"2022 nahm ich nach ziemlich genau dreißig Jahren Abschied von England und damit von einer akademischen Karriere als Auslandsgermanist" – so beginnt Uwe Schütte seinen Essay "Englische Psychogeografie. Literarische Annäherungen an Postindustrialisierung und Postapokalypse im Neoliberalismus", der in SpritZ 248 erschien. "Für Fremdsprachen", fährt Schütte fort, "besteht in Brexit Britain kaum ein Bedarf mehr. Also setzte man uns Europäer – denn das waren wir Kolleginnen und Kollegen nahezu alle in Modern Languages – vor die Tür."
Sein Text ist ein Abschiedsritual wie der Fußmarsch, den er erstmals von seinem Haus in Erdington antritt, statt mit dem Bus zur Uni zu fahren. Dabei durchwandert er die Heartlands of Birmingham, "ein abstoßendes Niemandsland, den postindustriellen Albtraum des britischen Realkapitalismus". Zu diesem Ritual gehören auch die Erinnerungen an "psychogeografische Forschungsgänge", die Schütte mit Büchern von Iain Sinclair durch Londons Osten und entlang der Themse unternahm. "Das Neue verdrängt das Alte nicht, sondern überlagert und verdeckt es nur. Das macht für Sinclair den Begriff der Psychogeografie aus: Vergangenheit liegt nicht hinter, sondern steht manchmal störrisch neben der Gegenwart. Geschichte hinterlässt Spuren für diejenigen, die sie zu lesen verstehen. Archäologie der Jetztzeit. Urbane Verfallszonen als Orte für Epiphanien."
Im Anschluss an die Situationisten um Guy Debord, im Hinblick auch auf Peter Ackroyd und Will Self, im Rückgriff auf Defoe, Blake und De Quincey wird der Moloch London beschworen, kommt Okkultismus qua "Tiefenbohrungen" ins Spiel, als Ergründung eines riesigen Territoriums, "selbst wenn man nur ein einziges Viertel der gigantischen Stadt durchschweift". Schütte schreibt von Begegnungen mit Gilbert & George, Ackroyd, Sinclair und rechnet die Bücher seines akademischen Lehrers W. G. Sebald, vor allem Austerlitz und Die Ringe des Saturn, der englischen Tradition der Psychogeografie zu. Als Begründer einer deutschen Psychogeografie gelten ihm nur mit Abstrichen Heiner Müller und Wolfgang Hilbig.
Dagegen begeistert er sich für Florian Neuner, einen Namensvetter des in diesem Erker publizierenden Autors, und empfiehlt dessen Bücher Ruhrtext. Eine Revierlektüre von 2010 sowie ROST. Eine psychogeografische Expedition von 2021, eine "mit essayistischen wie dokumentarischen Schreibweisen operierende Annäherung an die korrodierenden Industriegebiete von Detroit und Cleveland". Interessant auch Schüttes Hinweis, dass dem in Deutschland auch durch viele Übersetzungen enthusiastisch rezipierten nature writing nur eine stiefmütterliche Aufnahme der eher apokalyptisch geprägten Psychogeografie gegenübersteht.
Bei kurzen Briefwechseln von Berühmtheiten sind die Kommentierungen bisweilen interessanter als die Briefe, die nicht selten nur punktuellen Konflikten, der Organisation von Begegnungen oder gemeinsamer Gremienarbeit geschuldet sind. Ein schönes Beispiel für eine erhellende, von subtiler philologischer Komik durchdrungene Kommentierung eines solchen Kurzverkehrs liefert Sven Hanuschek, der in Sinn und Form 6/2023 den Briefwechsel Adorno/Canetti von 1961/62 mitteilt, in dem es vor allem um die Vor- und Nachbereitung einer Diskussionsveranstaltung zu Canettis Masse und Macht an der Uni Frankfurt und zwei Tage später im Hörfunk des NDR geht. Während nämlich die beiden ungemein von sich eingenommenen Meisterdenker nahezu grotesk höflich miteinander korrespondieren, liefert der Blick auf andere Quellen aus dem zeitgenössischen Umfeld und besonders aus späteren Jahren übergenug Hinweise, dass die zwei einander kaum etwas zu sagen hatten und herzlich wenig miteinander anzufangen wussten, was von Seiten Adornos noch mehr gilt als von Seiten Canettis, der indessen köstliche Sottisen über Adorno hinterlassen hat, die Hanuschek nicht unverschmitzt serviert.
Wer den Schelmenroman über die Frankfurter Jahre 1994-96 schon gelesen hat und auf Nachschub in der bereits zehn Bände umfassenden Martin Schlosser-Reihe giert, dem sei die Gerhard Henschel gewidmete Text+Kritik 240 empfohlen. Henschel, mit Gastherausgeberin Laura Schütz befreundet, hat eine fulminante Passage aus dem 2026 zu erwartenden elften Band zum Vorabdruck gegeben: Martin Schlosser mit einer munteren Titanic-Schar auf Einladung des Goethe-Instituts in Manhattan – äußerst unterhaltsam und in der geballten Harmlosigkeit der von dem Satirikerhaufen gerissenen Witze nahezu entlarvend: Wie arglos und heiter das Leben in der linken Boheme der späten 90er Jahre anmutet, als man sich noch an Helmut Kohl abarbeitete, Bill Clinton als US-Präsident amtierte, die aufziehende Klimakrise kaum als wirklich gefährlich wahrgenommen wurde, die Twin Towers noch standen, die Leserbriefseiten der Tageszeitungen als Soziale Medien gelten durften, Handys und das Internet in den Kinderschuhen steckten, Rechtsradikale meist noch in obskuren Zirkeln gluckten und sich allen Zumutungen mit scharfzüngiger Satire begegnen ließ – gute Güte! Henschels an Walter Kempowski geschultes semidokumentarisches Schreiben ruft eine Zeit auf, erschreckend fern und viel gründlicher vergangen als die 60er, 70er Jahre in Henschels gleichfalls autobiografisch geprägten Büchern Kindheitsroman und Jugendroman.
Neben der von der Herausgeberin erstellten Bibliografie enthält der Band literaturwissenschaftliche Texte von schwankendem Erkenntniswert. Sehr instruktiv ihr Beitrag über Henschels Monografie Neidgeschrei. Der Autor rücke dem Antisemitismus mit dem "Verfahren der kommentierten Zitatmontage" akribisch und umfassend zu Leibe und habe dafür binnen acht Jahren 12.000 Entleihungen in der Hamburger Staatsbibliothek getätigt. Das mit einem Anhang von über hundert Seiten versehene Buch widme sich, so Schütz, der "Pathologie einer Jahrhunderte währenden Verbindung von Antisemitismus und Sexualneid" und der "vermeintlichen Pathologie des jüdischen Körpers", wobei sich der Fokus durch das Neidmotiv verschiebe: "Als pathologisch erweist sich die psychische Verfasstheit der Antisemiten." Schütz beklagt in ihrem Beitrag, dass das aufwendig recherchierte Buch, dessen "Quellendichte eine Fundgrube für weitergehende Studien darstellt", bei Leserschaft und Kritik weitgehend unberücksichtigt geblieben sei. Gerhard Henschel wird offenbar weithin nur als Satiriker, Titanic-Autor und Verfasser der Schlosser-Romane, einer faszinierenden Mentalitätsgeschichte der (alten) Bundesrepublik aus männlicher Perspektive, wahrgenommen.
Daran dürfte der Text+Kritik-Band nicht viel ändern, obwohl auch Sven Hanuschek sich in seinem Beitrag über Menetekel als "Anti-Katastrophenbuch" für die Wahrnehmung Henschels als eines Autors einsetzt, der sich in seiner "enzyklopädischen Sammelwut" "immer wieder mit weiter ausgreifenden historischen Stoffen beschäftigt" hat, in diesem Fall mit "Untergangspredigern", mit "Propheten der Apokalypse". Beiden Beiträgen, die sich mit eindrucksvoller Argumentationsdichte und Eloquenz eher unterbelichteten Aspekten von Henschels Werk widmen, steht nämlich manch ein Text gegenüber, der den sattsam bekannten Satiriker Henschel behandelt, (Mit)Verfasser von Der Barbier von Bebra oder SoKo Heidefieber. Oder die Affären, Skandale und Prozesse referiert, die mit seinem Namen verbunden sind. Dass der Wilhelm Raabe-Fan Wenzel Storch zu dem Band eine irrlichternde, mit Fußnoten prunkende Schnurre beiträgt, die wenig mit Henschel zu tun hat, ist als verspieltes Kabinettstück immerhin ein Glücksfall. Die Überlegungen zu Ähnlichkeiten und Unterschieden der Schlosser-Romane und der Büro-Romane von J. J. Voskuil aber, mitgeteilt von deren Übersetzer Gerd Busse, sind zwar reizvoll, brechen jedoch primär eine Lanze für den im Verbrecher Verlag erschienenen siebenbändigen niederländischen Romanzyklus. |