Fritz Müller-Zech 38
Die Kolumne
 

Zwei Anzeigen im Feuilleton der Zeit: Ganz unten links auf der Seite eine vierzeilige Annonce, mit der "Deutschlands 1. Eishockey-Schiedsrichterin" einen Verlag für ihre "lyrischen Gedichte" sucht, und auf der rechten Seite das Bild eines bebrillten Mannes im dunklen Pullover, der - mahnend oder beschwichtigend - die Hand hebt. Es ist der Schriftsteller Johannes Mario Simmel, dessen neuer Roman Liebe ist die letzte Brücke hier vom Droemer Verlag angepriesen wird. So ist die Welt: Während Simmels nicht versiegender Mitteilungsdrang vom Spiegel mit den in der Anzeige zitierten Worten "Hurra, er schreibt noch!" kommentiert wird, werden sich bei der lyrischen Eishockey-Dame wohl nur jene Verlage melden, deren Anzeigen man an anderer Stelle der gleichen Zeitung in der Rubrik "Für Ihre Manuskripte" findet.
Mir ist es eigentlich vollkommen egal, ob Simmel Romane oder Eishockeygedichte schreibt. Daß er überhaupt an dieser Stelle auftaucht, liegt an einem Interview, das der weltgewandte Autor vor einiger Zeit dem Kulturblatt Bunte gegeben hat. Da Liebe ist die letzte Brücke offenbar von der Welt der Computer handelt, hatten die fixen Bunte-Journalisten Simmel mit einem sogenannten Notebook konfrontiert und ihn gefragt, ob er so ein Maschinchen bedienen könne. Nein, meinte Simmel, von Computern habe er eigentlich keine Ahnung, er sei aber bei der Recherche zu seinem Roman von den besten Experten beraten worden. Und dann erklärte er das vielbeachtete "Jahr-2000-Problem". Das habe nämlich damit zu tun, daß man die Computer immer kleiner habe machen wollen und sich, um den daraus resultierenden Platzmangel zu kompensieren, auf die letzten beiden Ziffern der Jahreszahlen beschränkt habe. Aber vielleicht galt für das Interview ja auch schon Simmels dem Roman, wenn man Rezensionen glauben darf, vorangestellter Hinweis, er habe bewußt an manchen Stellen die technischen Tatsachen verändert, um Computer-Terroristen keine Informationen zu liefern.

Apropos Rezensionen: Tatsächlich werden die Romane Simmels seit einigen Jahren, genauer gesagt, seit einige Kritiker ihn zum Balzac unserer Tage küren wollten, tatsächlich im Feuilleton seriöser Zeitungen besprochen. Und das finde ich als alter Freund gewisser Schundliteratur schon wieder gut. Doch warum man schwülstige Geschichten erfinden muß, um auf Probleme dieser Welt aufmerksam zu machen, will mir nicht so recht einleuchten. Vielleicht gerät ein Schriftsteller nur auf diese Weise in den Ruf eines Mahners und Aufklärers, indem er nämlich der schlechten Wirklichkeit noch die schlechte Literatur zur Seite stellt.
Gar keine Geschichten mehr erfinden zu wollen, scheinen mir dagegen manche Jungautoren, allen voran der hübsche Benjamin von Stuckrad-Barre, dessen vorgebliche Erzählung livealbum aus den aneinandergereihten, vielleicht ein wenig ausgeschmückten Erlebnisberichten von seiner ersten Lesereise besteht. St.-B. ist ein versierter Schreiber, so daß die Lektüre seines Büchleins streckenweise durchaus unterhaltsam ist, wobei mir ein liebevolles Porträt des Professorendarstellers Dietrich Schwanitz am besten gefallen hat. Doch wie bei den Rock-Livealben der siebziger Jahre gibt es auch in diesem literarischen Äquivalent, vor allem gegen Ende, manch öde Passage. Aber die kann man ja überblättern, schließlich hat das eine ganze Plattenseite füllende Stück "Space Trucking" auf Deep Purples Made in Japan auch nie jemand komplett angehört.
Womit ich einmal mehr bei der Popmusik angelangt bin, für jemanden meines Jahrgangs ein abendfüllendes Thema. So erinnere ich mich gern an jenen Tag im Jahre 1974, als ich zum ersten Mal ein Exemplar der Musikzeitschrift Sounds erwarb. Das Blatt konnte weder mit Riesenpostern noch mit Autogrammadressen aufwarten, benutzte aber in der Überschrift eines Artikels über eine Rockgruppe gleich zwei Fremdworte. Da stand tatsächlich: "Grateful Dead - Kontinuität als Konsequenz". Ich habe längst vergessen, welchen Inhalts der folgende Aufsatz war, erinnere mich aber noch immer an das Erstaunen darüber, daß Popmusik tatsächlich Gegenstand eines intellekuellen Diskurs sein konnte. Mit diesem Wissen, das war klar, war man denjenigen, die zu Sweet, Mud und T. Rex die Köpfe schüttelten, haushoch überlegen. Erst später bemerkte ich, daß die intellektuelle Pop-Plauderei bereits in den Sechzigern begonnen hatte und, dies gilt für die Zeitschrift Sounds im besonderen, ihren Ursprung im schon immer eher ernsthaften Umgang der Jazz-Fans mit ihrer Musik hatte. Denjenigen, die immer noch am kritischen Nachdenken über ihre Leidenschaft interessiert sind, empfehle ich die Halbjahresschrift testcard, die den programmatischen Untertitel "Beiträge zur Popgeschichte" trägt. In den letzten Ausgaben 6 und 7 geht es um das spannende Verhältnis von Pop und Literatur. Im Editorial zu testcard # 7 finden sich übrigens die ebenso wahren wie resigniert klingenden Worte, daß es ein Irrtum sei, "heute noch innerhalb des Mainstream-Pop auch nur einen Funken kritisches Bewußtsein zu erwarten". Das war, wenn mir die Bemerkung gestattet ist, auch schon vor 25 Jahren so. Noch heute bin ich froh, daß meine Englischkenntnisse damals zu schlecht waren, um den Text von "Highway Star" ("Ooo, it's a killing machine ...", ebenfalls Deep Purple) zu verstehen.
Ein vornehmlich affirmatives Verhältnis zur Popgeschichte pflegt eine Zeitschrift mit dem ebenfalls programmatischen Titel Good Times. In diesem Zweimonatsmagazin schreiben Enthusiastinnen und Experten für Expertinnen und Enthusiasten, nicht immer stilistisch elegant, aber mit großem Engagement. Die oben skizzierten Grabenkämpfe zwischen der "progressiven" und der "kommerziellen" Fraktion scheinen endgültig vorüber, Hauptsache alt ist die Devise. Ob Glamrock oder Jethro Tull, Ten Years After oder The Lords, hier werden Fans bedient, die sich auch gerne mal auf Oldie-Festivals vergewissern, wie Suzie Quatro wohl heute aussehen mag.
Ich habe übrigens neulich größere Bestände meiner Schallplattensammlung verkauft, unter anderem das Stones-Doppelalbum Exile on Main Street, dem ich kurze Zeit später in Thomas Brussigs köstlichem Roman über eine Jugend im Schatten der Berliner Mauer, Am kürzeren Ende der Sonnenallee, wiederbegegnen sollte. 50 Mark-West oder 300 Mark-Ost soll nämlich der fanatische Stones-Fan Wuschel für die Schallplatten "in astreiner Qualität von einer englischen Pressung" hinblättern, womit das Ziel seiner Träume in unerreichbare Ferne gerückt wird. Wie Wuschel doch noch in den Besitz des Albums gelangt und wie es ihm sogar das Leben rettet, das und auch die anderen Geschichten des Romans erzählt Brussig ebenso humorvoll wie lakonisch. Daß die DDR dabei als ein in seinen bürokratischen Exzessen eher lachhafter denn böser diktatorischer Staat erscheint, ist dem Autor durchaus bewußt, wenn er seinen Ich-Erzähler Micha zum Ende resümieren läßt: "Wer wirklich bewahren will, was geschehen ist, der darf sich nicht den Erinnerungen hingeben."

 

Benjamin von Stuckrad-Barre: Livealbum. Erzählung. 254 Seiten. Kiepenheuer & Witsch. Köln 1999. 16,90 DM.

Testcard. Beiträge zur Popgeschichte. Halbjahreszeitschrift. Ca. 300 Seiten. 28,00 DM (Ventil, Augustinerstr. 18, 55116 Mainz)

Good Times. Die Musik der Sixties und Seventies. 9,80 DM (Postfach 111321, 64228 Darmstadt)

Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Roman. 157 Seiten. Volk & Welt. Berlin 1999. 28,00 DM.