Zum 90. Geburtstag von Jürgen Becker im Juli 2022 hat Nadja Küchenmeister in Spritz 244 einen poetologischen Streifzug arrangiert und kurze Texte von Becker, Ursula Krechel, Marcel Beyer und Matthias Kniep zu einer Collage montiert, einem entspannt-tiefgründigen Gespräch darüber, wie sich im Beiläufigen, vermeintlich Unwesentlichen Essenzielles einfangen lässt. Zunächst fürs Radio angefertigt, bietet diese Neufassung Kluges zu Schreibprozess und Schreibentwicklung, darüber, wie Autor:innen und zumal Jürgen Becker ihre Stimme finden, halten, gestalten. Sehr gelungen! Und partiell nachzuhören bei Deutschlandfunk Kultur unter dem Titel "Die Wirklichkeit macht immer mit - Jürgen Becker", einem Feature, in dem der Jubilar ausführlich zu Wort kommt.
Die Geste verbindet Lyrik und Kalligrafie. Der Schriftkünstler Silvio Colditz aus Dresden hat Dichter:innen um Texte gebeten und sie auf vielfältige, oft berückende Weise in Wortillustrationen oder Textinszenierungen verwandelt, die den Gedichten einen anderen optischen Hallraum geben als weißes Papier. Sicher, manches ist schwer lesbar, da wird der Text zum Ornament seiner selbst, und über der Fron buchstäblicher Entzifferung geht mitunter der Sinnzusammenhang verloren, aber im Anhang finden sich alle Gedichte noch mal im Normalsatz. Und vieles erschließt sich auch im kalligrafischen Ornat annähernd mühelos. Thomas Glatz, dem ich den Hinweis auf die Zeitschrift verdanke, ist in der ersten Ausgabe "Die Feigheit vor dem Feind" ebenso vertreten wie die Erker-Autor:innen Ulf Großmann, Jonis Hartmann, Sascha Kokot, Angelica Seithe und der fabelhafte Johannes Witek. Sein "Rezept zur Aushebelung der Welt" sei hier verraten: "Bring dich in eine / Situation, in der du / nichts mehr zu verlieren / und alles zu gewinnen / hast // und dann scheiß aufs / Gewinnen // und mach es einfach / wegen des Machens".
[kon] ist ein Magazin für Literatur und Kultur, über dessen Titelschriftzug in Ausgabe 1 von 2015 noch "LMU AVL MUC" stand. Seither indes sind AVL und LMU entfallen, und es heißt "MUC - BLN". Es handelt sich demnach, so darf man wohl interpretieren, nicht mehr um ein Projekt von Studierenden der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität, sondern um eine Zeitschrift von Menschen, die in München und Berlin literarisch, literaturwissenschaftlich, essayistisch und gestalterisch aktiv sind, wobei die Nähe zur Komparatistik erhalten blieb. Die klugen Ausgaben zu so lohnenden Themen wie Haut, Jagd und Lärm (so die Titel der Ausgaben 7-9) verbinden Poesie, akademische Belesenheit und essayistische Leichtfüßigkeit. Im Heft zur "Jagd" etwa widmet sich Chefredakteurin Pia Lobodzinski in "Von Fell-Bikinis, Revolution und Weltrettung" den "Jägerinnen in der Popkultur"; Florentine Emmelot spürt unter dem Titel "Regression und Utopie" der "Jagd auf Frauen und Tiere bei Robert Musil" nach; Laura Beck beschäftigt sich mit der "filmischen und fotografischen Inszenierung der Großwildjagd in Ulrich Seidls Safari"; und Erker-Autor Michael Spyra ist mit dem feinen Gedicht "Die Verfolgungsjagd vom Torfhaus zur Jungfernklippe im Oberharz" vertreten, einer Harzreise im Winter im Suchtpotential bergenden Spyra-Sound. Hier sei nur die dritte und letzte Strophe zitiert: "der Forst, der Frost, das Eis, der Schnee, die Spur / im harten Schlamm, Gebüsch, Gesträuch, Geäst, / die Klippe und darunter Feld und Flur / vom Abbruch aus, am Rande der Natur, / die Stiefel aufgeweicht, das Hemd durchnässt."
Einen rätselhaften Text hat Hannes Becker in Edit 87 untergebracht. Sein Ich-Erzähler erwacht, hebt im Flur ein Brot auf, wirft es aus dem Fenster und beginnt, sich wieder an den Vorabend zu erinnern. "Darf ich Sie da mal anfassen?", diese Frage zieht sich leitmotivisch durch den Text, der eine:n durchaus anfasst und in seiner flirrenden Unbestimmtheit einen Grusel der Irritation entfaltet. Warum diese Schwierigkeit, zu anderen Menschen zu kommen, mit ihnen zu interagieren? Was treibt die Schwester mit ihrem Freund in dem halb zerfallenen Haus ohne Tür hinter der großen Wiese? Nur mit Glück entgehen die beiden dem gewaltsamen Tod, der zwei Handwerker traf, die bei ebenfalls offener Tür erwartungsfroh vor der großen Wiese gelebt haben, zwischen ihnen nur ein Hügel, in der Nähe der Fluss. Was hat es mit dem Roggenhandel der Schwester auf sich, was mit der Roggenmuhme, die Kinder verschwinden lässt? Und was ist mit der Mitbewohnerin des Erzählers, mit Mareike, "einer gelernten, gefährlichen, ehemaligen Soldatin", die "mit einem Mann in ihrem Zimmer schläft, Sex hat, Geschlechtlichkeit, Triebleben, Sexus, Sexualleben, hier in der Wohnung"? Und was ist das für ein "zitterndes, jagendes Ding aus Dunkelheit", das die Schwester plötzlich in der Hand hat und das der Erzähler aus dem Fenster schleudert? "Wo ich es berührt habe, fehlt jetzt ein Teil von mir. Das Ganze ist nicht mehr gut, und wir werden ab jetzt den Rest suchen, der fehlt. Das ist uns also immerhin von uns geblieben." Sollte Hannes Becker es schaffen, diese Stimmung mit ihren manifest kafkaesken Qualitäten auf der Langstrecke durchzuhalten, dürfte ihm mit Nähe zur Liebe ein ungewöhnlich lesenswerter Roman gelingen. |