Heimsuchung von dem Architekten gesagt wird?

Erpenbeck: Ich habe versucht, in jedem Kapitel einen anderen Heimatbegriff zu entwickeln. Bei dem Architekten ist es aufgrund seines Berufes naheliegend, dass er Heimat planen will. Der Anfang des Buches zitiert das arabische Sprichwort: "Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod." Das heißt: Trotz akribischer Planungen gibt es letztlich keine Garantie auf Bestand, auf Heimat. Das muss auch der Architekt erfahren.

Am Erker: Im zweiten Kapitel von Heimsuchung wird von dem Schulzen, einem der ersten Bewohner des Grundstückes an diesem märkischen See, und seinen vier Töchtern erzählt. Eingeleitet wird dieser Text mit einem Regelwerk von Bräuchen und Traditionen, die auch dafür verantwortlich zu sein scheinen, dass die Töchter nicht heiraten. Von der jüngsten, Klara, wird gesagt, sie falle "aus der Welt des Benehmens". Das erinnert in gewisser Weise an die Geschichte vom alten Kind und seine Protagonistin, die nicht zur Welt des Benehmens gehören will. Haben Sie ein Faible für solche Figuren?

Erpenbeck: Das ist eine gute Frage. Mich interessiert die Eigenmächtigkeit dieser Figuren und die Frage, wie die anderen mit ihnen, die sich nicht an die Regeln halten, umgehen können. Es hebelt ja das Zusammenleben vollkommen aus, wenn jemand ohne Grund Regeln bricht, das heißt, ohne selbst das Bedürfnis, Tabus zu verletzen, sich zu rächen oder Ähnliches. Wie begegnet man zum Beispiel Jugendlichen, die jemanden zusammenschlagen, und zwar einfach nur, weil sie nichts Besseres zu tun haben? Solche Aktionen stellen das System als Ganzes infrage.

Am Erker: Die Zeit wird in Heimsuchung als vierte Dimension bezeichnet, und zwar im Zusammenhang mit dem Architekten. Sie ist die einzige Dimension, die Menschen nie beherrschen werden. "Als könne die Zeit sich, auch wenn man sie ganz fest in der Hand hält, herumwerfen und zappeln und sich einem, wie sie grad will, verdrehen." Eine sehr treffende Beschreibung dessen, wie man Zeit erleben kann. Gilt dieses auch für die Erinnerung, wie ist die Zeit in der Erinnerung aufgehoben?

Erpenbeck: In dieser Textpassage kommt ein für mich wichtiger Satz vor, über den ich immer noch viel nachdenke. "Damals war das letzte Mal ja noch kein letztes Mal." Meine Mutter ist kurz nach dem Erscheinen der Heimsuchung gestorben, dadurch fing ich an, vieles, was ich mit ihr gemeinsam erlebt hatte, unter einem anderen Vorzeichen zu sehen. Das Erlebte verknüpfte sich plötzlich noch einmal ganz neu mit meiner Erinnerung. Ohne den plötzlichen Tod meiner Mutter hätte ich all diese kleinen Begebenheiten der letzten Tage, die ich mit ihr verbrachte, längst vergessen. So aber bekam alles ein ungeheures Gewicht.

Am Erker: Der Aufbau Ihres Romans erscheint sehr kunstvoll und filigran, auch statisch gut berechnet, fast wie das Werk eines Architekten. Wie gelingt Ihnen eine derartige Komposition? Haben Sie eine Blaupause im Kopf, eine Zeichnung, oder entsteht es erst im Zuge Ihrer Recherchen nach und nach?

Erpenbeck: Am Anfang stand die Entscheidung, den Figuren voneinander getrennte Geschichten zu geben. Aber dann habe ich zunächst nur versucht, in jedem Kapitel den gedanklichen Kern einzukreisen, um den es mir ging. Die Bezüge ergaben sich dann während des Wachsens des Buches, oft aber, ohne dass ich es hätte planen wollen oder können. Wie schon gesagt, habe ich die Kapitel in einer anderen Reihenfolge geschrieben, als sie jetzt im Buch angeordnet sind - das heißt, es war für mich selbst eine große Überraschung, wie sich die Gewichte am Ende zueinander verhalten würden.

Am Erker: Das Haus in Heimsuchung wird schließlich abgerissen, es verschwindet irgendwann. Das Verschwinden scheint eines Ihrer Themen zu sein, wie der Titel Ihres jüngsten Bandes Dinge, die verschwinden bezeugt. Welche Dinge, befürchten Sie, werden als Nächstes verschwinden?

Erpenbeck: Zum Beispiel verschwinden die Leerstellen in Berlin permanent. Jede Woche bemerke ich, dass wieder eine andere Ecke zugebaut wird. Wenn ich an mein eigenes Verschwinden denke, so glaube ich nicht, dass es eine Rolle spielen wird, ob ich mich biologisch wertvoll ernährt habe. Wir werden an anderen Sachen sterben als an einem Eisbergsalat aus dem Supermarkt. Ich gehe merkwürdigerweise nicht davon aus, dass ich die Rente erreiche. Vielleicht wird noch viel mehr verschwinden, als wir denken.

Am Erker: Was hoffen Sie denn, was als Nächstes verschwindet?

Erpenbeck: Ach Gott, das ist eine schwierige Frage. Verschwinden wird es leider nicht, aber ich wünschte mir ein bisschen weniger buchhalterisches Denken, dieses Denken, das sich von den existenziellen Fragen des Lebens so weit entfernt hat. Außerdem wünsche ich mir, dass Berlusconi verschwindet (lacht). Verschwinden sollte auch FRONTEX. Es ist doch klar, dass die afrikanischen Flüchtlinge nur deshalb ihr Leben riskieren, weil sie sich in großer existenzieller Not befinden. Ich würde mir also auch wünschen, dass sich das Denken in Bezug auf Grenzen ändert.

Am Erker: Vielen Dank für das Gespräch.