Am Erker 82

Krachkultur 22

Lichtwolf 73

Lichtwolf 74

Lichtwolf 75

spritz (Sprache im technischen Zeitalter) 239

Text+Kritik 231

 
Zeitschriftenschau 82
Andreas Heckmann
 

spritz wird 60. Heft 238 enthielt deshalb Texte zu den 60er, 70er, 80er Jahren, Ausgabe 239 bringt Beiträge zu den 90er, Nuller, 10er Jahren, darunter ein unveröffentlichtes Kapitel aus Lutz Seilers Roman Stern 111, einem Meilenstein: dass man so über die Wendezeit schreiben kann, über den Sommer der Anarchie 1990 in Berlin, über den Vorlauf 1989 und das bittere Ende, schleichend ab der Währungsunion, offiziell mit der Wiedervereinigung, endgültig mit den atmosphärischen und wirtschaftlichen Veränderungen spätestens 1991! Das Visionäre von Ton und Schilderung, das doch auch dokumentarisch anmutet und genau bis ins Detail, tief durchlitten und zu großer Kunst geworden: Stern 111 ist ein Kosmos eigener Art, mir viel näher als der spröde, verrätselte, mit Privatmythologie beschwerte Erfolgstitel Kruso von 2014. Das ausgeschiedene Kapitel "Marokko" (in Teilen und verändert in den Roman eingegangen) bietet einen Blick in die Werkstatt des Autors, auf eine weit gediehene Vorstufe des Buchs, darauf, welche Entscheidungen in Erzählton und Perspektive noch zu treffen waren, bis der Roman 'fertig' war. Für Seiler-Fans ein Muss.
"Arbeit" ist das Thema von Krachkultur 22, einer geglückten Ausgabe auch, weil sie Pandemie-Dauerbrenner wie Homeoffice, Kurzarbeit, erzwungene Untätigkeit meidet. Anna Jäger (*1987), Bewegungstherapeutin, Künstlerin, Performerin, erzählt mit autobiografischen Anklängen vom Leben einer jungen Frau zwischen Junk-Jobs in Bremen und schwierigen Zeiten in Athen, von Tablettensucht, Rassismus, patriarchaler Unterdrückung, all das nicht weinerlich, sondern frech und sensibel, in so klarer wie poetischer, emotionaler wie analytischer Sprache, die mich rätseln lässt: Wie tanzt eine Frau, die so gut schreibt? Was erleben (junge) Menschen in der Bewegungstherapie mit ihr?
Katja Kulin berichtet vom Leben als "Gastarbajterkind", vom Stolz, als kleines Mädchen mit dem Vater, einem "Berufskraftfahrer" (darauf legt Muttern (Bürokauffrau) Wert) auf eine Zweitagestour mitgenommen zu werden und vom Fahrerhaus auf den Verkehr zu schauen, den starken Vater im starken Lkw neben sich, von der Entzauberung, als der Tochter klar wird, dass der Vater Arbeiter, ja Gastarbeiter ist. Erst nach seinem Tod erfährt sie von unerfüllbaren Ambitionen im Jugoslawien der 60er Jahre, seinem Aufbruch nach Deutschland, den Enttäuschungen dort. Das Aufwachsen mit migrantischem Hintergrund - ein Thema, das erstaunliche Einsichten zu Heimat und Fremde sowie Einblicke in ganz andere Lebensläufe ermöglicht.
Sehr unterhaltsam und virtuos die Büro-Groteske "Das Loch" von Erker-Autor Daniel Krauser, in der besagtes Loch alles verschlingt, nur merkt's keiner, außer vielleicht Achleitner. Oder war's Prüm? Quast? Frau Wirsing? Worum geht's da eigentlich? Um Fluglinien? Turbinen? Tiernahrung? Einmachgummis? Probleme, die "auf Sachbearbeiterebene" vermutlich hätten gelöst werden können. Wäre das Loch nicht gewesen.
Von beiläufig-schöner Schwermut ist der Beitrag "Deleatur" der Norwegerin Toril Brekke, die von einer aussterbenden Tätigkeit erzählt, dem Korrekturlesen für Tageszeitungen (vor einigen Jahren berichtete mir in München eine Frau, wie wunderbar es sei, täglich vier Stunden die SZ auf Fehler durchzulesen und dafür passabel bezahlt zu werden - ganz wurde ich den Verdacht nie los, ich sei da veräppelt worden). In Zweierteams fronen sie heiter und gehen abends gern zusammen in die Kneipe, junge und alte Menschen mit unterschiedlichstem Hintergrund, diversesten Interessen, vereint in unauffälliger, subordinierter Tätigkeit, die heute weitgehend von Korrekturprogrammen erledigt wird. Irgendwann fragt Hanne, "wer von uns ihren Mann ermorden" will. Da es sich nicht um einen Krimi handelt, endet der Text nicht nur mit der unspektakulären Meldung vom Tod des tyrannischen Universitätsdozenten, sondern auch damit, dass einer aus Hannes Korrekturleseteam das Wort "geliebter" aus der Todesanzeige streicht. "An diesem Abend tranken wir in der Kneipe Champagner, nicht aus Plastikgläsern, sondern aus richtigen Sektkelchen."
Ein Coup gelingt Martin Brinkmann, der nicht nur Verleger und Redakteur der Krachkultur, sondern vor allem Literaturagent ist, mit der (Wieder)Entdeckung von Rudolf Proske (*1961), der in diesem Heft auf fast vierzig Seiten mit Gedichten und zwei Erzählungen zu Wort kommt. Für seine in den 80er und 90er Jahren in kleiner Auflage erschienene Lyrik und Prosa würde ich womöglich meine Jörg Fauser-Ausgabe eintauschen, besäße ich denn eine. Qualitäten, die Fauser gern nachgesagt werden, springen mich aus Proskes Texten an. "Und die Kippen purzeln runter wie abgebrannte Illusionen, / während der Pförtner wie ein Knastbruder mit Privilegien / grinst", heißt es in "Dreckige Fabrikhallen und mein Katzenjammer". Und "Psychotherapie" geht so: "Mit 15 stand ich in der Eisengießerei / Und hab mit den Türken Motorblöcke gegossen / Aber ich hab mich auch draußen / Auf den Feldern rumgetrieben / Mich ins Gras gelegt / In den Himmel geschaut / Ein Bier getrunken / Und den Lerchen zugehört / Und wehe / Einer hätte mich dabei gestört ..." So weit die Gedichte. Und die Erzählungen erst! Proske, Gelegenheitsjobber, später Fernfahrer "und Unternehmensgründer" (wie es etwas kryptisch heißt), lebt inzwischen mit seiner Frau "auf einer kleinen Ranch, wo er alte Filme schaut und Wikingersagen liest" - und sich von Brinkmann dazu bewegen ließ, alte Gedichte zu überarbeiten, neue zu verfassen und Erzählungen rauszusuchen, die dreißig Jahre unveröffentlicht rumlagen.
Der Lichtwolf, laut Untertitel eine "Zeitschrift trotz Philosophie", hat es schon auf über 75 Hefte gebracht und erscheint seit zwanzig Jahren, erst in Freiburg im Umfeld der Fachschaft Philosophie, seit 2009 im ostfriesischen Hage. Aufmerksam auf den Lichtwolf wurde ich durch Michael Helming, dessen Kubin-Essay diesen Erker ziert (Helming mischt bei der Zeitschrift mit). Die Ausgaben 73 ("Unterirdisch"), 74 ("Haut und Knochen") und 75 ("Fug") sind Parforceritte, um Fakultätsgrenzen erfrischend unbekümmert und furchtlos plündernd, wobei der Ausgriff ins Weite bisweilen primär mit Wikipedia-Einträgen untermauert oder auf dem Rücken lange schon gerittener Steckenpferde zu erfolgen scheint. Die Originalität der Beiträge hat mitunter (anders als der Kubin-Essay) etwas Klapperndes, und manchmal ist es, als säßen gute Freunde am Feuer und lieferten sich Überbietungswettkämpfe im Erzählen alter und neuer Schnurren. Tatsächlich zeigt ein Blick ins Verzeichnis Mitarbeit der drei Ausgaben eine extrem hohe Kontinuität - wie bei ergrauten Lesebühnen, auf denen die alten Kämpen brillieren und nur ab und an zwecks Frischluftzufuhr ein Gast auftreten darf. Die Beiträger der Zeitschrift, so scheint es, halten trutzphilosophische Symposien unter Freunden ab und sehen einander dabei allerlei nach, da sie sich gedruckt sehen. Konkurrenz aber belebt das Geschäft. Reißt also Türen und Fenster auf, liebe Trutzphilosophen, erweitert den Kreis der Beiträger:innen, verpflichtet euch zu regelmäßiger Kooptation, schwärmt aus, macht Proselyten! Das täte womöglich auch eurem Stil gut.
Wenn Altersgenossen kanonisiert werden, darf einem schon mal mulmig werden. In meinen 24 Jahren München habe ich F.S.K. oft bei Konzerten erlebt, Thomas Meinecke diskutieren und lesen gehört, The Church of John F. Kennedy (1996) und Tomboy (1998) verschlungen, Hellblau (2001) sehr gern gelesen, spätere Abmischungen nicht mehr so gern. Nun hat Text+Kritik Meinecke eine Ausgabe gewidmet, deren eng gedruckte Auswahlbibliografie sechs Seiten Sekundärliteratur versammelt, nun ist er (*1955) im germanistischen Olymp angelangt. Sehr zu Recht natürlich, aber war nicht eben noch alles im Fluss, war nicht alles im Werden und so live wie das Konzert in der Pandemiepause im August 2020 im Olympiastadion (unterm zeltüberdachten Nordeingang, um bei der Wahrheit zu bleiben)? Da indes war "Fragen der Philosophie" auch schon vierzig Jahre im F.S.K.-Repertoire. Und Meineckes Zeitschrift Mode & Verzweiflung längst Geschichte. Genau wie die WG mit Christoph Schlingensief, damals im Münchner Westend. Aber es fühlte sich anders an! Mit einiger Zerrissenheit habe ich darum das lohnende Gespräch Meineckes mit der Popkultur- und Heinse-Forscherin Charis Goer gelesen, dazu die Beiträge zu seiner Kunst des Zitats, dem Verhältnis zu Hubert Fichte, seiner Technik des Sampelns, zur Queerness, zu seiner Wertschätzung von Theorie und Diskurs gegenüber einer "Handlung". Das alles ist klug und richtig, tut zu lesen aber trotzdem weh, denn was eben noch Gegenwart war, sinkt hinter den Horizont und wird Geschichte.

 

Krachkultur 22: Arbeit. € 15,00.

Lichtwolf 73-75 (Unterirdisch, Haut und Knochen, Fug). Je € 8,50.

spritz 239: Zeitmitschriften II. € 14,00.

Text+Kritik 231: Thomas Meinecke. € 24,00.