Am Erker 70

 

 
Texte
Am Erker 70, Münster, Dezember 2015
 

Klaus Esterluß
Der See

Um an den See zu kommen, müssen wir die Dorfstraße entlang. Vorbei an einem Gehöft, in dem noch jemand wohnen soll. Wir haben ihn, den Mann, Frau tot oder verschwunden, keine Kinder, von denen man weiß hier im Dorf, nicht gesehen, seit wir hier sind. Geerbt hat er das Haus, das ein ganzes Areal ist, sagenhafte Größe, erzählen sie uns, von den Eltern übernommen, schon ewig her. Fünf Gebäude sind es insgesamt, Stallungen, Wohnhäuser, nur eines soll überhaupt noch beheizbar sein. Ein Eigenbrötler sei das, auch früher schon, kaum vor der Tür gewesen.
Wir hören das von den Nachbarn. Sie wohnen an der Weggabelung, die wir nach links müssen, einen Feldweg hinauf. Der hat am Anfang noch Steinplatten, alte, schiefe sind das, Betonplatten, mit Löchern drin und Resten rostiger Ösen, an denen sie einst hingen, als sie für irgendeine LPG hier verlegt worden sind. Als sie noch LPGs hatten hier und die Gegend noch Osten war, DDR. Das ist lange her. Heute ist das hier Westen, und mit dem Westen sind die Nachbarn gekommen, sie haben ihren Teil Osten gekauft. Reden viel mehr als die Einheimischen. Und gehen auch häufiger vor die Tür. Der ganze Raum hier, alles, Felder, Flusslauf der Elbe, Äcker, wurde eingemeindet. Und die paar Bewohner gleich mit.
Folgen wir dem Weg, enden bald die Betonplatten mit den Ösen und werden von Waben abgelöst, auch Beton, aber luftiger, aus denen die Gräser und versprengte Getreide sprießen. Dann Schotter, noch mehr Pflanzen, viel mehr Staub. Wir müssen eine Anhöhe hinauf, rechts steht ein Schuppen, der sich mit jedem Jahr mehr zur rechten Seite neigt, mit dem auflandigen Wind. Zusammenbrechen will er nicht und wird er wohl nie, das ist Gesetz. Was so lange stehen bleibt wie dieser Schuppen, das überdauert alles, selbst die Menschen. Der Schuppen war vor allem da, als das Gebiet weder Osten noch Westen war, hat sich im Osten zu neigen begonnen und hat diese Tradition im Westen beibehalten. Damals haben sie hier Geräte gelagert, die sie nicht auf die Höfe schleppen mussten, Eggen, vielleicht Sicheln, Pflüge, so was. Heute steht der Schuppen leer.
Die früheren Bauern nahmen immer denselben Weg, den wir jetzt nehmen, um zum See zu kommen. Sie nahmen aus der Hütte, was sie brauchten, alles für alle und dann ins Feld.
Wir steigen also den Hügel hinauf, Maxi zuerst, sie ist immer vornweg, und dann sehen wir vor uns die Felder. Der Weg, der inzwischen Sandweg ist und auf dem nur ein paar Gräser in der trockenen Hitze schwanken, wo die Fuhrwerke und spärlichen Traktoren eine Schneise geschnitten haben. Die Felder sind Weizen und Hafer, weiter hinten steht, leuchtend gelb, der Raps. Damit verdienen sie hier Geld, Biosprit, E10, so was. Vom Feld in den Tank für die Umwelt. Oder auch nicht, die Sommer hier jedenfalls werden spürbar wärmer, sagen sie uns. Am Feldrand schweben weiche, breite, rote und ausfransende blaue Blüten, Mohn und Korn. Dazwischen pastellene, die wir als geborene Städter entweder schon vergessen oder nie gekannt haben.
Die Luft flirrt von der Hitze des noch so jungen Tages. Es riecht nach Sonnenbrand, die Haut auf den Gesichtern spannt, sie zieht sich in Form für den angebrochenen Tag. Aus den Feldern jagen Lerchen Schwalben in den weißblauen Himmel hinauf, mehr weiß als blau. Hier stehen, bis auf einen, keine Bäume mehr.
Den einen werden wir noch brauchen. Er ist wichtig für den See, erhebt sich, gut sichtbar, aber in großer Entfernung, knorrig aus den Ähren. Wir laufen auf ihn zu und werden noch zehn, vielleicht fünfzehn Minuten brauchen. Wäre es kühler, ginge es wohl doppelt so schnell.
Kommt schon, ihr Schnarchnasen, schreit Maxi, während sie in einer Biegung des Weges und aus unserer Sicht verschwindet. Maxi wird sieben, diesen Sommer noch. Die Schnarchnasen hat sie aus der Schule mitgebracht, die sind gerade en vogue, hat Maxi erklärt. Auch en vogue ist gerade en vogue. Schnarchnasen in Zuckertüten.

II

Wir sind früh los, schnell und aufgeregt. Teller und Tassen vom Frühstück stehen, wo sie stehen und bis sich jemand erbarmen wird, sie aufzuräumen. Uns zog es hinaus. Nach Maxi kommt Enno aus der Tür. Draußen, vor die kleinen Schießschartenfenster des alten Dorfkrugs, der nun Wohnhaus ist. Sein Schild zeugt noch, an der Wand hängend, von der alten Herrlichkeit des flachen Raums, seinen schwarzgerauchten Holzbalken, heute weiß übertüncht, von getrunkenen Schnäpsen, der norddeutschen Wortkargheit, der Hitze vergangener Sommer, dem Schweiß und dem Geruch der Kühe, die im Nebenraum im Stroh lagen. "Zum Bullen", so hieß das hier damals, heißt es noch heute.
Von der Feuchte der Elbe bei Nacht und ihrer Wiesen sind feine Nebelschwaden geblieben, in die Maxi schnellstmöglich hineinwollte, um die Feuchtigkeit in den Rest des Tages zu retten. Als wir vor die Tür treten, steigen zwei Störche aus einer Wiese nebenan auf. Den See, der unser Ziel ist, muss man sich verdienen. Wir haben ihn uns verdient. Verraten dürfen wir ihn nicht.
Von den Überflutungswiesen der Elbe, die direkt an den Deich hinter dem Haus anschließen, wir reden von nicht mehr als zehn Metern, kommt ein kräutriger, kräftiger Duft herüber. Früher stand hier oben der Grenzzaun. Dort West, hier Ost. Bärlauch und Dill wachsen hüben wie drüben. Wer den Deich erklimmt, blickt in gewisser Entfernung auf die grobsteinigen Ufer der Elbe. Von unserer Seite aus werfen wir Brocken in die Fahrrinne. Und sprechen davon, wo wir wohl anlanden würden, gingen wir genau hier ins Wasser. Die Elbe ist tückisch, hat viele Stromschnellen und Wirbel, die man erst sieht, wenn man sie spürt, wenn man drinsteckt. Jeder hier kennt einen, der den Sprung mal gewagt und es dann nicht geschafft hat zurück ans Ufer. Wir ziehen das Springen nie wirklich in Betracht, wir reden nur. An der Elbe hier oben ertrinken selbst die besten Schwimmer. Hier oder in dem Loch ohne Boden, wie es heißt. Ein Wasser ist das, von oben gesehen eine Pfütze, nach unten aber endlos.
Das sind die Geschichten, die man hört, wenn man am Abend am Feuer sitzt. Das Feuer brennt in einem alten Grill, den mal einer aus einem alten Ofenrohr gehauen hat. Rostig ist er, Löcher hat er, aus denen die Funken stieben können. Das Licht lockt hunderte Motten an, immer wieder hören wir dieses Knistern, das den Kindern einen Schauer über den Rücken laufen lässt und mit dem immer wieder eine Motte im Feuer aufgeht.
Nach dem Feuer, in der feuchten Kühle der Nacht, kommen die Schnecken. Nacktschnecken, zu Hunderten. Wir sammeln sie in einem großen Eimer, in dem zur Hälfte Wasser steht. Die Schnecken ertrinken nicht, sie versuchen auf ihre Schneckenart zu fliehen, kriechen langsam, aber zielstrebig den Eimerrand hinauf, manchen gelingt die Flucht, die kriegen wir beim nächsten Mal. Für die Kinder ist das die größte Mutprobe, die Hände in den Schneckenwasserschleim zu stecken, bis zum Ellenbogen hinein, und zu warten, wer sich zuerst genug ekelt und die Hände wieder herauszerrt. Ich verliere dabei, gegen Enno oft, gegen Maxi immer.
Der Eimer steht, noch leer, auch an diesem Morgen unter der Bank an der Haustür. Die Nebel sind verschwunden, kaum dass wir alle auf dem Hof stehen und uns auf den Weg machen vom Hof raus auf die Straße. Augenblicklich steigen die Temperaturen, für einen kurzen Moment sind Luftfeuchte und Hitze gleichermaßen hoch, der Schweiß tritt im Stehen schon auf die Oberlippe und zeigt sich am Haaransatz. Alles fließt. Noch ehe wir auf der Straße stehen, hat die Sonne gewonnen und die Feuchtigkeit getrocknet.

III

Die Fahrt von der Stadt hierher dauert vielleicht zwei, drei Stunden. Wir haben die eine Hitze hinter uns gelassen und gegen eine zweite, trockene getauscht. Die hier legt sich wie ein schweres, warmes Tuch auf die Schultern. Die in der Stadt hingegen setzt sich wie ein nasser, schwerer Ledermantel auf den Kopf. Es ist ganz eindeutig, welche besser ist. Wir haben noch nicht mal August. Juli ist es und jetzt schon unerträglich in der Stadt. Da hilft auch die Altbauwohnung nicht mehr. Und das Sardinenhafte eines Kreuzberger Freibads ist alles andere als das große Glück.
Ella, habe ich am Telefon gesagt, Ella, kannst du uns aufnehmen, für ein paar Tage, vielleicht ein paar mehr? Und wir haben uns geeinigt darauf, dass wir mit anpacken werden, wenn es sein muss. Ein richtiger Urlaub soll es nicht werden, aber auch keine Arbeit. Rasen mähen vielleicht, Hecke stutzen, Pflanzen wässern, Schnecken sammeln, so was. Gut zu Fuß und Rad ist Ella nicht mehr. Seit ein paar Jahren, das ist chronisch, sagt sie. Aber klagend soll es nicht klingen. Ella wird für die kommende Zeit unsere Herbergsmutter. Wir sind verwandt, sie und ich, nicht ganz direkt, über ein paar Ecken, lange Jahre haben wir voneinander nicht viel, eigentlich gar nichts gehört, und wie das genaue Verhältnis ist, welcher Grad, das weiß keiner so genau mehr zu sagen. Alle haben etwas von dieser Reise. So war das auch in den vergangenen drei Jahren schon.
Und jetzt, da Ella eine der letzten Verbliebenen ist, die hier noch die Stellung halten und das Wasser am Laufen, neben denen, die man nicht mehr sieht, und denen, die, so hört man, hier auch nicht sterben wollen, ist ein Besuch, sollte er auch Wochen dauern, eine willkommene Abwechslung. Man kann nicht nur mit den Störchen reden, sagt Ella. Mit den Schnecken auch nicht, sage ich. Man munkelt, dass der Hof mit den redseligen Nachgezogenen an der Weggabelung auch zum Verkauf steht. Dann wären sie hier nur noch zu dritt.
Es kann gut passieren, dass an der Kreuzung zur nächsten Landstraße, ein paar Kilometer von hier, über Stunden kein Auto kommt. Wir haben das gestoppt. Drei Stunden waren es ein Mal, fünf ein anderes.

IV

In diesem Wissen zerrt Maxi sorglos ihren Bollerwagen hinter sich die Hauptstraße des Orts entlang, zum Feldweg. Die Straße ist gesäumt von Apfelbäumen, aus denen verschreckte Schwärme von Amseln stieben, als Maxi laut singend und scheppernd den Weg in Angriff nimmt. Die Vögel drehen eine weite Runde, immer in Formation, und landen einige Bäume weiter. Ihr Aufschrecken lässt Äpfel herunterprasseln, kleine, saure und doch schon rote Äpfel. Sie eignen sich allenfalls zur Destillierung. Eine Schnapsbrennerei gab es hier sogar mal, damals kannten sie hier nur Kutschen.
Maxis Bollerwagen beherbergt neben Alois, Maxis Lieblingspuppe, noch unseren Vorrat an belegten Broten, die wir am See verzehren wollen, mit der Sonne im Nacken. Enno schleppt in einigem Abstand einen unvorstellbar großen und unvorstellbar gelben Gummiball mit sich, auch wenn er so gut wie wir weiß, dass er dieses Ungetüm wird unmöglich kontrollieren können an der steilen Uferböschung. Enno ist da eigensinnig. Wir anderen, Alex und ich, tragen Schirm und Handtuch, Flaschen mit Wasser und klebrig süßem Tee, wie die Kinder ihn verlangt haben. Ella hingegen zieht den Schatten ihres Sonnenschirms vor, dieses schiefen und altgedienten Beispiels der Schirmkunst der Jahrhundertwende. Sie will sich ihren Korbstuhl darunter ziehen, sagt sie noch, und dass wir uns ums Abendessen nicht werden kümmern müssen.
An Maxis Hand quietscht der Bollerwagen weiter die Straße entlang, scheppert bedrohlich das Lenkgestänge, das an seinem ungefetteten Bolzen halb lose hängt. Am Hang, an dessen Ende die schiefe Hütte steht und steht, wird Maxi die Zuckelei zu eintönig. Und weil niemand sonst will, übernehme ich den Wagen. Nach und nach steigen wir den Hügel hinauf und bleiben oben für einen kurzen Moment stehen, um die Orientierung zu finden. Wir waren eine Weile nicht hier. Wo noch mal? Ja, richtig, der Baum. Er ist der Anker, an den wir uns halten sollen, hat Ella gesagt, damals, bei unserem ersten Besuch am See. Rechts davon, durch mannshohes Korn, Gestrüpp und Gras, gibt es einen Pfad. Alle paar Meter wirbelt hier ein Schwarm Insekten auf, grün schillernde Libellen mit Glasflügeln schießen vorbei und bringen die Kinder zum Kreischen, wenn sie abrupt in der Luft stehen bleiben, wie Kolibris mit den Flügeln schlagen und in Bruchteilen von Sekunden, einem anderen Winkel folgend, verschwinden. Wir müssen da hin, wo die Frösche vorn quaken, die Stadt vergessen.

V

Den See gibt es erst wenige Jahre. Er liegt da, mitten im Feld, mitten in den hohen, wogenden Halmen, seit sie Sand für einen Autobahnneubau gebraucht haben, der die Lawine schneller von Stadt zu Stadt und ans Meer bringt. Die Bagger kamen und trugen das Erdreich inmitten des Feldes ab, wochenlang, monatelang. Zurück blieb eine Mondlandschaft, die an der einen Seite sanft, an der anderen, an der wir nun stehen, steil in die Tiefe führt. Regen und Grundwasser füllten die Kuhle, mit der Zeit nahm die Natur in Besitz, was ihr ohnehin gehörte, und nun füllt Wasser das Loch und Leben das Wasser. Die Elbe ist nah. Am Fluss gibt es noch Biber. Man braucht Geduld, doch sie sind da. Für die wenigen Menschen hier ist der See, ihr See, ein einsamer, ein wichtiger Ort, ein Ort, über den man nicht spricht und den niemand, der ihn nicht kennt, der nicht dabei war, erfahren darf. Sie halten sich streng daran. Und dass wir hier sind, das liegt an Ella und am Deich und an der Vergangenheit.
Seit der See da ist, bestellen die Bauern ihre Felder weniger gründlich. Sie verkaufen ohnehin kaum etwas von der Ernte, und niemand fragt. Die Natur kann tun, was sie will. Wir sehen Reiher, Haubentaucher, Gänse und Blesshühner, aber die gibt es ja überall, sogar in der Stadt. Manchmal sieht man einen mit einem Mähdrescher vorüberschieben, aber der Staub des gedroschenen Korns fehlt. Die den See kennen, sagt Ella, die kannst du an vier, ach was, zwei Händen abzählen. So richtig kann das nicht stimmen, denn nun gehören auch wir dazu. Wir sind, wo wir uns heute durch das hohe Gras schlagen, den Bollerwagen vorsichtig ziehen, nicht mehr die, die sich in Mohn und Korn wälzen, um teilzuhaben. Wir brauchen das nicht mehr. Die Menschen hier können die Stadt riechen, drei Meilen gegen den Wind. Wir riechen die Stadt auch, am Anfang in unseren Haaren, am Ende an den anderen Leuten.

VI

Vor drei Jahren wohl waren wir in den großen Ferien fast schon in Polen drüben. Was heißt drüben, im Haff waren wir, Polen ist nebenan. Wir waren kaum draußen damals, die ganze Zeit hat es geregnet, in Strippen. Als wir die Stadt verließen, da ging es noch, ein paar Tropfen, ein paar mehr, ja gut, aber am Ende Strippen, Bindfäden, den ganzen Juni lang. Fast dieselbe Zeit wie heute, wo wir am See stehen und uns Bindfäden von der Stirn laufen. Drei Wochen lang damals, von morgens früh bis in die Nacht hinein Regen und am Morgen wieder. Irgendwann haben die Böden ihn nicht mehr schlucken können. Das Grundwasser hat nach oben gedrückt, was von oben versuchte hineinzukommen.
Wir haben viel gelesen damals und Gummistiefel gekauft. Für jeden von uns, weil wir mit dem Regen nicht gerechnet hatten. Niemand hatte damit gerechnet. Den Kindern war das egal, irgendwie. Die gingen auch dann raus, wenn sie von allen Seiten nass wurden. Es gibt Bilder von Maxi aus diesem Urlaub, die sie allesamt im Matsch zeigen. Auf dem Weg im Matsch. Im Wald im Matsch. Auf der Uferpromenade in einer Pfütze, umgeben von Matsch. Knapp vier war sie damals und Enno so alt wie Maxi heute. Erwachsene verlieren irgendwann den Sinn für Matsch.
Von Ella wussten wir damals schon. Eine alte Tante, eigenbrötlerisch, in einem Dorf am Ende der Welt, egal, kennt man nicht, kaum gehört von der, sind wir überhaupt, ja, irgendwie doch verwandt. Meine Tante, Urgroßtante, Großgroßtante, so was. Meine Erinnerung reicht zurück zu einem Sommer, ich vielleicht so alt wie Enno jetzt, für ein paar Tage bei Ella, weiß nicht mehr viel von Deich, Feldern, Schnecken und Schild an der Wand. Vielleicht mischen sich Bilder aus Fotoalben mit Bildern aus der Erinnerung und werden zu etwas Erlebtem, das es so eigentlich nicht gab. Aber diesen Straßenabzweig gab es, an der Landstraße, rechts, schlängelt sich eine Straße zu diesem Dorf hin, zweigt nicht mehr ab, geht am Deich entlang und endet schließlich genau dort, am Deich. Ich frage Enno und Maxi, die auf dem Rücksitz vertieft sind in ein Wettspiel, welcher Tropfen wohl schneller die Scheibe hinunterkommt, der dicke hier, oder der da, von der Tante, die hinten am Deich wohnt und die sie eigentlich kennenlernen müssten. Was man so sagt, wenn man im Regen an einer Abzweigung steht.
Wir biegen nicht ab und haben es am Abend wieder vergessen, weil wir ein Ziel haben, trocken und nicht grau, sondern lebendig und bunt, wir suchen ein Kino, das es in der nächsten Stadt gibt. Wir finden es und sehen zwei Filme nacheinander. Am Ende zieht der Regen dieselben Furchen über die Scheiben, wir spielen dasselbe Spiel, singen am Ende etwas von einer Mühle am rauschenden Bach und haben eine sehr konkrete Vorstellung davon, was Rauschen bedeutet.
Jeden Tag sinken die Wolken tiefer zur Erde, so schwer sind sie, so satt, so wasservoll. Immer weniger scheinen sie loszukommen vom Erdboden, der ihnen nichts mehr abnehmen kann, sie aber anzieht, lockt mit neuer Nahrung, die Wolken füttert mit immer neuem Nass. Sie werden praller, saftiger, satter.
Wenn es donnert, sagt Enno eines Morgens über den Frühstückstisch hinweg, dann kegelt da oben einer. Der Eine kegelt heute lang anhaltend und erfolgreich, hat geübt in den Tagen davor, heute reiht sich das Grollen der rollenden Kugel an das scheppernde Geräusch fallender Kegel. Und der Regen spendet den notwendigen Applaus. Den ganzen Tag, die folgende Nacht. Am Morgen darauf sagen sie im Radio, dass es langsam eng wird für die Deiche. Sie halten sich wacker, aber die Wolken lägen schon auf ihnen und gössen, was sie hätten, direkt in sie hinein. Die Elbe schiebt ihre Masse, in Sachsen unten noch, langsam und mächtig an die weichen Deiche heran, unaufhaltsam über die Flutungsräume hinweg, schneller, als jemals ein Geschichtsschreiber notiert hat. Und höher auch, der Pegel klettert und kratzt an den Scheitelpunkten der Jahrhunderte.
Auf seinem Weg sammelt der Fluss allen Schlamm und Dreck, Unrat und Abfall, Reste seines Anschwellens, und schiebt sie in Richtung Norden, dorthin, wo später der See liegen wird und irgendwann das Meer ist.
Inzwischen hören wir beharrlich die Meldungen im Radio. Nicht weil wir in Gefahr wären, nicht unmittelbar. Uns kann das Wasser hier nicht mitnehmen ins Meer. Wir verfolgen den Wasserstand, vergleichen mit den Karten im Mobiltelefon, die wir erst stündlich, dann beinahe minütlich aktualisieren. Und so verfolgen wir die Wasserwand die Elbe hinauf und sehen, wie sie dem Dorf nahekommt, in dem Ella lebt und an dessen einmündender Kreuzung wir vor nicht zu langer Zeit gestanden haben. Das Wasser kriecht heran, langsam und unaufhaltsam. Die Deiche zügeln es. Doch jeden Zentimeter, den das Wasser, das die Flutungswiesen schon lange geflutet hat, den Deich hinaufkriecht, schiebt es auch ins Erdreich des Walls hinein. Im Radio ändert sich die Ansprache, die Betonung. Sie sagen, dass es für manche Dörfer bedrohlich sein könne, dass manche womöglich aufgegeben werden müssen. Das Netz füllt sich mit Karten von roten Bereichen, aus Grün wird erst Gelb, schnell Orange, dann Rot. Bei Gelb füllen sie hektisch Sandsäcke, bei Orange beginnen sie, Sandsäcke anzufliegen mit Armeehubschraubern, und sie sagen, dass es Freiwillige brauchen wird, will man die Deiche retten können.
Und dann sind wir schon mal da, irgendwie. Und dann kennen wir da schon mal wen, irgendwie. Also springen wir ins Auto und nehmen den leichtsinnigen Weg zu Ella in den kleinen Ort, um den an sich nie ein Hahn gekräht hat, aber so ist der Mensch.
Ella braucht einen Moment, um diese seltsamen vier Personen, an die sie weder einen Gedanken noch eine Erinnerung verschwendet hat, einzuordnen. Sie reagiert überraschend pragmatisch. Der Dachboden wird am Ende wohl trocken bleiben, sagt sie. Dort sollen wir unsere Nachtlager beziehen. Unter dem warmen Stroh, das seit jeher das Dach versiegelt, zwischen Holzbalken und Streben, könnte es so idyllisch sein, würde nicht das Wasser keine zehn Meter von hier, über den planen Fahrradweg hinweg, am Deich nagen.
Jede Nacht nehmen wir Taschenlampen und gehen in Schichten den Deich ab. Mit mannshohen Stöcken, mit angespitzten Enden stochern wir im Erdreich, prüfen, wie weich es ist und ob es halten wird. Jemand in einer Leitzentrale hat Planquadrate eingeteilt, es gibt ein sehr deutsches Schichtsystem. Wir halten uns daran und den Deich im Auge. Wir finden keine zu weiche Erde. Der Deich hält in der ersten Nacht, in der zweiten, in der dritten. Enno wird schulfrei bekommen müssen, wenn das so weitergeht. Er käme ja nicht weg hier. Inzwischen drückt das Grundwasser an den Straßen entlang und verwandelt sie in Bachläufe. Wir machen Witze über zu verschickende Flaschenpost und wer welche Nachricht bekommen würde. Der wenige Schlaf ist schuld.
Nach sieben Tagen endlich klart der Himmel auf, der Regen versiegt, die Temperaturen steigen, und die Vögel singen wieder. Am zehnten Tag sinkt das Wasser. Der Scheitel hat uns überholt und ist zum Meer vorangegangen. Ihm folgen Wasser um Wasser um Wasser. Nach vierzehn Tagen beziehen wir Betten zu ebener Erde, dieselben Betten, die wir heute früh verlassen haben. Unten sehen wir, wie sehr das Wasser bemüht war, es mit den Lehmwänden aufzunehmen. Sie sind klamm von innen, aber es wird wieder, sagt ein herbeigerufener Statiker. Dem Haus ist nichts geschehen. Wir hatten Glück. Es ist erdkalt im Augenblick, das ist alles.

VII

Ohne dieses jährliche Elbwasser, das mal mehr, mal weniger dramatisch gegen die Ufer angeht, gäbe es den See in seiner Form wohl nicht. Es treibt, hält einen Kreislauf in Gang wie ein Mühlwerk, speist das Grundwasser, speist die Felder und somit auch den See. Von drüben, von der flachen Seite des Sees, wo die Bagger hinein- und hinausgefahren sind, dringt Kinderlachen zu uns. Dort ist immer etwas mehr los. Der Strand ist größer, die Felder sind flacher, und ein Weg, sogar gepflastert, führt gefährlich nah am See vorbei. Dort kann man ihn schon finden, wenn man darauf aus ist. Diese Seite des Sees sehen wir nicht. Das Wasser beschreibt einen Bogen, von oben muss es einer Niere gleichen, einer riesigen, graugrünen Bohne inmitten wogender Halme, an deren äußerster Ostseite ein Apfelbaum steht. Ich überlege, ob der See auf Internetkarten verraten wird.
Wir treten auf unseren Flecken Strand, den uns Ella nach dem Hochwasser gezeigt hat. Als wir mit den Rädern ankamen, damals, mussten wir sie draußen lassen, unter hohen Büschen versteckt. Oder im hohen Korn. Sie haben keinen Platz auf dem Flecken feinen Sandes. Ein großes Handtuch passt hier hin, mehr nicht. Zu allen Seiten ist der kleine Raum eingefasst von Schilf, hier bricht sich das Licht der aufsteigenden Sonne in den breiten Halmen. Das Schilf gleicht einer Wand, die sich eng um den See zieht. Keine breite Wand, aber eine Wand. Über den Tag wird die Sonne diese Wand erklimmen, wird von links nach rechts über den See wandern und am Abend die Schilfwand auf der anderen Seite in ihr rötliches, warmes Licht tauchen. Das wird der Moment sein, an dem wir nackt ins Licht blicken. So glühend glücklich wird es uns machen.
Die Hitze treibt den Schweiß in kleinen Bächen immer schneller über die Stirn. Der Himmel ist ein einziges grelles Weiß. Ennos Ball im Auge zu behalten, schmerzt, so hell ist es. Eine Sonne unter der Sonne. Wir bemühen uns, aus der Kleidung zu kommen, so flink es eben geht, erteilen einander den Befehl, die Sonne und Ennos Ball auch ja nicht zu unterschätzen. Sonnenmilch wird herumgereicht. Alex führt einen kleinen Sonnenschirm mit, einen, den man sonst auf Balkonen spannt. Hier ist er genau richtig.
Ein zweites, nun wohl längeres, ruhigeres Frühstück verschieben wir auf später. Das Wasser zieht. Keinen Meter vom Strand entfernt können die Kinder schon nicht mehr stehen. Zwei Schritte weiter, und auch die Erwachsenen werden Mühe haben, mit den Zehenspitzen den weichen Boden zu finden. Auf der Wasseroberfläche fliehen Insekten, von darunter steigen Blasen auf. Fische gibt es hier reichlich, wir könnten das Abendessen auch fangen gehen. In der Folie schmilzt die Butter. Auf dem Brot wellt sich der Käse und wird rau. Erdbeeren und Birnen reifen in ihren Schalen, saften und duften hinein in den noch frühen Morgen.
Nun endlich liegen Hemden und Hosen am Boden, fliegen Menschen, Gliedmaßen, Haare zum Wasser, zum kühlen, verheißungsvollen, grauen Wasser. Maxi taucht als Erste hinein. Es ist wie immer.

 

Klaus Esterluß, *1978 in Königs Wusterhausen, Studium der Germanistik, Geschichte und Medienwissenschaften in Potsdam. Freie Mitarbeit bei Zeitschriften und Radiosendern, aktuell vor allem im Bereich Umwelt- und Klimajournalismus bei der Deutschen Welle in Berlin. Schreibt nach längerer Pause seit 2015 wieder Prosa und Gedichte.