Am Erker 72

J. J. Voskuil: Das Büro 5. Und auch Wehmütigkeit

Joshua Groß / Hannah Gebauer: 'Faunenschnitt' (2016)

Martin Lechner: 'Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen'

 
Fritz Müller-Zech 72
Die Kolumne
 

Noch nie hat sich jemand dafür interessiert, ob der Autor dieser Kolumne tatsächlich Fritz Müller-Zech heißt und Mitglied eines Modellfliegervereins in Oer-Erkenschwick ist. Kein Enthüllungsjournalist hat sich in die kleine Stadt im nördlichen Ruhrgebiet gewagt, um vor Ort Ermittlungen anzustellen. Auch die Honorarzahlungen der Zeitschrift Am Erker, falls es solche je gegeben haben sollte, sind ausschließlich dem Finanzamt Münster-Innenstadt bekannt. Angesichts dieses skandalösen Zustands möchte man seine Mitgliedschaft im Literaturbetrieb auf der Stelle kündigen. Doch es steht zu befürchten, dass eine solche Maßnahme unbeachtet bliebe. Und das tut sehr, sehr weh. War es nicht Müller-Zech, der schon vor Jahrzehnten die Scheu vor dem Personalpronomen "ich" über Bord warf und mit Begeisterung hemmungslos subjektive Werturteile fällte? Sätze wie "Der beste Track von 'Mykki' ist für mich 'High School Never Ends'" oder "Jetzt heule ich schon wieder abseits vom Buch", mit denen ein wahrscheinlich junger Mann namens Wallenhorst in einer Sonntagszeitung seinen Gemütszustand bei der Lektüre eines sogenannten Romans von Thomas Meinecke beschreibt, formulierte der Modellflieger schon Mitte der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, verwendete dafür aber ein erwachseneres Vokabular. Auch die Vermutung, bei dem Meinecke-Produkt handle es sich nicht um "Leseliteratur", erinnerte den Modellflieger an seine Anfangsjahre als Kritiker. Wie oft hatte er Büchern eben dieses Zeugnis ausgestellt, ohne zu bedenken, dass die Schriftstellerseele eine zarte ist. Aber halt! Anders als Müller-Zech scheint Wallenhorst Literatur, die sich nicht zum Lesen eignet, zu schätzen, er hat sogar einen schönen Namen für sie erfunden. Als "objekthafter Knotenpunkt, den es in seiner Widersprüchlichkeit einfach gibt," gewinnt Meineckes "feministische, schwierige, popaffine Prosa" geradezu historischen Rang. Aber genug der Zitate. Und auch genug des Redens in der dritten Person. Ich bin kein anderer. Aber ich bin mir auch bewusst, dass das Gefühl zu wissen, worin der Sinn des Lebens besteht, ein flüchtiges ist.
Maarten Koning, mit dessen Alltagserlebnissen der niederländische Schriftsteller J. J. Voskuil die sieben Bände seines Großromans Das Büro füllte, erinnert sich an dieses Gefühl, während er wach im Bett liegt. Es wird etliche Wochen dauern, bis er wieder an seinem Arbeitsplatz in einem Amsterdamer Institut für Volkskunde auftaucht. Was in dieser Zeit, da er wegen einer Halsentzündung krankgeschrieben war, geschieht, verschweigt uns der Erzähler. Voskuil selbst dürfte es gewusst haben, denn was er über Maarten Koning und dessen täglich im Büro verlorene und nicht wieder auffindbare Zeit erzählte, basierte teilweise bis ins Detail auf seinen eigenen Erfahrungen als wissenschaftlicher Beamter. Als der Romanzyklus in den Niederlanden zu einem unerwarteten Bestseller geworden war, gab es sogar Talkrunden im Fernsehen, in denen die realen Vorbilder einiger Romanfiguren erörterten, inwieweit Voskuils Darstellung den Tatsachen entspreche.
Während ich also, kleine Löcher in ein Holzstück bohrend, an meiner Werkbank sitze und über Maarten Konings Erkrankung grüble, beginnt es in meinem Hals zu kratzen, und ich stelle mir vor, wie es wäre, einfach für neun Wochen aus meinem Alltag zu verschwinden und als fiktive Figur beispielsweise im Kurcafé Lewandofsky-Temmel im österreichischen Bad Aussee wieder aufzutauchen. Dort würde ich mit einem Verleger namens Bruno und dessen Frau Karmen, einer wohlhabenden Veganerin, Espresso trinken und einem jungen Mann dabei zusehen, wie er alles, was passiert, in einer gelben Kladde vermerkt. Aus dieser würde irgendwann später ein sehr schönes orangefarbenes Buch werden, dessen Titel sich auf das Phänomen des Massenaussterbens bezieht, das in unregelmäßigen Abständen die Fauna unseres Planeten heimsucht. So gelang es dem Menschen in den letzten 8000 Jahren, ganze Arten verschwinden zu lassen. Nicht darunter ist glücklicherweise der Eisvogel, dem auf Seite 95 des Buches, in dem ich übrigens nicht vorkomme, ein Satz gewidmet wird. Inzwischen erscheint es mir auch beinahe frevelhaft, Joshua Groß' bezauberndes Prosawerk Faunenschnitt - auf eine Gattungsbezeichnung hat der Autor verzichtet - so hemmungslos zur Bewältigung meiner Existenzkrise heranzuziehen, obwohl es dazu einlädt. Ein Satz wie "Ich stand einfach da", der auf Seite 75 einen neuen Abschnitt einleitet, beschreibt mein Dasein präziser als jede Diagnose meines Hausarztes, den ich morgen aufsuchen werde, falls das Kratzen im Hals andauert. Aber wem werde ich meine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung schicken?
Doch bevor mich diese leider rhetorische Frage erneut in Verzweiflung stürzt, greife ich zu einem Geschichtenband des erfinderischen Tausendsassas Martin Lechner, dessen Roman Kleine Kassa mir vor nicht allzu langer Zeit großes Vergnügen bereitet hat. Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen, so der jeanpauleske Titel der Sammlung, enthält naturkundliche Betrachtungen, Nacherzählungen von Kunst- und Schundfilmen und Berichte über angebliche Alltagsbegebenheiten. Das, was wir als Realität zu bezeichnen uns angewöhnt haben, schert ihn nicht die Bohne. Stattdessen setzt Lechner auf die Macht der Sprache über die Dinge. Hypotaktische Konstruktionen, die sich gelegentlich über mehrere Seiten erstrecken, gehen ihm ebenso leicht von der Hand wie die muntere Ellipse und der Faktizität vortäuschende Hauptsatzstil. Man tut gut daran, diese Prosa in bekömmlicher Dosierung zu sich zu nehmen. Schon die Lektüre weniger Zeilen lässt mich mit frischer Energie ans Werk gehen. Heute allerdings, ja heute, muss es ein wenig mehr sein. Eine ganze Geschichte vielleicht. Und dann noch eine Prise Kafka.

 

J. J. Voskuil: Das Büro 5. Und auch Wehmütigkeit. Aus dem Niederländischen von Gerd Busse. 992 Seiten. Verbrecher. Berlin 2016. € 32,00.

Joshua Groß / Hannah Gebauer: Faunenschnitt. 122 Seiten. Starfruit. Nürnberg 2016. € 24,00.

Martin Lechner: Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen. Erzählungen. 168 Seiten. Residenz. Salzburg - Wien 2016. € 19,90.