Esther Kinsky wirft in Schreibheft 95 einen scharfen Blick von außen auf Dinge, die manche hier langsam erblinden lassen. Als Gelände-Erzählerin versiert darin, Strukturen zu lesen und Zeichen zu deuten, ohne in Gewöllen zu stochern, blickt sie ins Friaul, wo sie auf dem Dorf ein Haus bewohnt. Es ist kein idyllisches, auch kein Pasolini-Friaul, sondern das Corona-Friaul des Frühjahrs 2020, als Italien in einem Ausnahmezustand war, für den auch cisalpin die Aufnahmen von Armeelastern mit Pandemietoten ikonisch geworden sind.
Kinsky macht aus ihrem Unmut über unsinnige, weil weit überzogene Ausgangsverbote, die zumal Kinder treffen, keinen Hehl und sieht kritisch, dass dem von Corona nahezu verschonten Friaul die gleichen Maßnahmen verordnet werden wie den vom Virus hart getroffenen Milanesen und Bergamasken. Sie notiert, was eine aufs eigene Dorf begrenzte Bewegungsfreiheit und das totale Verbot analoger Sozialkontakte anrichten. Aber sie bemerkt auch die Zeichen des Frühlings und die kreative, nie leichtfertige Renitenz der Menschen, die sich angesichts offenkundig absurder Ge- und Verbote wiederholt Bahn bricht. Zugleich ist da Sorge, weil sie getrennt ist von Freunden und Arbeitsmöglichkeiten und Planungen zerbröseln. Trotzdem stiften Kinskys an Norbert Wehr, den Herausgeber des Schreibhefts, gerichtete Briefe ein Glück des Schauens, obwohl der Blick doch aus einem Gefängnis kommt. Denn es gibt viel zu sehen, wenn auch allein, nur tagsüber, bloß in der Dorfgemarkung. Und es gilt innezuhalten, ohne gleich die Freuden der Entschleunigung zu preisen. "Die Verfremdung der Welt" hat Kinsky ihre "Friulanischen Briefe" betitelt. Sie sind eine vieles in neue Relationen setzende Ergänzung zur bundesrepublikanischen Corona-Wahrnehmung.
In der Zeitschrift finden sich zudem Gespräche, die Anja Hirsch mit Wilhelm Genazino für eine nicht realisierte Biografie geführt hat ("Der Weg ins Offene. Wie ich Schriftsteller wurde"). Wer dem Autor nahekommen möchte, wird nicht enttäuscht: Genazino erzählt Anekdoten und liefert Beobachtungen, die zur Interpretation seines Werks taugen mögen. Wer nicht im Autobiografischen kramen möchte, halte sich indes lieber an seinen Roman Die Liebe zur Einfalt (1990). Dort findet sich vieles, was in den Gesprächen eine Rolle spielt, ins Literarische transponiert. Interessant aber, was der Autor über seine periphere Zugehörigkeit zur Neuen Frankfurter Schule berichtet. Und dass er erst mit fast vierzig Abi machte und in den 80ern Germanistik, Philosophie, Soziologie studierte, in Frankfurt natürlich, wo auch Norbert Altenhofer und Alfred Lorenzer seine Lehrer waren, was die Bildungsgeschichte späterer Generationen mit der von Genazino unversehens verbindet.
Sie sind nicht cool, die beiden Heilbronner Türken, die in Cihan Acars Edit-Text "Schade, dass Du lügst" für ein paar Monate nach Kreuzkölln gekommen sind, Micky für eine Weiterbildung irgendwann, der Erzähler, um einen Roman zu schreiben oder doch zu beginnen. Was sie eint: "Wir haben keinen Job, viel Zeit und wenig Geld." Aber sie nutzen ihre Freiheit nicht, sondern machen uncoole Sachen (lassen sich etwa in der Hasenheide schlechtes Dope andrehen und bitten die Dealer noch darum, ihnen Joints zu bauen), gehen so lala libanesisch essen, treiben dahin, beobachten Straßenszenen, die seltsam beliebig bleiben. Und doch heißt es inmitten dieser Wüste: "Ich denke ans Schreiben. Es erscheint mir als das Sinnvollste, was ich habe. Es ist immerhin ein Ziel. Was für ein Glück, dass ich schreiben kann." Obwohl dabei nur ein eher autoreferenzieller Text rauskommt, aus dem der Erzähler die Leser zuletzt mit lässigem Tritt expediert: Es gehören Chuzpe, Virtuosität, Humor dazu, Erwartungen an hauptstädtisches und postmigrantisches Schreiben so entspannt zu unterlaufen, wie Acar es tut. Bei Hanser Berlin kam Anfang 2020 sein Romandebüt Hawaii heraus, das verheißungsvollerweise in Heilbronn spielt.
Dem "Feminismus zwischen zwei Kriegen" (den Weltkriegen nämlich) ist Heft 4/2020 der Zeitschrift für Ideengeschichte gewidmet. Es spürt dem Wandel vom Feminismus als Haltung zum Feminismus als Lebensform nach, wie es einleitend heißt. Was da zwischen den Polen Helene Lange und Ruth Landshoff-Yorck ausgebreitet wird, ist indes so spannend nicht. Immerhin wartet Mitherausgeberin Petra Gehring mit dem Artikel "Frau und Dogge" auf, in dem es um Der Kampf der Tertia geht, ein einst beliebtes Jugendbuch von Wilhelm Speyer (1887-1952), in dem die junge Amazone Daniela Internatsschülern aus der neunten Klasse beispringt, die das Leben herrenloser Hunde und Katzen gegen einen Tötungsfeldzug der Stadtverwaltung verteidigen wollen, den Kampf aber zu verlieren drohen. Daniela schießt nicht nur martialisch Pfeile ab, sie besitzt auch zwei große Doggen, Meleager und Atalante. Dass es Doggen sind, leitet Gehring in rasanter, arg assoziativer Volte, die auch die Verfilmung des Romans 1928 durch Max Mack (Moritz Myrthenzweig) streift - einen Stummfilmpionier, dessen größte Zeit vor dem Ersten Weltkrieg lag -, aus der Verbindung Speyers mit der Tänzerin und Filmproduzentin Maria von der Osten-Sacken her, die "von dem für seine avantgardistische Tanzkunst in einschlägigen Kreisen damals legendären Frauenprojekt Loheland mindestens gehört haben (dürfte)". Diese anthroposophisch geprägte Schule, die noch heute existiert, habe ihr Überleben auch durch eine Doggenzucht gesichert; bis nach England und in die USA seien die Tiere verkauft worden. Als "Kaleidoskopsplitter einer feministischen Ikonologie" will Gehring ihre recht spekulative Spurensuche verstanden wissen, die verwegen Konjekturen in die Luft schreibt und den Geist der Lesenden kräftig beflügelt, ohne sonderlich entschlossen auf Plausibilität auszugehen. Wer nachgoogelt, dürfte staunen, auf welch wundersame Wege das führt.
Sehr viel germanistischer geht es in Text + Kritik zu. Die 228. Ausgabe ist Gabriele Tergit gewidmet, der Berliner Gerichtsreporterin und Romanautorin, die kurz nach ihrem großen Erfolg Käsebier erobert den Kurfürstendamm Deutschland schon 1933 mit ihrem Mann verlassen musste und nach enttäuschenden Jahren im Mandatsgebiet Palästina 1938 nach London übersiedelte, wo sie 1982 mit 88 Jahren starb. Ihr Roman Effingers, 1951 fast unbeachtet geblieben, wurde 2019 bei Schöffling ein Erfolg. Hochinteressant ist es, wenn Tergit mit dem Nachlasstext "Umschichtung" zu Wort kommt, einer fundamentalen Kritik der zionistischen Politik im Mandatsgebiet, die zeigt, wie unwohl und fehl am Platz sie sich als intellektuelle Jüdin aus Deutschland in den 30ern in Palästina gefühlt hat. Juliane Sucker, Gastherausgeberin des Hefts, beschreibt das Konvolut an kritischen Texten zum Thema und zeigt, dass Tergits Abrechnung mit Auswüchsen des Zionismus auch darum ungedruckt blieb, weil derlei zu ihrer Zeit als inopportun und schädlich galt.
Musik war 1998 Thema des 35. Erkers, der den Erstdruck von Georg Kleins Erzählung "Die Musik Schopenhauers" enthält, 1999 in Anrufung des Blinden Fisches erschienen; einen Ausschnitt aus David Wagners 2000 veröffentlichtem Debüt Meine nachtblaue Hose; einen Text von Sabine Neumann, die 2000 den großartigen Erzählungsband Streit vorgelegt hat; Irmin Schmidt von CAN wurde interviewt: eine Erker-Sternstunde, lange ist's her. Nun hat die Krachkultur Musik zum Thema einer Ausgabe gemacht, die viel Lohnendes enthält und weder Death Metal noch Beethoven scheut. In der sorgsamst komponierten Geschichte "Sommerregen" von Eva Schmidt begegnet uns ein Mann, der kein Heim mehr hat, mit dem Auto zwischen Schlafplätzen in leeren Häusern pendelt (er ist Immobilienmakler) und sich seiner Liebe zu Lucy und zu Charlie Parker erinnert, wobei unter der Hand von seiner Tragödie erzählt wird. Hemdsärmliger ist Frank Schäfer - er serviert knackige, oft autobiografisch anmutende, auch an Bukowski geschulte Heavy-Metal-Anekdoten: "Der Bus zur Schule fuhr gegen sieben. Man musste früh raus, wenn man vorher noch ein paar Pickel ausdrücken wollte. Die Zeit war nicht unchristlich, sondern satanisch. Eine so tödliche, jeden Lebensmut raubende Müdigkeit habe ich später nie wieder gespürt." Auch Tanja Dückers' kurzer Beitrag wirkt autobiografisch: Ein Nachbar bittet ein Mädchen von zwölf Jahren, sich aus der enormen Plattensammlung seines Sohns, der sich mit sechzehn umgebracht hat, zu bedienen. Überfordert wählt es des farbenfreudigen Covers wegen Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band und entdeckt: "Das war nicht Gebrauchsmusik, sondern Kunst", spricht von einem "Wendepunkt in meinem Leben", hebt "A Day in the Life" hervor. Hoffentlich gelingt es Dückers, mit dieser Protagonistin und in diesem schmerzlich-intensiven Erzählton eine Geschichte der 80er zu erzählen, Stationen einer Jugend im real existierenden, multipel zitadellenhaften Westberlin. Tom Kummer schließlich hat Skandale wegen gefakter Interviews und plagiierter Artikel ausgelöst, das Anrüchige seines Tuns aber in eine kreative Triebkraft verwandelt, die ihn glänzend erzählen lässt, etwa davon, was Bob Dylan auf seinem Riesengrundstück oberhalb von Malibu treibt, als eine Feuerwalze aus den kalifornischen Bergen naht. Was reportagehaft tut, ist blühende Erfindung, also Literatur, und dieser Wechsel des Registers lässt aus Scharlatanerie Kunst werden. Ein hübsches Lehrstück. |