Jonas Podlecki
Vor allem fällt das Licht auf. Wie eine Aureole hängt es über der Stadt und tunkt den Himmel in eine gelbliche Soße. Schon aus kilometerweiter Entfernung ist es zu sehen, wenn man aus dem Fenster schaut im Bus, der sich langsam darauf zubewegt, um nach einer kurzen halben Stunde in die Lichtglocke von Tartu zu fahren. Ja, überall dieses kräftige Gelb, das wie Honig durch die Straßen fließt und den Gebäuden einen majestätischen Anstrich verleiht, egal, ob es hundert Jahre alte Holzbauten oder vor kurzem renovierte Betonklötze sind. Nur die verglasten Einkaufstempel in der Innenstadt erinnern an das sterile LED-Weiß, das in Deutschland allgegenwärtig ist, in Estland aber von dieser goldenen Erhabenheit verschluckt wird.
Wir wohnten in Tartu nicht weit vom Zentrum entfernt in einem alten Betonblock an der Raatuse. Durch eine Stahltür trat man in die Diele und blickte in ein Wohnzimmer, an dessen Wänden Plakate hingen. Lesungen, Kabaretts, Konzerte, Karikaturen. Ich konnte die Wörter nicht entziffern, nur die Bilder verrieten die Thematik von Anarchismus und Kommunismus. Etwas nostalgisch, dachte ich und betrat das Schlafzimmer, das M. uns mietfrei zur Verfügung gestellt hatte. Ein Kleiderschrank, eine Kommode, ein Schreibtisch, in einer Ecke auf dem Boden lag eine Matratze mit frischem Bettzeug und einem Zettel: "Fühlt euch wie zu Hause." Aus dem Fenster sah man den Hof: kahle Bäume auf einer grünbraunen Wiese, die von parkenden Wagen umstellt war. An einer Seite rostige Wäschestangen. Heute wagt es niemand, seine Kleidung draußen aufzuhängen.
Nachdem die Sowjetunion Estland 1944 von der NS-Herrschaft befreit, sogleich aber erneut okkupiert, annektiert und schließlich sowjetisiert hatte, wurde Tartu geschlossen. Kein Ausländer durfte hier übernachten. Der KGB hatte ein Gefängnis in der Stadt eingerichtet und fürchtete, etwas könnte nach außen dringen. Es ist schon merkwürdig, dass ein Ort, der den sowjetischen Geheimdienst beherbergte, zugleich über die liberalste Universität der gesamten UdSSR verfügte. Gelehrte wie der Literatur- und Kulturwissenschaftler Juri Lotman konnten hier vergleichsweise repressionslos ihren Forschungen nachgehen. Nicht umsonst gehört die Universität Tartu zu den renommiertesten Ausbildungsstätten Nordeuropas.
Wir waren allein und hauten uns für eine Stunde hin, die Busfahrt lag uns noch in den Knochen. A. schlief nach wenigen Minuten ein. Ich war hellwach und ließ den vergangenen Tag Revue passieren. Tallinn in den Morgenstunden und zur Mittagszeit. Hektische Betriebsamkeit auf den Straßen. Einkaufende Passanten und neugierige Touristen, rasende Autos auf dem Weg zur Arbeit oder Leute zu Fuß unterwegs nach Hause. Nichts Ungewöhnliches. Da reist man ans andere Ende Europas und sieht dasselbe wie daheim. Aber nicht ganz. Wir wollten zum Busbahnhof. Wir verließen die mittelalterliche Altstadt und gingen durch das Bankenviertel. Zwischen den Hochhäusern aus Glas stand eine Ruine. Der Fassadenputz war abgeblättert und zeigte den Backstein. Er hatte die Farbe geronnenen Blutes - wie eine Wunde, die durch den Verband sickert. Warum räumt niemand diese Überreste weg? Warum liegen diese Trümmer immer noch da? Weil im intakten Gebäudetrakt eine Kirche untergebracht ist, in der regelmäßig Gottesdienste stattfinden.
Ja, so habe ich Estland erlebt: auf der einen Seite der transparente Hochglanz der Postmoderne, auf der anderen die verfallenden Überbleibsel der Vergangenheit, die noch tief eingeschrieben ist in die Topographie des Landes.
"Sauna?"
"Ja", sagte A., "eine Holzsauna im Wald, weit weg von Stadt und Straße. Wir fünf und eine Sauna am Teich."
Also packten wir unsere Siebensachen, verließen Tartu in südlicher Richtung und bogen nach vierzig Kilometern links ab auf eine Schotterstraße, die uns nach fast einer halben Stunde Dunkelheit und dichtestem Wald zu einer Holzhütte brachte. Über dem Eingang war ein Flutlicht angebracht, andernfalls hätten wir das Haus nicht gefunden, denn man sah die Hand vor Augen nicht. Außer den Geräuschen, die stolpernde Idioten in der Einöde verursachen, hörte man nur unser Gemurmel und das Schweigen der Nacht. Keine Wolke am Himmel, nur leuchtende Schuppen, die auf eine mir völlig unbekannte Welt hinunterschienen.
R. erwartete uns schon. Er hatte die Hütte vorbereitet und erklärte uns, was, wie, wann und wo. Neben dem Wohngebäude war ein alter Schuppen, dort holte man die Holzscheite für den Kachelofen. Die Toilette lag dahinter, ein Bretterverschlag, durch dessen Ritzen kühle Luft zog. Die Klobrille war auf einer Holzfläche mit Loch befestigt, darunter stand ein mit Rindenmulch gefülltes Fass. Zivilisation trifft auf Natur. Es ist gewöhnungsbedürftig, aber reizvoll: eingepackt in warme Winterklamotten, gelangt man mit Taschenlampe zur Trockentoilette, deren Wände im Wind knarren wie die morschen Dielen eines uralten Dachbodens.
Schließlich jagten uns die Frauen aus dem Haus ("Bereitet schon mal die Sauna vor, wir kochen das Abendessen"). Also gingen wir zur Sauna. Sie stand ein paar hundert Meter weiter als Teil eines abseitigen Anwesens mit Holzschuppen am Teich. Den ganzen Tag hatte es geregnet. Jetzt war es dunkel wie unter einem schweren, schwarzen Stoff. Wir kämpften uns über matschige Trampelpfade vorbei an knöcheltiefen Pfützen durch die Nacht. ("Mit Taschenlampe", sagte R., "immer mit Taschenlampe, sonst bist du hier verloren.") Nach zwei Stunden und mehrmaligem Hin und Her brachten wir die Holzsauna auf die nötige Temperatur von 80° C. Aber das war es wert. Nackt saunen bei ein paar Flaschen Bier, dann raus in den Teich, sich abkühlen, und wieder rein in die erhitzte Luft, die einen umhüllt wie eine unsichtbare Heizdecke. Den über Wochen und Monate angestauten Dreck aus Leib und Seele schwitzen. Es gibt nichts Besseres. ("So muss sich das angefühlt haben in Mutters Schoß.")
"Wer nach Estland kommt und weder Natur noch Sauna sieht, war nicht wirklich in Estland", sagte A. "Doch nackt zu saunen, das ist eher was für die Hippies aus Tartu." Daher sah ich wie der letzte Vollidiot aus, als ich in einem gutbürgerlichen Haus nackt in einem Badezuber saß.
Das war in Narva, Anfang Januar, die Temperatur knapp über Null. "Ich bin fast fünfzig Jahre alt", sagte unser Gastgeber, "an einen schneelosen Januar kann ich mich nicht erinnern." Wir saßen zu viert in einem Badezuber. Dampf stieg von unseren Köpfen in die milde Winterluft. Die estnische Fahne am Gartenmast hing still.
Er erzählte von seinen Großeltern, die in einer sowjetischen Kolchose schuften mussten. Die Apparatschiks nahmen den Arbeitern ihre Pässe weg und zwangen sie zu harter Arbeit, sechs, sieben Tage die Woche, bis zu zwölf Stunden bei jedem Wetter. Nur wer zum Militärdienst beordert wurde, bekam seine Dokumente zurück und konnte gehen. A.s Großvater kam nicht zurück. Er suchte sich eine Arbeitsstelle in der Stadt, hauste, wo er konnte, bei Freunden und Bekannten, in alten Schuppen oder verlassenen Häusern, manchmal auf der Straße ("das war immer noch besser als der Sadismus der Kolchose"), bis er eine Wohnung erhielt und seine Frau endlich zu sich holen konnte. Das war nach dem Krieg gewesen, als der Kommunismus Fahrt aufnahm, um nach entbehrungsreichen Jahrzehnten am Felsen der eigenen Unfähigkeit zu zerschellen.
Im Nordosten, nahe der russischen Grenze, ist die sowjetische Urbanität noch präsent. Verwaiste Fabrikhallen, unbewohnte Wohnblöcke und mitten in Siedlungen vor sich hin vegetierende, himmelhoch aufsteigende Gerippe von Gebäuden, bei denen man nicht weiß, ob sie aus Sicherheitsgründen irgendwann verlassen oder gar nicht erst fertiggestellt wurden. Abseits der Hauptverkehrsadern gleichen die Straßen einer asphaltenen Mondlandschaft: Voller Risse, Löcher und Minikrater stellen sie die Aufhängung jedes Fahrzeugs auf die Probe. Das spürte ich, als wir in einem klapprigen Reisebus zurück nach Tallinn fuhren.
"Auch wenn die Amtssprache Estnisch ist, hier im Nordosten spricht man Russisch", sagte P., als wir an einer Gruppe Touristen vorbeigingen. Er zeigte uns das orthodoxe Nonnenkloster in Kuremäe. In der Kirche wurde gerade ein Weihnachtsgottesdienst gehalten. Ein Frauenchor sang gregorianische Kirchenlieder, während eine Menschentraube vor dem Altarraum einer Ikonostase Christi huldigte. Die Gläubigen waren in Bewegung. Man trat vor das Bild des Heilands, flüsterte etwas vor sich hin und wich dann nach rechts oder links aus, um nach einer kleinen Runde wieder davor zu treten, inbrünstig Gebete murmelnd. Niemand stieß, niemand schubste. Alles lief flüssig ab, ohne jede Hast. Frauen mussten eine Kopfbedeckung tragen. In einem Seitenschiff stand ein Holztresen, an dem christliche Devotionalien verkauft wurden.
Das Gelände betritt man durch einen niedrigen Seiteneingang neben dem Portal. Im Winter sieht die pompöse Architektur absurd aus in dieser kargen, ärmlichen Gegend, in der die meisten Bewohner einfache Bauern sind. Als wir dort waren, wurde das Kloster noch renoviert. In einer Ecke lag Schutt. Wege aus grauroten, knochenförmigen Pflastersteinen führten bereits zu den Gebäuden. Nur noch eins oben hinter den drei hoch aufgeschichteten Holzhaufen und der kleinen Kapelle, dann ist alles fertig. Vor dem Priesterhaus parkte ein schwarzer Mercedes SLK mit verdunkelten Scheiben. "Es heißt, die russische Mafia sei für die Runderneuerung aufgekommen", sagte P. Und später fügte er hinzu: "Ein Grab auf dem Friedhof vor dem Kloster kostet eine Million Euro."
Eine Frau hatte im 16. Jahrhundert vor einer Eiche eine Epiphanie. Seitdem gilt der Ort als heilig. Neben dem Baum wurde eine kleine Kapelle gebaut, ein Friedhof angelegt, dann eine größere Kirche errichtet, um Ende des 19. Jahrhunderts schließlich das orthodoxe Nonnenkloster zu gründen, das bis heute unter russischer Aufsicht steht.
Wir fuhren vom Klosterhügel hinunter ins Tal und hielten auf einem Schotterparkplatz. Wir wollten zum Bach. Auf dem Weg dorthin war ein provisorischer Stand, eine Frau und ein Mann verkauften Plastikbehälter. Große, fünf Liter fassende Kanister für zwei Euro, kleine Halbliterflaschen für fünfzig Cent. "Wollt ihr denn nichts vom heiligen Wasser mitnehmen?" Wir wollten nicht. Aber wir tranken etwas aus dem betongefassten Wasserloch, wuschen uns damit Hände und Gesicht. Wir schauten in die graue Holzhütte, in der man seine Kleider ablegen und in den hindurchfließenden Bach steigen konnte, um sich ganz zu reinigen im geweihten Wasser von Kuremäe.
"Ein Mann kommt regelmäßig mit seinem Fahrrad und einigen Wasserflaschen, die er hier auffüllt und in der Stadt verkauft."
"Und davon lebt er?"
"Damit bessert er sein Taschengeld auf. Die Rente reicht bei weitem nicht", sagte P.
Dann setzte er uns auf dem Bahnhof von Narva ab. Wir warteten auf den Bus nach Tallinn. Immer wieder Tallinn. In Estland führen alle Wege nach Tallinn. Ein Drittel der Bevölkerung lebt dort, knapp 430.000 Menschen. In Estland reist man mit dem Reisebus. Wohin man möchte, immer mit dem Bus, weil es keine ordentlichen Bahnverbindungen gibt.
Also setzten wir uns in den Bus und lauschten dem sonoren Brummen des Motors. Wir waren fix und fertig von der Besichtigung konsumierbarer Heiligtümer, dabei waren wir nur wenige Stunden unterwegs. Der Bus war alt und klapprig und schaukelte wie ein Motorboot auf kabbeliger See. Ein junger Mann in dicken Wollsocken lag auf zwei Sitzen und schlief, als wir in Narva losfuhren, und er schlief fast bis zur Endstation in Tallinn, als spürte er nichts von den Erschütterungen der zerrissenen Fahrbahnen. Gut möglich, dass er von dem Gerumpel aufwachte, um auf dem glatten Asphaltband der Schnellstraße wieder einzuschlafen, während sich hinter der Fensterscheibe weite, grünbraune Wiesenlandschaften mit dichten Nadelholzwäldern abwechselten. Ja, dichtes Waldgebiet und dann plötzlich Wiesen, bis zum Horizont Wiesen mit ein paar Sträuchern und Bäumchen hier und da. Zuweilen fuhren wir vorbei an Ackerflächen und verwitterten Ruinen, in denen seit Jahren niemand mehr hauste. Stehengelassen modern sie am Straßenrand ihrem Abriss entgegen, Relikte, von der Zeit überholt und der Nutzlosigkeit überlassen. Überall in Estland bin ich ihnen begegnet, mitten in Städten und in dörflicher Ödnis. Im Bus fahrend, hielt ich Ausschau nach diesen Überbleibseln, die Raum und Zeit trotzen und den Utilitarismus lächerlich aussehen lassen, weil die kapitalistische Hochglanzpolitur niemals jene Schönheit erreichen kann, die von den Waisenkindern der Geschichte ausgeht. Daher halte ich immer Ausschau nach den Überresten von etwas, bei jeder Reise, unterwegs in Bussen und Zügen durchsuche ich die Landschaft nach ihren Zeichen, spähe nach der Materialisation meiner Sehnsüchte und hoffe inständig, dass nichts und niemand sie je fortschaffen wird auf den Müllplatz der Historie.
Karlova ist ein Stadtviertel von Tartu. Ein Holzhaus nach dem anderen, manche aus dem 19. Jahrhundert, einige renoviert, andere nicht. Irgendwo zwischen den dicken Balken, versteckt in den Ritzen der Holzlatten, ruht die Geschichte des Landes, ausgedörrt, gebrechlich, fast vergessen. Doch ein kurzes Aufwallen der Zeit genügt, und sie bricht hervor wie aufgewirbelter Staub, fragil und quicklebendig wie ein frisch geschlüpftes Küken.
Estland ist geprägt von christlicher Kultur. Katholizismus und Protestantismus, Orthodoxie und Liberalität treffen hier aufeinander. Es herrscht eher ein friedliches Nebeneinander der Konfessionen als ökumenische Zusammenarbeit. Vielleicht liegt das an der Vergangenheit, vielleicht an der Zukunft, wer weiß. Erst jahrhundertelange Monarchie (unter skandinavischer und russischer Souveränität), dann eine kurze Phase demokratischer Unabhängigkeit, die zerschlagen wurde durch die verhängnisvolle nationalsozialistische und die lange sowjetische Okkupation, die Wirtschaft und Kultur ausgezehrt hat. Heute gibt sich die neoliberale Demokratie alle Mühe, das Land wieder aufzupäppeln. Und es funktioniert. Energetisch ist Estland, anders als halb Europa, nicht von Gazprom abhängig. Ganz im Gegenteil, die heimische Ölschieferförderung deckt nicht nur den eigenen Strombedarf, sondern exportiert große Mengen ins Ausland, beispielsweise nach Finnland. Und das Kraftwerk läuft nicht mal auf vollen Touren, heißt es. Ökologisch gesehen ist es allerdings eine Katastrophe. Die Landschaft um die Förderanlage gleicht einer Wüste.
Jedenfalls ist die Zukunft ebenso nah wie die Vergangenheit. Was tun mit der Angst, die einen kitzelt, während man Nachrichten hört? Was interessiert den warmen Süden der kalte Norden Europas? Was verbindet diese weit entfernten Räume und Kulturen mehr als Politik und Ökonomie, deren Ideen ebenso heilsame wie gewalttätige Konsequenzen herbeiführen können?
Es dauert nur wenige Augenblicke. Man schaut aus dem Fenster und sieht, wie das graue Licht des Winters langsam fortgeschoben wird in die Dunkelheit, als würde jemand den Tag wegdimmen. Um 16 Uhr ist es bereits dunkel, die Straßen sind erhellt von dem satten Honiggelb, das aus den Laternen auf den Boden klatscht und durch die Rillen des Kopfsteinpflasters fließt. Alles wirkt ruhig und erhaben. Keine Bewegung hinter den Gardinen, kaum Menschen auf den Gehsteigen, nur das Rauschen der Autos auf den mehrspurigen Fahrbahnen erinnert an den Alltag einer Großstadt. Ich betrachte wieder die goldene Aureole von Tartu und halte es nicht länger aus: "Woher kommt das Licht dort am Himmel?"
"Das ist das Licht der Gewächshäuser", sagt M., "Tartu ist bekannt für seine Gurkenzüchtung."
Jonas Podlecki, *1986, wohnt derzeit im tschechischen Budweis (České Budějovice) und arbeitet an der dortigen Universität als DAAD-Sprachassistent. Ansonsten Sprachlehrer im Ruhrgebiet, in Polen und Tschechien. Studierte Komparatistik an der Ruhr-Universität Bochum. |