Am Erker 87

John Giorno: Große Dämonenkönige

Thomas Empl: Inneres Zittern

 
Fritz Müller-Zech 87
Die Kolumne
 

Es ist mir ein wenig peinlich, hier zu gestehen, dass ich mich gelegentlich, der Bastelarbeit an einem neuen Modellflugzeug überdrüssig, in den sogenannten sozialen Medien umtue. Und das schon seit geraumer Zeit. Wer möchte, kann mich dort besuchen oder sich sogar mit mir anfreunden. Mir ist bewusst, dass ich mit diesem Bekenntnis hoffnungslos aus der Zeit gefallen scheine, denn ich hole nur nach, was digital affinere Menschen meines Alters längst hinter sich gebracht haben. Aber mir geht es um anderes. Von der Lyrik will ich erzählen. Als neulich ein Dichter einen bedeutenden Literaturpreis zugesprochen bekam, blieb dies in den besagten sozialen Medien nicht ohne Reaktionen. Kulturgestählte Mitmenschen bekannten, sich mehrmals an der Lektüre von Gedichten des Preisträgers versucht zu haben, aber immer wieder kläglich gescheitert zu sein. Nicht eine Zeile habe man verstanden. Worauf andere, literarisch ebenso Kundige entgegneten, um ein "Verstehen" herkömmlicher Art gehe es in dieser Lyrik auch gar nicht.
Ich selbst halte mich für gewöhnlich aus solchen Diskussionen heraus. Ich hätte höchstens erwähnen können, dass ich einst einen Auftritt dieses ausgezeichneten Poeten gesehen habe, der mir als eine Art Wortbeschwörungsritual in Erinnerung geblieben ist. Aber was weiß ich schon? Auf jeden Fall nicht genug, um an Debatten dieser Art, deren Ton gelegentlich eine unangenehme Schärfe annimmt, teilnehmen zu können. Viel lieber treibe ich mich bei meinen Ausflügen ins weltweite Netz auf jenen Seiten des besagten sozialen Mediums herum, die sich der Musik meiner Jugend widmen. Neulich zum Beispiel wurde, wahrscheinlich aus sinistren Marketingmotiven, gefragt, wie die unverständlichste Songzeile laute, der man jemals begegnet sei. Da ist die Auswahl groß. Vor allem im Werk des Literaturnobelpreisträgers Bob Dylan, den ich seit meiner Teenagerzeit verehre. Meine Wahl fiel auf den letzten Vers seines 1965 veröffentlichten Liedes "Bob Dylan's 115th Dream". In einer Telefonzelle klingelt es, und Folgendes geschieht: "When I picked it up and said hello / This foot came through the line.” Ein Telefonhörer gebiert einen Fuß? So weit, so rätselhaft. Aber auch interpretationsbedürftig bzw. -würdig? Selbst eine gewöhnlich allwissende Enzyklopädie zum lyrischen Schaffen Dylans bescheidet lakonisch, hier habe der Dichter wohl seiner Freude am Unsinn ("his delight in nonsense") freien Lauf gelassen. Eine Freude, die ich sehr gut nachempfinden kann, ohne selbst Lyriker werden zu wollen.
Ganz anders als der amerikanische Poet und Künstler John Giorno (1936-2019), der mit fünfzehn die Hausaufgabe bekam, ein Gedicht zu verfassen, und dabei ein solches Glücksgefühl empfand, dass er beschloss, mehr Gedichte zu schreiben, "dem hellen Gefühl im eigenen Herzen und Sinn nachzugehen, fest daran zu glauben und unerbittlich weiterzumachen". "In diesem Augenblick", so erinnert er sich in seiner Autobiografie Große Dämonenkönige, "wurde ich zum Dichter". Später rührt ihn der walisische Starpoet Dylan Thomas, der damals gewöhnlich volltrunken seine letzten umjubelten Auftritte in New York absolviert, zu Tränen, während ihn die Lektüre des literarischen und philosophischen Kanons, die er laut eigener Auskunft mit siebzehn abgeschlossen hatte, kalt lässt. Erst Allen Ginsbergs legendäres, 1955 erstmals vorgetragenes Großpoem Howl ("I saw the best minds of my generation destroyed by madness ...") verschafft dem jungen Mann das lang vermisste lyrische Erweckungserlebnis. Denn um das Erleben geht es. Und darum, die richtigen Leute zu treffen. In Giornos Fall ist das die Beat Generation. Wunscherfüllung garantiert: "Ich war jung und schön und bekam, was ich wollte, und alles, was ich wollte, war Sex." Und den gibt es reichlich. Mit Ginsberg, Andy Warhol, William Burroughs und anderen Heroen der damaligen Gegenkultur. Kunst, Literatur und Erotik gehen nahtlos ineinander über, sodass sich hermeneutische Fragen erübrigen. Zumindest in diesen klatschversessenen Memoiren, deren deutsche Übersetzung jetzt in wunderschöner Aufmachung zur voyeuristischen Lektüre einlädt. Denn John Giorno verfügte über ein frappierend detailfreudiges Gedächtnis. Ich hingegen habe schon fast vergessen, warum ich all das erzähle.
Ach ja, es ging um die Verständlichkeit von Lyrik. Und von Literatur im Allgemeinen. Jenem "System aus Buchstabenketten, Leer- und Satzzeichen", von dessen Reiz die Schriftstellerin und Am Erker-Autorin Kerstin Kempker eine erfundene Figur berichten lässt. Diese ist ebenfalls Schriftstellerin bzw. "Schreibkraft", wie sie selbst sagt. Das System komme ihr entgegen, weil sie "ordentlich" und "logisch organisiert" sei. Was sich ganz anders anhört als John Giornos enthusiasmierte Bekenntnisse. Vielleicht fehlt ihr die Gesellschaft Gleichgesinnter, ein programmatisches 'Wir'. Denn was sie zu erzählen hat, klingt recht freudlos: "Schriftstellerin sein, nichts wirklich Nützliches tun, schämte sie sich? Die ganzen Verschickungen über die Jahre an lausige Schriftstellerorte, wo sie im Schweiß der anderen schlief, aus zurückgelassenen Bechern trank, sich auf fremden Yogamatten verrenkte und am selben Fleck saß und dachte, wie viele andere Schriftsteller und -Innen davor und danach. Ob das noch Luxus oder Verwahrlosung war?" Ein Gedanke, der John Giorno wohl nie in den Sinn gekommen wäre, allein schon, weil ihm die Erfahrung eines Aufenthaltsstipendiums für "Schreibschaffende", eine mir bis vor kurzem unbekannte Berufsbezeichnung, vorenthalten geblieben ist. Kerstin Kempker jedenfalls hat Frau im Konjunktiv, ein ebenso poetisches wie hochreflektiertes Stück Metaliteratur, mit Unterstützung des Deutschen Literaturfonds fertigstellen können. Und das finde ich fabelhaft.

 

John Giorno: Große Dämonenkönige. Ein Leben voller Poesie, Sex, Kunst, Tod und Erleuchtung. Aus dem Amerikanischen von Urs Engeler. 346 Seiten. Secession. Berlin 2023. € 30,00.

Kerstin Kempker: Frau im Konjunktiv. Eine Auswilderung. 200 Seiten. Matthes & Seitz. Berlin 2024. € 20,00.