Derk Frerichs
An einem sonnigen Septembertag begegnete Herr Most sich selbst. Die Sache begann, als er vormittags ein Straßencafé aufsuchte. Herr Most war ein Mann in den besten Jahren, der sein Geschäft verstand und dem die Menschen vertrauten. Dies trug zu ihrem wie seinem Glück bei. Zu Hause warteten Frau und Kind, wenn sie nicht gerade ihren eigenen Geschäften nachgingen. Zuweilen zerrten sie ein wenig von innen an ihm, aber auch das war ein kleines Glück.
Herr Most war also weder einsam noch beschäftigungslos. Aber er vermutete, dass die, die an diesem Tag an ihm vorbeiflanierten, genau das über ihn dachten. Es war ihm zutiefst unangenehm, andere dabei zu beobachten, wie sie falsche Gedanken über ihn dachten. Am liebsten wäre er kurz aufgestanden, um zu sagen, wie es in Wahrheit gegen allen Anschein um ihn bestellt war. Er, Herr Most, war weder einsam noch ein Hallodri! Er nahm jedoch von der Idee, öffentlich Stellung zu sich zu nehmen, wieder Abstand, da er befürchtete, dass die Menschen sich dadurch bedrängt fühlen würden. Vielleicht hätte er das Café einfach verlassen sollen. Tatsächlich mochte Herr Most es nicht einmal, so im Café herumzusitzen, schon gar nicht allein. Einfach, weil er sich dort nutzlos und überflüssig fühlte, und wer fühlt sich schon gern nutzlos und überflüssig? Vielleicht sind Gesellschaften vorstellbar, die dem Gefühl der Sinnlosigkeit und Überflüssigkeit der eigenen Existenz große Bedeutung zusprechen. Aber nicht hier, nicht bei uns, nicht, soweit es Herrn Most anging, der mitten im Leben stand und Dinge zu erledigen hatte.
Am Morgen allerdings, als er die Gartenpforte hinter sich schloss, hatte er mit einem Mal gedacht: "Ich brauche eine Auszeit!" Er hatte sogleich im Büro angerufen, um sich den Vormittag freizunehmen. Es war, als habe etwas Fremdes von ihm Besitz ergriffen, steuere ihn von außen und betätige seine Sprachwerkzeuge. Und dann hatte er sich wie aus tiefem Schlaf erwacht in einem Café wiedergefunden, und nun war es schon Nachmittag. Aber Herr Most fühlte sich immer noch, als ob er ein anderer wäre.
Die frühherbstliche Sonne glänzte, der Himmel war blau und ein bisschen wattebebäuscht. Die Sonne jedoch schien nur zum Schein zu strahlen, und Herr Most zitterte, obwohl er im blanken Licht saß und nicht im Schatten der Robinien. Es war eben Herbst.
Herr Most saß auf einem Metallstuhl, der sich wegen des abschüssigen Pflasters nach vorne rechts neigte. Er saß auf einem schief stehenden Stuhl, das hatte nichts zu bedeuten. Aber er rutschte, und das, ohne wirklich zu rutschen. Es war nur eine Ahnung zu rutschen, eine Rutschdrohung, die belastender war, als wäre er tatsächlich vom Stuhl auf den Boden geplumpst. Dann hätte er aufstehen, die Hose abklopfen und sich woanders hinsetzen können. So aber war Herr Most jenseits einer unsichtbaren Schwelle gebannt. Kurz davor, abzurutschen, kurz davor, den Platz zu wechseln, saß er auf einem Sitzkissen, das auch nicht half. Es war bunt beblümt, dünn, zerschlissen und rutschte mit. Vor dem rechten vorderen Stuhlbein reckte sich ein Grasbüschel aus einer Pflasterspalte. Ein Wind ging durch die Straße, und das Gras bewegte sich wie an der See leise hin und her.
Und gerade als das Gras flüsterte und Herr Most in Schieflage fröstelnd und beklommen dasaß und die Passanten fixierte, ob einer denken mochte, er sei einsam, gerade da sah er sich selbst, sah, wie er an sich, der doch hier im Straßencafé saß, vorüberging. Und zwar so, wie Herr Most sonst an Straßencafés, in die er sich eigentlich nie allein setzte, vorüberzueilen pflegte. Er ging zielstrebig, leicht vornüber in eine ihn ansaugende Zukunft gebeugt. Die Schultern waren hochgezogen für den Fall, dass sich diese Zukunft als widrig erweisen sollte.
Herr Most stand auf, das Stühlchen kippte, das Kissen fiel herab. Er wollte seinem Doppelgänger nacheilen. Da fiel ihm die Rechnung ein. Er machte kehrt und zerquetschte das flüsternde Gras mit dem rechten Absatz. Nie mehr würden diese Halme im Winde wispern und sich regen.
Nach dem Bezahlen trat Herr Most wieder auf die Straße. Der andere stand auf der anderen Seite, kaum fünfzig Meter entfernt, vor dem Schaufenster eines Uhrengeschäfts und betrachtete die Zeitmesser, die auch er, Herr Most, sich so gern anzusehen pflegte.
Die Sonne schien noch immer, der Wind wehte nach wie vor, und schwarze Blätterschatten hüpften von den Bäumen herab über die Straße und wieder zurück. Die Häuser waren blassgelb.
Herr Most wusste nicht weiter. Er hatte keine Erfahrung im Ansprechen von Männern. Und wenn er diesen Mann, der doch er selber war, anredete, was konnte dabei rauskommen? Würde nicht er, Herr Most, im Vorhinein wissen, was der andere zu sagen hatte, und dieser, würde er nicht wissen, was in ihm, Herrn Most, vor sich ging? Und würden sie dann nicht beide sprach- und ratlos, verschämt und wie ertappt voreinander stehen, in ein wirres, stummes Zwiegespräch verstrickt, aus dem es keinen Ausweg gab? Bisher immerhin, erinnerte sich Herr Most, war ihm nie danach gewesen, mit sich zu reden. Er führte keine Selbstgespräche. Er redete, wie es sich gehörte, freundlich lächelnd mit anderen und war ihnen ganz und gar zugewandt mit Mund, Herz und Ohr. Nicht zu Gott sprach Herr Most und auch nicht zu sich, sondern nur zu seinesgleichen, zu unseresgleichen, zu denen, die nicht ganz fremd oder ganz gleich waren, sondern nur ein wenig anders, damit man sich auch etwas zu sagen hatte.
Herr Most wollte Vernunft walten lassen. Erst musste er feststellen, ob dieser Mann wirklich er, Herr Most, war. Also würde er ihm folgen. Er würde sehen, wie sich die Sache entwickelte und was sich ergab, denn die Dinge änderten sich dauernd, nichts stand je still. Und vielleicht würde der Mann sich im Laufe der Zeit als jemand ganz anderes herausstellen. Möglicherweise war es nur eine Ähnlichkeit, und Herr Most hatte sich getäuscht. Er warf einen Blick auf die andere Straßenseite - nein, es war kein Zweifel möglich: Dort, vertieft in die goldglitzernde Schaufensterauslage, stand ein zweiter Herr Most, so unwahrscheinlich es auch war. Ganz und gar unmöglich war es, wenn Herr Most es bedachte, und er schüttelte heftig den Kopf.
Es hupte, und ein großer Umzugswagen fuhr auf Herrn Most zu. Im Wagen waren bestimmt ein Schaukelstuhl, ein Bücherregal, ein Fernseher und was sonst zur Gemütlichkeit gehörte. Wie schön. Vielleicht war das ohnehin die beste Lösung. Er würde einfach hinter dem Umzugswagen hergehen und keinen Blick zurückwerfen, sondern stattdessen sehen, wer sich anschickte, in seiner Nachbarschaft zu wohnen. Vielleicht tränke er mit dem Fahrer in rasch hergestellter Geselligkeit ein Bier oder zwei. Schon heute Abend erschiene ihm, was ihm am Nachmittag im Straßencafé zugestoßen war, als Irrtum und Sinnestäuschung, und er würde lächeln über seine Verstiegenheit.
Aber dazu, den Blick von seinem anderen Ich abzuwenden, war Herr Most gerade zu schwach oder zu neugierig. "Es ist eben ein Tag", sagte er und straffte die Schultern, "an dem ich mal etwas anderes tue als sonst. Ein besonderer Tag." Und er schaute nach seinem Doppelgänger. Der war hundert Meter weiter zu erblicken, wie er die alte Brücke, die in die Stadt führte, überquerte. Herr Most folgte ihm.
Über ihm schwebten Krähen, jedenfalls schwarze Vögel, die lautlos ihre Kreise zogen und Ausschau hielten. Wie gern wäre er einer von ihnen gewesen. Niemand verdächtigte einen Vogel oder beobachtete ihn beim Beobachten. Und der Tag war schön zum Fliegen. Sonne, leichte Winde, die einen hinauftrugen, immer höher, bis zum Schloss, das über der Stadt thronte.
Der andere ging immer weiter geradeaus. Herr Most ging hinterher.
"Finde dich selbst" - nun verstand er, was das meinte. Es gab einen Zwilling, einen anderen, ganz gleichen, für jeden. Und den galt es zu suchen. Bestimmt war das Finden damals, als ein Grieche das Wort prägte und es noch viel weniger Menschen auf Erden gab, leichter gewesen und öfter passiert als heutzutage. Und wenn man sich gefunden hatte, geschah sicher etwas Wunderbares. Ob der andere Herr Most auch eine Familie hatte? Ob man einmal die Frauen tauschen könnte? Ob die Frauen merken würden, dass sie getauscht worden waren? Finde dich selbst! Es ging nicht um den Blick nach innen, nicht um quälerische Selbstzergliederung, um wühlende Vogelschau in den eigenen Gedärmen, sondern womöglich um nichts anderes als - Frauentausch!
Herr Most stand in einer stets enger werdenden, bergauf führenden Gasse. Es war nun dunkler und feuchter um ihn herum. Vom Himmel sah er, wenn er den Kopf in den Nacken legte, nur einen schmalen Schlitz. Der war nun auch nicht mehr blau, sondern bloß noch grau.
Herr Most schnaufte und musste etwas ausruhen. Er lehnte sich an die moosbewachsene, klamme Mauer. Sie war alt, vermutete Herr Most, hundert Jahre oder zweihundert oder noch älter. Und das Moos, an das er sich lehnte, das er zerdrückte wie kaum zehn Minuten zuvor das einsam im Wind schaukelnde Gras, dieses Moos war genauso alt. Herr Most stellte sich vor, wie bereits nach wenigen Tagen die frisch errichtete Mauer von kleinen Moossporen beflogen worden war, die sich in die Fugen und an die rauen, unebenen Stellen des Steins geklammert und sogleich begonnen hatten, ihr Mooskolonieleben zu führen. Ein Leben für sich, unter ihresgleichen. Sicher waren dann und wann Menschen gekommen und hatten gekratzt und geschabt, gewaschen und geätzt, doch das hatte dem Moos wenig anhaben können. Denn auch wenn es ausgelöscht schien: Im Prinzip war es nach wie vor anwesend. Und auch er, dachte Herr Most, war jetzt wohl Teil des Mooses geworden. Bestimmt hatte es sich mittlerweile auch an ihm festgeklammert, war in ihn, weil er doch an der Mauer lehnte, eingedrungen. "So so", dachte Herr Most, "so so", und er lächelte, "da werde ich mich wohl bald Herr Moos nennen müssen." Er beschloss, da er sich nun erholt fühlte, weiterzugehen und widerstand auch der Versuchung, Schulter und Jackenärmel abzuklopfen. Das Moos sollte ruhig dableiben und sein Leben auf ihm führen, wie es eben wollte und konnte. Ob die Mooswesen alle gleich waren? Ob sie eine einzige Kolonie von Gleichen waren? So wie er und sein Doppelgänger gleich waren, nur in viel größerer Zahl? Herr Most stellte sich das langweilig vor und war froh, es nur mit einem seinesgleichen zu tun zu haben. Den er im Übrigen nicht aus den Augen verloren hatte.
(...) [weiter in Am Erker 66] |